Rote Orange

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Erman

Beitragvon Erman » 24.12.2017, 12:56

Es ist so dunkel, dass es durchaus möglich ist,
dass sich das Ende der Welt anbraut.
Ich glaube, es wird bald regnen.
Die Vögel im Park sind so still.
Nichts ist so, wie es den Anschein hat.
Wir auch nicht.

In unserer Straße wächst ein großer Baum,
wir alle könnten uns unter seinen Blättern verstecken,
dabei bräuchten wir unsere Kleider nicht.
Du sagtest: Ich fühle mich wie eine alte Küchenschabe.
In Gedanken bin ich ein Reisender auf einem Schiff voller Geister.

Jetzt kommt nicht mal ein Seufzer von draußen.
Wenn uns jemand ein Kind auf die Türschwelle gebracht hat,
dann schläft es.
Alles schlottert an der Kante unseres Daseins
mit einem charmanten Lächeln.

Du sagtest: Das ist deswegen, weil es Dinge gibt auf dieser Welt,
auf die wir nicht wirken können.

Und da hörte ich wie die Orange mit der Farbe des Blutes
vom Tisch rollte und mit einem dumpfen Geräusch
auf den Boden schlug.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 25.12.2017, 12:28

Versuch einer Interpretation des Titels und der ersten Strophe:


Rote Orange...

An diesen zwei Wörtern kann man sehen, wie wichtig deren Wahl ist. Für die Lyrik.
Rote Apfelsine, zum Beispiel, wäre vollkommen korrekt, aber nicht poetisch. Und wenn, wäre es das in einem anderen Gedicht.
Es ist interessant die Wahl der Farbe, der Farbe überhaupt.
Wie wäre es wenn die Orange eine andere Farbe hätte, oder gar keine? Orange...
Nein, es würde irgendwie in der Luft hängen.
Ein Adjektiv gehört dazu. Wie zum Apfel das verboten sein.
Orange ist, an sich, auch die Definition einer Farbe. Deswegen kann die Farbe dieser Orange nicht orange sein, auch wenn das in der Wirklichkeit durchaus üblich ist.
Erst das Wort rot macht diese Orange zu einem poetischen Objekt.
Es kommt dann einen sehr gelungenen Übergang zum Gedicht selbst: "Es ist so dunkel, dass es durchaus möglich ist..."

Erst der vierte Vers sagt uns, dass die Rede nicht von der Orange, von deren Farbe, sondern von der herrschenden Witterung ist.
Interessant der Kontrast zwischen den zwei ersten und dem dritten Vers:
Es ist so dunkel, dass es durchaus möglich ist,
dass sich das Ende der Welt anbraut.
Gefolgt von der prosaischen, undramatischen Feststellung:
Ich glaube, es wird bald regnen.
Hiermit wird der Leser auf den unspektakulären Schluss des Gedichts vorbereitet.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 25.12.2017, 18:22

Hallo Erman,

gefällt mir gut.
Für mich Ausdruck eines Menetekels, das vom Großen ins Innere einer (erstarrten) Beziehung wächst. Spannend ist die beobachtende Passivität. Und alles Aufgebraute entlädt sich in einer Orange, die zu Boden fällt. Groß!
Du kennst mich ja mittlerweile ein bisschen, ich mag die Elefanten nicht, diese Trompetengedichte. Das ist dein Text nicht, aber ich habe für mich trotzdem noch gedanklich gedämpft und die Gesten ins Alogische gesetzt, Paradoxes die Wirkung nicht umkehrt, obwohl es invers formuliert ist. (für mich)

Hier zB.:
Alles ist so, wie es den Anschein hat.
Wir auch.

Nichts schlottert an der Kante unseres Daseins

Und bitte die beiden "dass" am Anfang raus raus raus
Würde trotz der Ausführungen von Klimperer den Text Blutorange nennen.

Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 26.12.2017, 10:20

Zweite Strophe

Ein großer Baum wächst in der Straße...
Das erinnert an den Baum im Paradies, wo sich Adam und Eva, plötzlich ihrer Nacktheit bewusst, sich zu verstecken versuchen.
Dritter Vers: "Du sagtest: Ich fühle mich wie eine alte Küchenschabe."
Hier möchte ich folgende Bemerkung machen: Als ich das las, und auch jetzt, stellte mir, stelle mir unter "Du" eine Frau vor ... Ich glaube, das ist, aus psychologischer Sicht, nicht uninteressant, ich meine, warum ich automatisch dabei mir eine Frau vorstelle.
Wegen dem, was sie sagt? "Ich fühle mich wie eine alte Küchenschabe."
Ein Mann würde, vielleicht, sich eher wie ein Hund fühlen? Oder wie ein irgendein anderes Tier?
Es ist klar, das durch das Adjektiv "alt", ein Zustand der Hilflosigkeit ausgedrückt wird.
Ich glaube, erst nach "Die Verwandlung", von Kafka, pflegt man diese Arte der Metamorphose anzuspielen.
Anders betrachtet, in Anbetracht der drohenden Weltuntergangstimmung der ersten Verse des Gedichts, könnte man wiederum so eine Aussage als eher optimistisch ansehen, wenn es stimmt, dass solche Ungeziefer als einzige einen atomaren Holocaust überleben würden.
Dem letzten Vers der zweiten Strophe könnten wir alle zustimmen.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 27.12.2017, 10:05

Dritte Strophe

Plötzliche Stille. Man ist für sich in einer eigenen Welt.
Ich glaube, ohne den fünften Vers hätte die Strophe mehr Kraft, viel mehr Kraft.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 28.12.2017, 09:44

Vierte Strophe


In der zweiten Strophe sagt "Du": "Ich fühle mich wie eine alte Küchenschabe"
und hier, in der vierten Strophe: "Das ist deswegen, weil es Dinge gibt auf dieser Welt, auf die wir nicht wirken können."
Ist dieses Du, vielleicht, eine andere Stimme, eine tiefere Stimme des Dichters?
Ein Monolog, ein Selbstgespräch?
Alle Dichter sind ja, irgendwie, solipsistisch. Hier ist aber eher doch ein Gegenüber vorhanden, glaube ich.
Was mich zweifeln lässt ist der untypisch philosophische Ton der zweiten Aussage.

Dann, im dritten Vers, steht: "Und dann hörte ich..."
Hätte es nicht "Und dann hörten WIR" stehen sollen?

Wir werden nie erfahren, warum dieser runde Körper vom Tisch gefallen ist.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 05.01.2018, 19:49

Hallo Erman,

dies ist wieder ein Text von dir, der mich sowohl sprachlich, als auch bildlich anspricht. Das Dramatico wird eingefangen von geerdeten Sätzen. Das lässt zu, dass man es nicht als "Kunstwerk" ansieht, sondern als etwas, das aus dem Leben aufgegriffen ist, das erzählen kann. Sehr schön vor allem am Ende, wie der Blick der Orange folgt und man hinhört. Interessant auch, wie die unterschiedlichen Zeiten, die Rückblenden wirken.
Hier und da würde ich ev. noch etwas feilen, z.B. das Kind auf die Schwelle legen. Unbedingt würde ich jedoch den Titel ändern. Ich würde die Orange auf keinen Fall vorwegnehmen und ihr damit auch ihren Moment, die Beiläufigkeit und die Wirkung nehmen, die sich daraus entfaltet.
Eine Möglichkeit wäre für mich z.B. die erste Zeile zu teilen. Als Titel "Es ist zu dunkel" und als erste Zeile "durchaus möglich".
Und auch am Ende würde ich keine Orange mit der Farbe des Blutes nehmen, sondern eine ganz schlichte Orange. Auch das will für mich zu viel, ohne dass es dem Gedicht etwas hinzugeben würde. Es wirkt ein wenig albern auf mich.

Liebe Grüße
Ylvi
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Kurt
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Registriert: 30.09.2011

Beitragvon Kurt » 07.04.2018, 13:45

Für mich ist dieses Gebilde eine Beleidigung an meinen Sprachnerv, so schlecht zu ertragen
wie ein Musikstück mit schrägen Tönen. Lauter Sätze mit naivem Gehalt, mit Binsenweisheiten
aneinandergereiht. Ich könnte die primitiven Sprachfetzen ja noch ignorieren, vermittelten sie
denn am Ende ein Gesamtbild mit einem beeindruckenden Resultat, einer besonderen
Stimmung oder Tiefe.

LG Kurt :buhu:
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)


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