Das Abendlicht

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
michelfritz

Beitragvon michelfritz » 24.01.2018, 21:23

Das Abendlicht wirft halbe Wege
Prozessionen vor zum Fraß,
die lichterloh mit roten Köpfen
weihgeräuchert weiterziehn;

stimmungsvoll ist Bach leicht plätschernd,
Megaphone preisen Brot,
das hingebrockt nur lockt die Schiffchen,
die dem Wort entgegenfliehn;

das Abendlicht birgt halbe Schatten
in nassem Nächstenliebenschoß,
die lichterloh und gernegroß
Mauern sind, auf halben Wegen.
Zuletzt geändert von michelfritz am 30.01.2018, 16:18, insgesamt 1-mal geändert.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 25.01.2018, 18:21

► Text zeigen

Willkommen Michelfritz,

ich lese vom Untergang des Abendlandes durch die Flüchtlingskrise, also einen hoch politischen Text zu einem polarisierenden Thema. Das Kunstvolle ist, dass der Autor sich jederzeit zurückziehen und was wo wieso behaupten kann.
Die erste Strophe thematisiert das Wagnis der gefährlichen Routen und den Weiterzug nicht nur in Sicherheit sondern auch ins Wunschland.
Dann das vermeintliche Locken der Länder, in denen Milch und Honig fließt für alle, durch eine Willkommenskultur, die zum Aufbruch animiert.

nassem Nächstenliebenschoß

das ist für mich die heftigste Stelle, impliziert Unehrlichkeit der Helfenden, nebenbei noch auf Frauen beschränkt. Übel.
Und am Ende ist Schengen obsolet.

Ein Text mit üblem Nachgeschmack, mit möglichen Assoziationen, die mir nicht behagen, zB.
das Abendlicht birgt halbe Schatten

in der Dunkelheit lauert der Halbmond -> Islamisierung

Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Niko

Beitragvon Niko » 25.01.2018, 19:17

Hallo michelfritz,
herzlich willkommen in diesem forum!
Was mir gefällt an deinem Gedicht, ist das "reimlose reimen". Man spürt die Nähe zum klassischen Reimgedicht. Aber (immer dieses aber....) die metrik ist etwas holprig. Vielleicht ist dir daran gelegen, es fließender zu gestalten?
Hier völlig unverbindliche Änderungen....

Das Abendlicht wirft halbe Wege
Prozessionen vor zum Fraß,
die lichterloh mit roten Köpfen
weihgeräuchert weiterziehn;

Stimmungsvoll ist Bach leicht plätschernd,
(dachtest du an JSBach?)
Megaphone preisen Brot,
das hingebrockt nur lockt die Schiffchen,
die dem Wort entgegenfliehn;

das Abendlicht birgt halbe Schatten
in nassem Nächstenliebenschoß,
die lichterloh und gernegroß
Mauern sind, auf halben Wegen.

Es ist nun die erste Zeile der zweiten Strophe verändert. Generell wäre zu überlegen, wo du die Hebung und Senkung setzt.
In der letzten Strophe betont du jeweils die erste Silbe. Den Auftakt. Aber in der letzten Zeile weichst du davon ab. Hier kann man es noch als eine gewollte Betonung verstehen. In der zweiten Strophe wechselst du in der dritten Zeile auf die betonte erste Silbe. Hier finde ich es unpassend. In der ersten Strophe wechselst du mit der Betonung der ersten Silbe. Nur Zeile 2 und 4 sind erstsilbig betont. Das wäre es meiner Meinung nach wert, nach zu feilen.


Herzlichst - Niko

michelfritz

Beitragvon michelfritz » 30.01.2018, 16:13

Hallo Nifl,

zuerst danke ich für das Willkommen.
Zu Deinem Kommentar:
Hm. Du beginnst mit
ich lese vom Untergang des Abendlandes durch die Flüchtlingskrise, also einen hoch politischen Text zu einem polarisierenden Thema. Das Kunstvolle ist, dass der Autor sich jederzeit zurückziehen und was wo wieso behaupten kann.

- ja, kann sein, aber ich lese so einen negativen Unterton heraus.
Deine Deutung bleibt natürlich Dir überlassen! Und so wie Du die 1. Strophe liest, klingt es auch sehr plausibel.

Doch:
nassem Nächstenliebenschoß


das ist für mich die heftigste Stelle, impliziert Unehrlichkeit der Helfenden, nebenbei noch auf Frauen beschränkt. Übel.
Und am Ende ist Schengen obsolet.

- geht mir in Deiner Abneigung dann doch zu weit. Unterstellst Du mir hier neben Rassismus auch sexistische Absichten?
Und "Schengen"? Was haben Schengen und Flüchtlingskrise miteinander zu schaffen?

Gut. Ich kann/will nichts erklären, ich schreibe sehr assoziativ, aber den "Halbmond" liest Du leider eben so, wie Du ihn lesen willst.
In Wirklichkeit hat er eine 14tägige Wiederkehr, der Halbmond.
Und gemeint ist das Ganze als Europakritik. Oder Kritik an Mauern. Oder Unmenschlichkeit.

Danke für Deine sehr interessante Entgegnung!

michelfritz


Hallo Niko,

auch Dir Dankeschön für Deine Begrüßung.
Ich darf?
Das Abendlicht wirft halbe Wege
Prozessionen vor zum Fraß,
die lichterloh mit roten Köpfen
weihgeräuchert weiterziehn;

Stimmungsvoll ist Bach leicht plätschernd,
Megaphone preisen Brot,
das hingebrockt nur lockt die Schiffchen,
die dem Wort entgegenfliehn;

das Abendlicht birgt halbe Schatten
in nassem Nächstenliebenschoß,
die lichterloh und gernegroß
Mauern sind, auf halben Wegen.

- zuerst: Nein, ich dachte nicht an JSBach. Ich dachte an den Bach.
Tja, Deine Anmerkungen zu meiner Metrik sind wahrscheinlich völlig korrekt. Oder anders, ich glaube Dir!
Aber ob ich sie begreifen werde, irgendwann, das muss ich wohl in Frage stellen. ;)

Ich hoffe, Du bist nicht zu böse, wenn ich das 'Gedicht' so lasse, wie es ist?!
Ich werde bei JEDEM neuen an Dich und die Metrik bzw. das Heben und Senken denken.

(Deine Veränderung würde ich dennoch gerne übernehmen, wenn ich darf?!)

Danke für Deine Aufmerksamkeit und für den Kommentar,
michelfritz

Nifl
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Beitragvon Nifl » 30.01.2018, 17:47

Hallo Michelfritz,

- geht mir in Deiner Abneigung dann doch zu weit. Unterstellst Du mir hier neben Rassismus auch sexistische Absichten?

Dir unterstelle ich gar nichts, allerhöchstens dem Text. Und für mich klingelt da eben diese Konnotation.


Und "Schengen"? Was haben Schengen und Flüchtlingskrise miteinander zu schaffen?

Die Aussetzung des Schengenabkommens meinte ich natürlich.

Grüße

PS. wäre schön, wenn du nicht nur Texte einstellst, sondern auch andere kommentierst.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Niko

Beitragvon Niko » 30.01.2018, 18:43

Hallo michelfritz,
Du schreibst:

"Ich hoffe, Du bist nicht zu böse, wenn ich das 'Gedicht' so lasse, wie es ist?!
Ich werde bei JEDEM neuen an Dich und die Metrik bzw. das Heben und Senken denken.

(Deine Veränderung würde ich dennoch gerne übernehmen, wenn ich darf?!)"




Natürlich darfst du sie übernehmen, die Änderungen.

Und.... Diese ganzen Anmerkungen dienen ja bestenfalls dazu, dass wir beherzigen, achtsamer schreiben, die " Fehler" im Hinterkopf behalten bei neuen Texten.

Wichtig ist letztendlich, dass du in der Lage sein kannst, etwas daraus für dich zu gewinnen.

Herzlichst - Niko

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Beitragvon Pjotr » 31.01.2018, 00:14

Nifl hat geschrieben:Das Kunstvolle ist, dass der Autor sich jederzeit zurückziehen und was wo wieso behaupten kann.


Nifl hat geschrieben:Dir unterstelle ich gar nichts, allerhöchstens dem Text.


Wenn gemäß dem zweiten Zitat dem Autor gar nichts unterstellt wird, sondern allerhöchtens dem Text, müsste dann das erste Zitat nicht so lauten?

"Das Kunstvolle ist, dass der Text sich jederzeit zurückziehen und was wo wieso behaupten kann."

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Beitragvon Nifl » 31.01.2018, 05:41

Nö, so:


Das Kunstvolle ist, dass der Autor sich jederzeit zurückziehen und 'was wo wieso' steht das im Text behaupten kann.


Du kannst auch gerne einen Thread im Cafe eröffnen zum Thema, "Kann man Text und Autor gänzlich trennen?". Das Thema beschäftigt ja seit Generationen, Stichwort: Werther Effekt
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Beitragvon Werner » 31.01.2018, 21:22

ich las erst "Abblendlicht", und würde dahingehend das Poem radikal umschreiben!

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Beitragvon Werner » 31.01.2018, 21:23

das würde auch mehr sinn für mich machen ...

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Beitragvon Pjotr » 01.02.2018, 00:01

Nifl hat geschrieben:Nö, so:


Das Kunstvolle ist, dass der Autor sich jederzeit zurückziehen und 'was wo wieso' steht das im Text behaupten kann.


Du kannst auch gerne einen Thread im Cafe eröffnen zum Thema, "Kann man Text und Autor gänzlich trennen?". Das Thema beschäftigt ja seit Generationen, Stichwort: Werther Effekt


Diesen altbekannten Ansichtsspielraum meine ich nicht. Ich meine das Verlassen dieses Ansichtsspielraums. Vielleicht irren wir uns beide, Nifl. Meinem Eindruck nach impliziert der von Dir geschriebene Begriff "kunstvoll" eine Künstlerexistenz. Kunst schaffen kann nur ein Künstler oder Kunstinterpret; Schaffen ist eine Tätigkeit. Tätig sind allein der Erschaffer und der Interpret; Buchstaben hingegen tun nichts außer dastehen.

Das Erschaffene regt den Leser zum Interpretieren an. Das Erschaffene, also der Text, erschafft sich nicht selbst, schon gar nicht interpretiert der Text sich selbst; der Text hat kein Hirn. Deshalb, Nifl, schreibst Du richtigerweise an der obigen Stelle, dass nicht der Text, sondern der Autor sich zurückziehen könne, eben weil Du weißt, dass das Kunstvolle nicht durch das Kunstwerk selbst entsteht, sondern nur im Hirn des Künstlers oder des Interpreten entstehen kann.

Mit anderen Worten: "Das Kunstvolle in Michelfritzens Tätigkeit ist, dass Michelfritz sich jederzeit zurückziehen und 'was wo wieso steht das im Text' behaupten kann." -- An dieser Stelle zielt die Kritik nicht auf das bereits Erschaffene hinsichtlich dessen Wirkung auf den Leser, sondern auf das Erschaffen als Tätigkeit mit speziellen Absichten. Hierdurch verlässt die Kritik den Ansichtsspielraum der Text-Autor-Trennbarkeit und redet vom Erschaffen, nicht vom Erschaffenen.

Aufgrund der Meinungsfreiheit ist diese Kritik natürlich trotzdem berechtigt.

Ich meine lediglich die Inkonsistenz. Zu sagen, man kritisiere hier nur den Text und nicht den Autor, erscheint mir in diesem Fall inkonsistent.

Ich denke, konsistent wäre Deine Text-Autor-Trennung, Nifl, wenn der Autor Michelfritz seinen Text als Erzählung eines anderen Sprechers, etwa des Seppelpauls, darstellen würde, während Michelfritz also auf einer neutralen Meta-Ebene stünde, und Du, Nifl, schriebest, "Das Kunstvolle in Seppelpauls Tätigkeit ist, dass Seppelpaul sich jederzeit zurückziehen und 'was wo wieso steht das in meinem Text' behaupten kann."

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 01.02.2018, 10:40

Hallo Michelfritz,

Und gemeint ist das Ganze als Europakritik. Oder Kritik an Mauern. Oder Unmenschlichkeit.
Auch hier geht es mir wieder so, dass ich diesen Text für mich nicht festmachen kann. Das ist wohl das, was Nifl dann mit "kunstvoll" bezeichnet. Es bleibt schwammig. Kann ich ihn in deinem Sinn lesen? Vielleicht, aber eben auch völlig anders und ich sehe nicht, dass das hier für den Text genutzt wird, als Mittel eingesetzt wird, um etwas in Gang zu setzen, oder Denkmuster aufzubrechen. Für mich wäre als Autor bei dieser Thematik wichtig, dass der Text klar in seiner Aussage bleibt und nicht beliebig "verstanden" werden kann.

Die zweite Strophe ist für mein Lesen am nähesten an deiner Intention und auch bildlich schön umgesetzt. (Wenn der Fluss gemeint ist, würde ich "Stimmungsvoll der Bach leicht plätschert ..." schreiben.)

Bei der letzten Strophe verliert der Text mich ganz, von der Interpretation, aber auch bildlich. Lichterlohe halbe Schatten, die Mauern sind im Schoß?

Liebe Grüße
Ylvi
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)


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