Ich mache mir nichts

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 10.04.2018, 22:58

vor

ich habe dich verloren

ich habe ein Bein,
einen Arm
weniger

viel mehr weniger

ich habe nur noch
ein halbes Herz

Kurt
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Beitragvon Kurt » 11.04.2018, 03:00

LyrIch sagt, er mache sich nichts vor. Aber genau das tut er. Ständig machen wir uns etwas vor. Als ich heute morgen die Fenster öffnete zum Lüften, spürte ich meine Augen feucht werden vor Rührung, weil die Vögelchen mit schwellenden Brüstchen sich derart ins Zeug legten bei ihrem Konzert. Würde ich das alles nur rationell betrachten, die kleinen Geschöpfe, mich selber, lediglich als Zellansammlungen sehen, die um ihr Überleben kämpfen, wäre das Dasein unerträglich.

LyrIch sollte sich tatsächlich einen Arm und ein Bein amputieren lassen, dann weiß er , was ich meine.

LG Kurt
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.04.2018, 05:46

Sich etwas vorzumachen heißt doch, sich vor der Wahrheit zu drücken. Wenn Du wahrlich gerührt bist beim Vogelgesang, dann ist das Gefühl doch echt, und wenn Du dann den Satz schreibst, die Vögelchen rührten Dich, dann ist der Satz wahr. Da machst Du Dir doch nichts vor. Wenn Du in Wahrheit aber nicht gerührt bist, dann ist der Satz falsch; wenn Du dann trotzdem an dem Satz festhälst, dann machst Du Dir etwas vor.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 11.04.2018, 07:18

Du schreibst vor “der Wahrheit” zu drücken wäre sich etwas vormachen. Es ist irreführend, hier den Begriff der allgemeinen Wahrheit zu verwenden, wenn die Rührung auch echt ist. Wenn mein Kumpel ein Vogelkonzert vernimmt, ist der gar nicht gerührt, hat eher Mitleid mit den Vögeln, die gegenseitig gegen Konkurrenten anpfeifen müssen. Es geht hier ja auch um die individuelle Einschätzung. Und das Gefühl vom LyrIch, ihm fehle ein Arm oder Bein, mag ja so sein, aber die Wahrheit ist, dass LYRIch Arme und Beine hat. Und dafür sollte er dankbar sein.

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Hetti
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Beitragvon Hetti » 11.04.2018, 10:20

Wenn jemand einen lieben Menschen verloren hat, ist dieser Verlust für andere nicht ohne weiteres sichtbar. Den Verlust eines Armes oder Beines kann jedermann auf Anhieb wahrnehmen. Carlos hat gerade den Verlust eines geliebten Menschen erfahren. Und darum kann ich seinen Vergleich gut nachvollziehen. Es ist der Versuch, den eigenen Schmerz anderen verständlich zu machen, den Verlust und die Nichtumkehrbarkeit des Verlustes. So verstehe ich den Text. LG

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.04.2018, 15:35

Kurt hat geschrieben:Es ist irreführend, hier den Begriff der allgemeinen Wahrheit zu verwenden, wenn die Rührung auch echt ist. Wenn mein Kumpel ein Vogelkonzert vernimmt, ist der gar nicht gerührt, hat eher Mitleid mit den Vögeln, die gegenseitig gegen Konkurrenten anpfeifen müssen. Es geht hier ja auch um die individuelle Einschätzung.

Mir schon. Ich meine hier diejenige Wahrheit, die sich auf das eigene Befinden bezieht. Wenn ich Trauer empfinde und sage, dass ich Trauer empfinde, dann sage ich die Wahrheit. Wenn ich diese Wahrheit nicht verschleiere, mache ich mir nichts vor. -- Wenn ich Trauer empfinde und sage, dass ich keine Trauer empfinde, dann sage ich die Unwahrheit. Wenn ich an dieser Unwahrheit festhalte, dann verschleiere ich die Wahrheit, dann mache ich mir etwas vor.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 11.04.2018, 16:02

Ich muss mich doch sehr wundern, Hetti, dass du es nachvollziehen kannst. Für mich stellt sich ein psychotischer Zustand dar. Vielleicht ist das Ganze ja auch nur ein verunglückter Vergleich/Metapher. Es muss ja nicht mit Klimperer persönlich zu tun haben. is ja ein Gedicht.

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Beitragvon Pjotr » 11.04.2018, 16:51

Also, ich kann das auch leicht nachvollziehen. Vor kurzer Zeit verlor das Ich seine geliebte Partnerin, das Paar wurde "halbiert", und einige Tage lang machte das Ich sich vor, das Paar sei noch vollständig. Nun macht das Ich sich dies nicht mehr vor.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 11.04.2018, 17:30

Ja gut, das verstehe ich. Man sagt ja auch "meine bessere Hälfte". Nur das Bild vom appen Bein und Arm finde ich trotzdem
nicht eingänglich.

LG Kurt
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Beitragvon birke » 11.04.2018, 23:49

ich finde den text bewegend. und ehrlich.
schnörkellos.
(und der gedanke: auch ein halbes herz ... ist noch herz.)
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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Kurt
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Beitragvon Kurt » 12.04.2018, 12:07

Pjotr, eigentlich habe ich nie einen Bock dazu, zusätzlich zu erörtern. Abba naja, gut. Also mein Beispiel mit den singenden Vögeln und warum ich mir da etwas vormache:
Ich schaue und höre die Vögelchen und wie sie sich ins Zeug legen. Das rührt mich, obwohl mein Hintergrunddenken darüber ist, dass die Vögelchen aufgrund ihrer Hormonausschüttung so reagieren. Meine Rührung beruht also bereits darauf, dass ich mir (unbewusst) vormache, als täten die Vögel es aus freien Stücken. Die Rührung ist aber echt.
Und mein Kumpel hat Mitleid, das ist auch echt. Aber er weiß eigentlich, dass er kein Mitleid zu haben braucht, denn wenn es für die Vögel nur stressig wäre, ohne Lust, würden sie es meiden. Nunja, die Psyche funktioniert manchmal sehr ambivalent, nicht immer rationell.

Und im Falle von Klimperers LyrIch ist es ja wohl auch so, er fühlt sich nur noch halb (das Gefühl ist echt), obwohl er (die Wahrheit) weiß, dass Arme und Beine noch dran sind. (Soll hier wohl auch nur Methapher sein.)

Mit den menschlichen Gefühlen und sich Illusionen machen ist es so eine Sache, und da verläuft nicht immer alles logisch nach deinem Algorithmus. Also, wenn gerührt echt, dann …

Vielleicht kannst du meine Erklärung akzeptieren, Wenn nicht, und du nimmst weiter Stellung hier, sei nicht böse, wenn ich nicht weiterhin antworten werde. Ich würde nur noch hart am Text betreffendes kommentieren.

Zum Gedicht: Hätte mir lieber andere Metapher gewünscht als Körperlichkeit, Arme, Bein, lieber "innere" Zerissenheit oder so.

LG Kurt
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Beitragvon birke » 12.04.2018, 13:33

Kurt hat geschrieben:Zum Gedicht: Hätte mir lieber andere Metapher gewünscht als Körperlichkeit, Arme, Bein, lieber "innere" Zerissenheit oder so.



naja, für mich ist die metapher stimmig hier, lyrich fühlt sich halt gewissermaßen amputiert. das du fehlt - in jeder situation. und die innere zerrissenheit kommt ja zum schluss quasi als steigerung, dass das herz nur noch halb vorhanden ist.
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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Beitragvon Pjotr » 12.04.2018, 14:42

Kurt, ja, jetzt verstehe ich, was Du meinst. Mir fehlte die Information, dass Dich des Vögelchens Hormonunabhängigkeit rührt, während es in Wahrheit hormonabhängig ist. Ja, da machst Du Dir etwas vor. Ich dachte, Dich rührt des Vögelchens Treiben allgemein.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 13.04.2018, 01:44

Pjotr hat geschrieben: Ich dachte, Dich rührt des Vögelchens Treiben allgemein.


Ja, das war dumm von dir.

Kurt :((:
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