Sanft legt sich der Schnee

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 20.10.2018, 14:24

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Sanft legt sich der Schnee,
das Blumental zu schonen,
an den Sonnenhang.

Bald warm, bald kalt wird ihm schwer,
bis er allen Halt verliert.


.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 20.10.2018, 14:56

Schöne Betrachtungsweise, meine ich. Nur in der vorletzten Zeile ist mir die Zeitachse nicht ganz klar: Der Schnee ist ja gerade im Kommen, die Temperatur sinkt also ("bald kalt"), aber davor steht "bald warm". Diese Wärme lese ich spontan als ein Verschwinden des Schnees, aber wahrscheinlich ist diese Wärme anders gemeint, nämlich als Nachfolge von "heiß". Somit wäre der Temperaturabfall wieder koninuierlich (heiß, warm, kalt -- anstatt schneeliegendkalt, warm, kalt).

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Beitragvon ZaunköniG » 20.10.2018, 15:07

Der Schnee kommt, aber der Hang liegt in der Sonne. Dem Hang mag durch den Schnee kalt werden, aber der Schnee taut in der Sonne an... Letztlich ist es das Wechselspiel aus Antauen und Gefrieren, das die Lawinengefahr erzeugt.

Man muss es natürlich nicht als Naturlyrik lesen.
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Beitragvon Pjotr » 20.10.2018, 15:13

Jetzt verstehe ich die Absicht. Ich meine, um ein wiederholendes Wechselspiel herauslesen zu können, muss sprachlogisch mehr als ein einziger Wechsel erwähnt werden, also mindestens zwei Wechsel im Muster a-b-a oder b-a-b. Nur a-b oder nur b-a extrapoliert mein lesender Geist als ein unwiederholtes Kontinuum.

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Beitragvon ZaunköniG » 20.10.2018, 15:44

Genaugenommen muss der Schnee nur einmal antauen und wieder gefrieren, aber es müsste noch ein weiteres Mal schneien. Ich wollte für ein Tanka aber nicht zu sehr ins Plaudern oder gar erklären verfallen. und Wiederholungen sind der Form eigentlich auch nicht angemessen.

Ursprünglich hatte ich "mal warm, mal kalt..." erwogen und einfach aus dem Bauch heraus verworfen, aber vielleicht assoziiert es eher eine Wiederholung, ohne sie auszuführen?
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Beitragvon Pjotr » 20.10.2018, 16:27

"Bald" finde ich schon auch besser als "mal".

Muss die Wärme überhaupt zwingend erwähnt werden? Den Halt verliert er wegen seiner großen Masse während es schneit, oder? Nicht während er taut? Oder beides? Ich vermute, Du hast nach "kalt" bewusst kein Komma gesetzt, weil die Schwere eine Folge der Kälte ist, und nicht eine Folge der Wärme? Chronologisch betrachtet müsste dann die Wärme am Textende stehen, oder?

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Beitragvon ZaunköniG » 20.10.2018, 17:07

Reiner Pulverschnee würde irgendwann einfach wieder verwehen oder in kleineren Portionen hinunterrieseln. Für eine große Lawine braucht es das Wechselspiel aus Tauen und Gefrieren, dass sich gefährliche Massen überhaupt ansammeln können und schließlich im Verbund abgehen.
Letztlich braucht es auch die Masse, aber an der Stelle hinkt der Vergleich, denn den Schnee wollte ich hier nicht kollektiv denken, sondern als EINE personifizierte Naturgewalt.
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Beitragvon Pjotr » 20.10.2018, 22:45

Schwere Aufgabe, diese Physik in Lyrik zu verwandeln ...

(Auch wenn es nur eine Metapher sein soll.)

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Beitragvon Ylvi » 21.10.2018, 09:10

Sehr schöne und (nach)klingende Betrachtung aus der Natur heraus! Ich sehe auch ein wenig das Problem mit der zweiten Strophe, bzw. der vorletzten Zeile. Für mich steckt die Wärme schon im Sonnenhang, daher bräuchte ich die explizite Benennung nicht. Das würde dir auch ein bisschen mehr Spielraum geben für den Neuschnee, oder das Frieren ... als spontane Anregung für dich dazu

er friert des nachts wird ihm schwer
er friert das neue wird schwer
nachts so kalt er trägt die last
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Beitragvon ZaunköniG » 21.10.2018, 10:25

Jeder Vergleich hinkt. Jede Metapher hat irgendwo einen Punkt wo sie nicht passt. Es geht nicht darum die ganze Physik korrekt einzuarbeiten, sondern so zu schreiben, dass der Leser intuitiv die gemeinten Aspekte erfasst. Wenn ihr nun schon zu zweit an der selben Stelle hängenbleibt, ist die wohl noch nicht optimal gelöst.

warm und kalt sind als eher grob beschreibende Adjektive ohnehin nicht das Nonplusultra. Mein neuer Vers greift zwar eure Vorschläge nicht auf, ändert auch nichts an der "Physik", aber vielleicht hinterlässt er dennoch eine andere Wirkung:



Sanft legt sich der Schnee,
das Blumental zu schonen,
an den Sonnenhang.

fröstelnd, tauend wird ihm schwer
bis er allen Halt verliert.


.
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Beitragvon Ylvi » 21.10.2018, 10:37

Ja, das finde ich gut gelöst! Das nimmt auf übertragener Ebene auch schön das Wechselbad der Gefühle auf. Auch der Klang passt so wunderbar. :daumen:
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Beitragvon Pjotr » 21.10.2018, 11:23

Perfekt.

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birke
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Beitragvon birke » 22.10.2018, 22:04

wunderbar, sowohl konkret als auch metaphorisch, es kommt ganz viel rüber.
und ja, die version mit "fröstelnd, tauend" ist noch geschmeidiger. schön!
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/


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