Ich habe ein Wunder zur Welt gebracht

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Klara
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Beitragvon Klara » 08.03.2019, 10:09

Ich habe ein Wunder zur Welt gebracht
Das Wunder sprach und konnte sofort stehen
auf seinen zwei Augen. Ich wurde hart
und setzte es auf die Straße
den Abschied lernen
Goodbye

Ein Auto fuhr in seine Wunde
und lachte es aus.
Da kam es zurück
Es humpelte nicht
sondern sprang

über die Linien des Zorns
verlor nie den Bezug
und nahm mich
für sich ein

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 08.03.2019, 12:04

Hallo Klara, das ist mir zu surreal, das verstehe ich nicht.

Gut, vielleicht muss man das auch nicht, atmosphärisch springt v. a. in der mittleren Strophe was auf mich über, wenn ich mich auf die Surrealität einlasse!
Dann aber stört mich der so abstrakte Begriff Bezug, der für mich das "auslachende Auto" irgendwie nur noch flach bis albern erscheinen lässt. Die drei letzten Zeilen sind aus meiner Sicht überflüssig.

Klara
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Beitragvon Klara » 08.03.2019, 12:52

Dank dir für dein Feedback!

Keine Ahnung, was du mit surreal meinst.
Für mich ist dies ein Text, der - seltenes Geschenk! - so haargenau ausdrückt, was auszudrücken war, dass er mich glücklich gemacht hat :-) So gesehen ist aus meinem Schreiben heraus kein Vers zu viel oder zu wenig entstanden.
(Wobei "ausdrücken", schon gar im reflexiven "sich ausdrücken" im Grunde eine zu brutales Wort ist, für das, was ich damit meinen will - weil es so nach Pickel klingt, und nach Gewalt und Gegenwehr...)

Herzlich
Klara

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.03.2019, 14:55

Surreale Bilder mag ich grundsätzlich. Aber mir fällt es schwer, Bilder zu entwickeln für:
"auf seinen Augen stehen" (Augen stehen wie Füße? Oder seine Füße treten auf seine Augen?)
"Wunde" (wunde Augen?)
"Bezug"

Wenn das nicht surreal gemeint ist, nehme ich an, seine Füße stehen auf seinen Augen, anstatt dass die Augen selber stehen.

Das lachende Auto finde ich auch surreal. Aber das liegt wahrscheinlich an der seltsamen Augenkreatur, das ausgelacht wird. Wenn das nicht wäre, könnte das Lachen des Autos vielleicht auch als "nichtsurreales" lyrisches Bild erscheinen.

Klara
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Beitragvon Klara » 08.03.2019, 15:20

Danke, Pjotr.

Ich habe keine Ahnung und Aufklärung, nur den Text :-)

Herzlich
klara

Kurt
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Beitragvon Kurt » 08.03.2019, 15:24

Geil, dieses Monsterdingens. Schätze mal, trotz der Austragzeit von über zwölf Monden noch Fötus, wenn auch bereits mit Stielaugen (Krabbenstadium), jedoch eigentlich bereits aus dem Krabbelbabbel raus, ein gefallenes Kind nach Presswehen im Stehen, stehender Abgang. Einseitig halb Placenta verwundet, von der Mutter verstoßen. Obgleich seelischer Grausamkeit ausgesetzt und auf die Straße verworfen, hängt es mit seiner gummigetwisteten Nabelschnur härtnäckig an der Niedergekommenen, Verruchten.
Mich wundert es nicht. Man kennt es ja von ihren Eltern schwer mißhandelten Kindern, die sich partout nicht trennen lassen wollen und vehement die Hilfe des Jugendamts ablehnen.

LG Kurt
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Klara
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Beitragvon Klara » 08.03.2019, 15:32

Danke für deine Assoziationen, Kurt!
Sie sind vielschichtig, gruselig und spannend.

Herzlich
klara

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.03.2019, 18:22

Habe weiter nachgedacht.

Bezug: Mutterbeziehung.

Wunde: Art der Wunde ist für uneingeweihte Leser frei wählbar. Ich wähle eine von der Mutter verursachte Wunde.

Auf den Augen stehen: Stehen ist klar. Auf den Augen jedoch nocht nicht.

Das Ich ist die Mutter. Und das Auto auch, indirekt. Das Wunder ist die Tochter, vom Muttervehikel verwundet und wieder verwundet.

Die Tochter humpelt nicht, sie springt mit Angriffslust, was auch heißt, dass eine magnetische Beziehung besteht.

(Wunder und Wunde könnte man noch wortspielerisch verbindend interpretieren. Muss aber nicht. Ist wohl Zufall.)


Zumindest eine Leseweise.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 08.03.2019, 18:44

Ja, dahin kann eine ungewollte Gedankenschwangerschaft führen.
Und dann sind sie in die Welt gesetzt und man wird sie nicht mehr los.
Da kann man verdrängen wie man will, ehe man sich versieht, sind sie wieder da, stärker und bestimmender als zuvor.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Kurt
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Beitragvon Kurt » 08.03.2019, 18:58

Mir hat besonders gefallen, X über die “Linien des Zorns” springen zu lassen, wie einen über
den eigenen Schatten etwa.

LG Kurt
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.03.2019, 19:04

Die Frage ist, ob der Zorn sich diesseits oder jenseits der Linie befindet, und ob meine Frage überhaupt relevant ist; vielleicht wurde ja mehrmals hin- und hergesprungen ...

Klara
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Beitragvon Klara » 09.03.2019, 08:28

Pjotr: Deine Fragen werfen Fragen auf. Zum Beispiel die: Wie kommst du aus diesem Text auf eine Mutter, die eine Wunde verursacht? Erliest sie sich dir tatsächlich aus den Zeilen oder aus dem, was ich woanders vielleicht geschrieben habe? Wahrscheinlich kannst du das gar nicht beantworten, oder? Ich läse (glaube ich) aus dem Text erstmal nur die eine "Mutter", das Ich, die das Wunder zur Welt bringt, aber nicht die verletzende Mutter.

Nifl: Was ist eine Gedankenschwangerschaft? Wären wir dann nicht ständig schwanger, gebärend, aufziehend etc. gleichzeitig? Mann wie Frau wie divers? Der Gedanke an die Gedankensschwangerschaft zeugt gerade ungesehen x neue Gedanken... - wer weiß, was aus ihnen wird...

Kurt: Ich glaube, ein Wunder springt grundsätzlich über die Linien des Zorns (womöglich sind es unübersichtlich viele), das muss es wohl auch tun, weil es sonst kein Wunder wäre: sich davon nicht verbrennen zu lassen, aber auch nicht bestimmen/vereinnahmen. Die Linien läse ich nicht als Hürden, sondern Wegweiser, in gewisser Weise als Voraussetzung auch für das Wunder, dass es zum Wunder wird. Ist nicht ein Wunder immer im Werden? Gehört das zum Wesen des Wunders: nie "nur" zu sein - sondern immer zu werden? Zum Werden verdammt - oder verpflichtet? Oder mit der Möglichkeit zu werden? Aber das ist wohl - scheinbar? - ein anderes Thema. Und zum Wunder gehört, dass man darüber berichtet, davon erzählt, und sei es auch in Versen wie im obigen Gedicht. Ist ein Wunder, das niemand sieht/erzählt, von dem niemand weiß, überhaupt ein Wunder? Ein Wunder ist dazu gemacht, nein, wird, damit es und andere sich wundern.

Ich jedenfalls reibe mir verwundert die Augen über eure wunderbaren Denk- und Fühlanregungen - DANKE.

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birke
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Beitragvon birke » 09.03.2019, 10:44

hallo klara, ein „wunder“ ist für mich immer positiv belegt… hier im text aber empfinde ich das vom lyr ich bezeichnete „wunder“ als … etwas anderes, als etwas zorniges, ungewolltes, das verletzlich ist, das ausgelacht wird, das sich aber über all das hinwegsetzt, trotzig und ja, auch zornig. irgendwie irreführend (für mich) und irritierend ("steht auf seinen augen", was für ein brutales bild! genau so das auto, das in die wunde fuhr). was auch immer es ist, mir erscheint es kein wunder zu sein, sondern eine notwendige geburt, eine geburt, die vom lyr ich gewollt ist, wie der titel bzw die erste zeile suggeriert, aber dann doch eher nicht gewollt scheint??, und das ergebnis der geburt ist für mich nicht fassbar, (surreal, ein wenig ins lächerliche gezogen auch?), unangenommen, und lässt mich letztlich ratlos und diffus zurück.
lg, birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 09.03.2019, 10:47

An eine "Mutter" denke ich gleich in der ersten Zeile: Sie gebärt. Sie bringt ein sehendes Wunderwesen zur Welt.

Unter "Sehen" (Augen) verstehe ich übrigens auch "Verstehen" -- "konnte sofort stehen sehen mit seinen zwei Augen."

In der dritten Zeile lese ich, dass die Mutter hart wurde und das Wunderwesen auf die Straße setzte und es verabschiedete. Hierdurch verwundete sie es.

Vielleicht geschah das aus einem Auto heraus, aus dem selben Auto, das dann in seine Wunde fuhr. Elternhaus - Elternauto - Mutterauto - Muttervehikel. Das Vehikel lacht. Das Gesicht des Vehikels ist hinter der Windschutzscheibe. Das Gesicht gehört zum Vehikel.

Das Wunderwesen ist angefahren, humpelt aber nicht, sondern schöpft Energie und setzt zum Gegenangriff an.

Die Zeile "über die Linien des Zorns" ist doppelt verknüpft: Einmal mit dem Sprung über die Linien (wobei ich nicht sehe, ob der Sprung in den Zorn hinein oder aus ihm heraus gerichtet ist), und dann mit dem Bezugserhalt via Linien.

Bei den letzten beiden Zeilen denke ich an andere (autobiografisch wirkende) Texte der Autorin und verknüpfe entsprechend. Natürlich ist das Ich in diesem Gedicht, also diese Mutter, nicht mit der Autorin gleichzusetzen. -- In meiner vielleicht zu fantasievollen Verknüpfung ist dieses Ich im Gedicht die Mutter der Autorin. Und das Wunder ist die Autorin. -- Selbst wenn meine Verknüpfung allzu verdreht erscheinen sollte, so könnte man zumindest noch sagen, dass das Mutterwesen und das Wunderwesen vielleicht sowieso vertauschbar sind? Nicht im Detail, aber vielleicht in ihren emotionalen Grundproblemen?

Wie sich Wunden über Generationen fortpflanzen ...
Zuletzt geändert von Pjotr am 09.03.2019, 10:54, insgesamt 1-mal geändert.


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