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Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
flyy
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Beitragvon flyy » 14.06.2019, 21:42

am Morgen
ziehe ich die Vorhänge zurück
und mache mich auf den Weg

am Abend
hat mir das Haus sein Dach
vor die Tür gestellt

nun
bin ich Aug in Aug
mit den Schwalben

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 15.06.2019, 02:23

Genaue Schräge, lapidare Surrealität, ausgewogene Komposition -- wie ein Gemälde von René Magritte ... Gefällt mir.

Ein Bild der Freiheit.

Frei wovon?

Von vielem.

Nicht von allem. (Totale Freiheit gibt es nicht.)

Aber von vielem.


Ein Bild einer Problemlösung. Die Lösung kann man "Lösung" nennen oder auch "Freiheit". Das Dach hat sich gelöst.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 15.06.2019, 10:21

Hallo Flyy, ich bin in Versuchung, nach dem Realismus der ersten Strophe auch den Rest des Gedichtes realistisch zu lesen (nicht allegorisch wie Pjotr), und dann kann es sich nur um einen Unwetterschaden handeln, der mit dem Bild von Schwalbennestern in Augenhöhe beschrieben wird. So kanns gehen in Zeiten des Klimawandels! Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Klara
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Beitragvon Klara » 15.06.2019, 11:37

schön!
Die offenen Vorhänge, das auf den Weg Gemachte, das Dach vor der Tür: die Schwalben vor Augen.
Sie machen ja große Haufen und Dreck, doch wovon sollen sie nun herabkäckern?
Sie werden davon fliegen, die Schwalben, neue Nistmöglichkeiten suchen, ein anderes Dach
und das Ich, das vielleicht obdachlos ist (aber nur vielleich, denn es kann ja unters Dach vor der Tür kriechen, ein Zelt sich draus machen), geht vielleicht fort (abe rnur vielleicht), folgt dem Zug der Schwalben (aber nur vielleicht, sehr vielleicht) und sendet Grüße nach daheim.
Habe ich gerne gelesen mit der hübschen Pointe.
Und dass es vom scheinbar realistischen Beginn ins Surreale kippt (das eher ein Metaphorisches ist, finde ich), passt genau.

Herzlich
Klara

Kurt
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Beitragvon Kurt » 15.06.2019, 12:10

Klara, deine weitergedachte Folge war mir beim Lesen gar nicht erst in den Sinn gekommen, weil das Gedicht hier doch klar seine nicht reale Situation äußert. Es besagt unmissverständlich, das Haus hat das Dach vorgestellt, nicht der Sturm, was dann real sein könnte. Und das macht es interessant, und weil es das Warum offenlässt. Es könnte sich also nur um eine Stimmung, eine Empfindung des LyrIch handeln und es ergibt wohl auch gleichzeitig ein Surrealistisches, was Pjotr ja drin sieht. Finde ich gut, Fly.

LG Kurt
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 15.06.2019, 20:12

Interessante, verschiedene, auch dunklere, Sichtweisen in den Kommentaren. Ich muss jetzt überlegen, ob mein Optimismus mich mal wieder getrickst hat ...

Aber ich glaube, ich kann meinen Reflex erklären:

Wie Kurt, habe ich keinen aktiven Sturm gesehen, sondern ein aktives Haus, das mit seinen beiden Armen (surreal) seinen Hut abnimmt, sozusagen. Das Haus lebt also. Es ist kein passiver Gegenstand, das von außen gebeutelt wird. Ich sehe es als lebende Beziehung. Ein Lebewesen namens "Geborgenheit". Kann ein lebloser Gegenstand eine Geborgenheit stricken? Manche Menschen behelfen sich da, indem sie dem Gegenstand einen Namen geben. Beispielsweise einem Auto einen persönlichen Namen geben. Seeleute und Astronauten geben ihrem Schiff einen Namen. Soweit will ich aber jetzt nicht gehen in Bezug auf das Gedicht. Wollte nur sagen, dass ich dieses agierende Haus spontan als ein surreales Lebewesen aufgefasst, aufgelesen habe. -- Dieses Agierende könnte allerdings auch als Sprachwitz gemeint gewesen sein in der Art: "Ich rutschte aus, und die Straße rannte mir ins Gesicht". Die Straße als agierender Gegenstand, als Lebewesen, aber nur als sprachlicher Witz gemeint. So könnte auch die Formulierung "hat mir das Haus sein Dach vor die Tür gestellt" als sprachlicher Witz gemeint sein, während tatsächlich ein passiver Gegenstand im Bild sein sollte. Aber das wäre ein Stilbruch im Vergleich zum Stil des Intros. Daher bleibe ich bei meinem ersten Eindruck.

In meinem Optimismus dachte ich auch nicht an Schwalben unterm Dach, sonderm Schwalben im Himmel. Wären es Tauben gewesen, wäre mir wohl eher die Bodennähe als der Himmel in den Sinn gekommen. Ja, stimmt, jetzt geht mir ein zweiter Blick auf: Auf Augenhöhe mit den Vögeln unterm Dachgiebel. "Aug in Aug". Ich hatte sowieso ein kleines regie-technisches Anschlussproblem mit der Rückkehr zum Haus: Wenn das Ich sagt ""Aug in Aug", ist das Ich dann schon wieder im Haus, oder steht das Ich noch davor, also im Angesicht des vor der Tür darliegenden Dachs? Zwei Möglichkeiten. -- Streng regie-technisch gesehen, scheint mir jetzt die horizontale Sicht von Klara plausibler als mein optimistischer Vertikal-Blick rauf zum Himmel ...


Edit: Erst jetzt sehe ich den Wald vor lauter verschiedenen Bäumen. Egal ob horizontal auf Augenhöhe mit den Schwalben, oder hinaufblickend zu ihnen im Himmel: In beiden Sichtweisen bringt das Haus den Schwalbenhimmel näher zum Ich. Der Himmel wird greifbar. So oder so. -- Raffiniert.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 16.06.2019, 07:40

Ja, Pjotr, eingangs steht da, dass die Vorhänge zugezogen werden, das Haus verdunkelt wird gewissermaßen. Und nun kommt Licht hinein, LyrIch steht mit den Schwalben am freien Himmel auf Augenhöhe, welch glückliche ...

LG Kurt
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 16.06.2019, 08:12

Kurt hat geschrieben:eingangs steht da, dass die Vorhänge zugezogen werden, das Haus verdunkelt wird gewissermaßen.

Zurückziehen von Vorhängen bedeutet für mich, sie öffnen, Licht hereinlassen ... Bei Dir offenbar das Gegenteil!
Der Wechsel von Realismus zu Surrealismus überfordert mich offenbar.
Gruß Quoth
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 16.06.2019, 08:31

"ziehe ich die Vorhänge zurück" -- das sagt für mich nichts über die Zugrichtung aus, so lange ich nicht den Startpunkt weiß. Aber weil das am Morgen stattfand, denke ich, dass der Startpunkt der geschlossene Zustand war.

Aber ansonsten sehe ich das ja wie Kurt, wie gesagt.

Mit "dunkleren Sichtweisen" meinte ich nicht die Vorhänge, sondern Quoths Bezug auf die Klimakatastrophe, und Klaras ersten Gedanken an Vogelkot ... :-) während ich nur die frische Luft im Kopf hatte :-)

Kurt
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Beitragvon Kurt » 16.06.2019, 08:33

Ja, Quoth, habe ich falsch gelesen. Ich ziehe immer meine Rollos runter, damit die Bude kühl bleibt.

LG Kurt
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flyy
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Beitragvon flyy » 21.06.2019, 23:56

Uh, gehöre ich hier wirklich zu den Wenigen, die diese Schwalbennester unter
den Hausgiebeln noch kennen?

Habt herzlichen Dank für eure so vielfältigen Gedanken und auch kontroversen
Meinungen zu diesemText. Und ich unterstelle mal, dass niemand von euch
hier wirklich etwas erklärt haben möchte ...

LG, flyy

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 22.06.2019, 05:16

Da könnte auch Hochwasser sein, und der Schwimmer ist nun auf Augenhöhe mit dem Dachgiebel.

Es gibt wohl unendlich viele Deutungsmöglichkeiten.

Aber derartige Deutungen sind mir zu realistisch, zu nüchtern, zu banal. Ich lasse lieber das Bild für sich wirken, in seiner reinen Phänomenologie. Bei solchen ultra-mehrdeutigen Bildern faszinieren mich die Empfindungs-Qualitäten an sich, weniger deren möglicherweise chemischen oder physikalischen Ursachen.

Klara
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Beitragvon Klara » 22.06.2019, 11:32

Die Schwalbennester bedürfen keiner Erklärung. Die gab es nicht nur "damals" vor Urzeiten - sondern immer noch, und zwar viele :-)
Neulich war ich in einem Stall, da hingen sie, ohne dass ich sie hätte zählen können. In Zusammenhang mit "hat mir das Haus sein Dach / vor die Tür gestellt" erschließt es sich mir nicht, da es ja nicht des Hauses Dach, sondern die Schwalbennester sind. Aber vielleicht stehe ich auch auf dem Schlauch?

Quoth
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Beitragvon Quoth » 23.06.2019, 09:52

flyy hat geschrieben:Uh, gehöre ich hier wirklich zu den Wenigen, die diese Schwalbennester unter
den Hausgiebeln noch kennen?

Unter Hausgiebeln mag es einige geben, aber, wenn genug Insekten da sind, kleben sie mengenweise unter Dachüberständen, auch Traufen genannt.
Gruß Quoth
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