Der singende Stier

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gertomat
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Beitragvon gertomat » 13.05.2021, 01:15

Der singende Stier

-- https://de.wikipedia.org/wiki/Sizilianischer_Bulle

Kennt ihr den singenden Stier?
Aus Bronze gefertigt
In seinen Leib
werden die menschlichen Körper gesteckt
die zu Seelenstaub verbrannt werden sollen
Kannst du diesen Schmerz fühlen?
Kannst du ihn nachdenken,
den diese Menschen erleiden mussten?

Wie kann einer,
der sich selbst Mensch schimpft,
der am Morgen seine Kinder küsst
und seine Frau lieb in den Armen hält,
einem andren Menschen
solch Folter antun?
Solch Qual erteilen?

Bis dass sie schreien aus voller Leibeskraft
Und der bronzene Stier beginnt zu singen,
aus seinem kunstvoll wohlgeformten Maul,
damit die Schreie,
zu kunstvollen Tönen erklingen,
und weit über das Land hinaus,
die Lüfte erfüllen
Wie viele Perversitäten
hat der Mensch schon geschaffen?
Streckbänke und Galgen
Eiserne Pferde und Jungfrauen
Daumenschrauben und Halsringe
Elektroschocks und Waterboarding
Isolationshaft und Kriege schlechthin

Kriege, die gequälte Menschen hinterlassen,
mit ihrem Schmerz der Verluste
in Armut und im Dreck der gefallenen Bomben
Mit Verletzungen des Körpers und der Seele
Mit einem Blick in eine nicht vorhandene Zukunft

Willst du mir glauben
wenn ich von Ängsten dir erzähle
vom Schmerz der Seele
Die Qual der Gedanken
Die Qual der Gefühle
in mir selbst entsprungen
und ich weiß nicht woher

Wahrscheinlich dem Schmerz entsprungen
einfach nur Mensch zu sein,
der zu allem fähig erscheint
vor allem jedoch seiner Lust
an Mord und Totschlag und Zerstörung folgt

Die Sham die auf mir lastet
diese Unvernunft mittragen zu müssen
so ohnmächtig zusehen zu müssen
wie Menschen unter Menschen leiden
wie die Natur geknechtet wird
Und Mutter Erde ihr Gesicht verliert

Diese Sham ist zum Schmerz in mir geworden
der mich selbst zerfrisst
der mein Leben ad absurdum führt
der den Wunsch in mir wachsen lässt
dieses Leben nie gelebt haben zu wollen
und den Freitod zu wählen,
damit diese seelischen Qualen
alsbald ein Ende haben werden….
:ff:

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 13.05.2021, 12:04

Moin,

solche Quälereien finde ich auch schrecklich und finde es unerträglich, dass viele Menschen derartiges erfreut, auch in der heutigen Zeit. Also ich meine jetzt diesen gewalttätigen furchtbaren Sadismus, nicht irgendwelche einverständliche Sadomaso-Spiele im Darkroom. -- Aber warum schämt sich das Lyrische Ich in diesem Gedicht? Ist dessen Zugehörigkeitsgefühl so universell, fühlt es sich mit jedem Menschen auf der Welt so eng verbunden?

Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mich zuletzt einer anderen Person geschämt habe. Das muss noch in meiner Kindheit gewesen sein, etwa wenn mein Vater sich im Alkoholrausch vor anderen lächerlich machte. Später, in meiner Pubertät verschwand diese Scham für andere. Von da an konnte ich mich nur noch meiner eigenen Fehler schämen. Klar, Stolz und Scham bezieht sich nicht nur auf Eigenleistung, sondern auch auf Gruppenzugehörigkeit. Die ist bei mir persönlich nur schwach ausgebildet. Das hat Vor- und Nachteile, je nach Mentalität. In meiner Kindheit sehnte ich mich nach Gruppenzugehörigkeit, weil ich damals noch maximal naiv war und keinen Plan hatte.


Ahoy

P.


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