aus einem ziegenmeer eine ziegenbrandung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Werner
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Beitragvon Werner » 10.11.2021, 19:56

1
das bambusmatte grün des wassers
das kalkhelle leuchten und die musik der inseln
hier hatte einst ein gott seine augen im spiel gehabt
und eine göttin war an land gestiegen
mit der selbstverständlichkeit heutiger kreuzfahrttouristen
die nach einem sturm
einem beben am meeresboden
anlanden
erzähl mir von den ertrinkenden und ertrunkenen liebchen
die das sichere eiland nie erreichten
nicht die götter und göttinnen
es sind die fische die überleben

2
leer sind die straßen und flugbahnen am himmel
angefüllt mit den spuren der vögel und insekten
die aus ihren gräbern herunterschauen
auf ausgestorbene städte
leise weht ein luftzug aus den flügeln
er legt sich über das letzte elektrische flimmern des tages
einst gab es stimmen
sie sangen und lachten mit dem licht und den liedern

3
kreuzen inseln vor den festlandsockeln
den sagenumwobenen und umkämpften kolonien
die abtrünnig geworden waren
abtrünnig
vom glauben
von den herrschaften der zentralgestirne
den göttern und göttinnen
die lange zeit schützend lieder über sie gehalten hatten

4
die schmetterlingsgleichen geschichten die symmetrien
von schwarz und weiß die spiegelungen
licht in schatten schatten in licht
und immer wieder die stimmen
zarte hallräume innen
außen
die pflanzen die tiere die pilze
nie erscheinen menschen geistwesen halb
göttinnen götter
in den am strand verlorenen versen aus einer anderen zeit

5
vergiss alles was du gelernt hast
über relativitätstheorien physikalische halb und vollräume
ein relativistisches weltbild
das es nie gegeben hat

6
blau lagert sich ab neben den eingängen
zu den unterwelten
den himmeln
den verlassenen städten mit den löwentoren
den labyrinthen unter den palästen
der musiker der sängerinnen der chöre
der rachegöttinnen
die lange lange regiert haben

7
blau füllt die adern der nachtschatten
gewächse der langstieligen lieder
trauer und lobgesänge zugleich
die gesetze der physik werden außer kraft gesetzt
die kometen asteroiden interstellare materie verlassen ihre bahnen
und nehmen kurs auf die bruchstellen am meeresboden
aus denen fische klänge schwimmen
stranden in deiner hand

8
in deinem kehl
kopf
deinem sternum
deinem an und abschwellenden brustkorb

9
streichen die nächte deinen rippenbogen
bis er klingt

aram
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Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 21.01.2022, 00:38

weit angelegte und eigenartige motivik. langer atem, von mythischen gestalten, wesen und kräften, in gleitenden übergängen von maritimen geografien zu celestischen sphären, durchzogen von zeiten und gezeiten - einst irdisches wird legende, himmlisches liegt in resten am meeresgrund.
über all dem eine persönliche ebene, körperlich, auf ein du gerichtet, die konkret wirkt und sich doch verschließt.

der text bietet eine derartige fülle an bildern und anklängen, fast als wären strophen aus eigenständigen texten montiert - doch wirken die entstehenden spannungen eingängig, zum großen bild gehörend, drücken es aus, beleuchten etwas nahezu unaussprechlich nicht-fassliches von mehreren seiten, zeigen skulpturales in wechselndem licht.

[[ kleinkram: ein "weltbild, das es nie gegeben hat" scheint etwas unglücklich formuliert; gemeint ist wohl, dass es nie reale entsprechung hatte - aber man kann ja auch ein glas wasser trinken.
im vers "die lange zeit schützend lieder über sie gehalten hatten" stört mich "zeit" - das wort sollte in diesem text rar sein. (z.b. "die so lange schützend lieder über sie gehalten hatten") - "zeit" taucht auch am ende der anschließenden strophe auf - da weniger störend, jed. evtl. durch "ära" ersetzbar) ]]

schon das einstiegsbild ist stark, "das bambusmatte grün des wassers"; das pflanzliche, vitale, förmlich zu riechen - daran schließt dieser weite bogen ins nahezu spirituelle, aber - durch welches umformungsgeschehen auch immer - immer noch erdbezogene, verwandelte.

wer vermöchte zu sagen, was hier das realere, ehere, manifeste ist - wenn nicht der körper, der hier ist , und schmerzt - und über sich hinauswächst.

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Werner
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Beitragvon Werner » 07.02.2022, 22:40

Danke sehr aram für die ausführlichen ausführungen zum text und für die große zustimmung, danke! ja, da könntest du recht haben, mit der zeit, dem weltbild, da kann ich deinen vorschlägen gut folgen. ich werde es dahingehend nochmals überdenken und vermutlich überarbeiten.


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