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Drei Gedichte für SAID

Verfasst: 21.06.2023, 12:30
von Werner
der wolf
brachte die sprache auf deine augen
(SAID: [der wolf]. Gedicht. 2007)


ich überwintere in deiner sprache
friere ich nicht


deine hand greift hinein
in das flüstern die stimmen

bewegt der mond der stille
die meere

hörst du im stadtpark
am weiher das brechen des eises

jede rinde trägt eine spur
schnee den du nicht gehört hast

durchs windland ziehen traurige gestalten
und der wind geht durch sie hindurch

mollusken sind treu
wie alte gewohnheiten oder krankheiten

pflügen schleppnetze
vers für vers in den grund des meeres

mollusken sind bekannt
für ihren sinn für schönheit

du führst zwei leben
eines für die träume

und in einem anderen lernst du lesen und schreiben
denken sprechen

durch deine verse bist du mir nah
als ob wir uns gegenübersitzen und miteinander sprechen

aus dem maulbeerbaum kommt eine stimme
dünne fäden aus einem anderen reich

alles wölbt sich auf
über die horizontlinie am ende des meeres

gedichte luftspiegelungen
in der schimmerung des nachmittags

der durst nach dichtung ist gestillt
den schlaf mohn bringe ich mit

vergiss nicht zu atmen
vergiss nicht

vergiss
die todeskraft des schreibens

Teheran, das heißt, mein Lächeln ist Wunde.
(Pegah Ahmadi: Mir war nicht kalt. Gedichte.
Aus dem Farsi von Jutta Himmelreich. Bremen, 2011)


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Der Himmel
will die Zeit vergessen haben,
da du sein Gast warst.
(SAID: Sei Nacht zu mir. Gedichte. 1998)


wenn die blätter
sich anfühlen wie liebesgedichte


beschreiten mit ihren gaukelflügen feuerfalter
die bewegungen des liebesspiels

flattern bläulinge
ins porzellanweiß des auges

legt der schmetterlingsmann
seinen trauermantel ab

steigen am östlichen himmel
aurorafalter auf

kann ich mich nicht sattessen an den feigen
nicht sattsehen an den tulpen

und mädchen
schmücken die gärten mit kräutern

Die Welt ist aufs Wasser gekippt und zerflossen.
Ich streue Erde aus, um sie hinter mir zu lassen.
(Pegah Ahmadi: Mir war nicht kalt. Gedichte.
Aus dem Farsi von Jutta Himmelreich. Bremen, 2011)


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Jeder Ort ist zufällig –
Bis auf deinen mund,
der empfängt
und sich nach einer mündung
ohne splitter sehnt.
(SAID: Aussenhaut Binnenträume. Gedichte. 2002)


nacheilen
den zerfließenden stimmen

wem würde es auffallen
wenn der dichter ein paar schritte vorausgegangen ist
und sein gedicht noch bei uns bleibt
in seiner sprache
die wir vernahmen
als er bei uns stand
kein wort kein komma
wird mehr geändert
denn das gedicht spricht weiter
und der dichter schon
mit anderer stimme
einer leiseren
geflüsterten
die auch am firmament die weißen vögel
über dem verlorenen land der kindheit vernehmen

Atme.
Wieder ist die Luft eine dünne Übersetzung.
(Pegah Ahmadi: Wucht. Gedichte.
Aus dem Persischen übertragen
von Jutta Himmelreich. Bremen, 2018)

Verfasst: 25.06.2023, 11:04
von OscarTheFish
Wir bemerken viele Unterschiede im Sein, aber Lyrik ist wie die Musik. Sie bietet einen Treffpunkt, festzustellen wie viele Gemeinsamkeiten in den Unterschieden bestehen. Auch in surrealen Untertönen.

Verfasst: 06.11.2023, 23:11
von Werner
sehr gut gesagt

Verfasst: 09.11.2023, 10:06
von birke
wunderbare gedichte für einen wunderbaren schriftsteller.

Verfasst: 09.11.2023, 13:11
von Werner
Danke Dir, liebe Birke.

Verfasst: 09.11.2023, 17:44
von Epiklord
Lieber Werner,

du hast wie wir alle ebenfalls einen Körper, inklusive Gehirn, das unsere Welt generiert. Vorstellbar wäre, das gänzlich andere Informationsverarbeitergehirne gänzlich anders die Welt darstellen. Der Lyriker hier nun aber zeigt mir eine Welt, von der ich klar sagen kann, dass es eine künstlich erzeugte ist, denn kein Mensch wird von sich sagen können, das er die hier dargestellte genauso erlebt. Insofern scheint richtig, das es sich um ein individuelles Hirngespinnst handelt, weshalb mich diese Art der Lyrik nichts bringt. Ich mag Lyrik, die mir einen tieferen Zugang zu der Welt vermittelt. Der Lyriker fungiert dann als Medium. Hier aber entstellt der Lyriker bewusst die Welt wie durch ein verdrehtes Kaleidoskop dar. Die Folge ist, ich lese den Text, aber am Ende ist nichts dar, an das ich mich orientieren kann. Es bleibt auch nichts verwertbares haften. Leider. Allerdings, das Lesen offenbart schöne Formulierungen.

Verfasst: 09.11.2023, 22:00
von OscarTheFish
Ich verweise in diesem Zusammenhang immer gern auf die bewusste Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Wahrheit. Wirklichkeit ist etwas sehr individuelles.

Verfasst: 10.11.2023, 14:13
von Werner
das sind Hommage-gedichte für einen noch nicht lange verstorbenen, mit zitaten aus gedichten von ihm, gegenübergestellt eine etwas jüngere und weibliche stimme, ebenfalls aus teheran stammend ... wobei ich versucht habe, mich einzufühlen in orientalische, persische lyrik und die in die poesie der zizierten ... und, ein merkmal bei meinen gedichten ist immer wieder ein "magischer realismus", manchmal fast surrealismus ... und, lyrik/gedichte sollte/n immer auch etwas magisches haben, hat mal ein dichter gesagt, und, ich füge hinzu, auch etwas sinnliches. Danke für eure kommentare. für einen tieferen zugang zur welt sind tiefbohrungen, geophysikalische (seismische) messungen besonders geeignet, füge ich als studierter und immer in meinem beruf arbeitender geologe noch an. die hintergründe, die geschmäcker und die ansprüche sind verschieden.