Rettungsbürokratie

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 24.11.2024, 18:05

(Inspiriert durch Reinhard Mey -- "Ein Antrag auf Erteilung eines Antragformulas")

(Verse 1)
Liegt im Land vieles im Argen, eines ist doch garantiert:
braucht man Hilfe, ist die Rettung stets perfekt organisiert.

Wie genau, erlebt' ich neulich selbst am Eckernförder Strand
als ich sah, wie in der Ferne jemand in der See verschwand.

Sofort rannte ich zum Strandaufgang, geschwind, im vollen Lauf
dort stand eine Infotafel mit fünf Rettungsnummern drauf.

(Chorus)
"Hilfe! Hilfe! Ich ertrinke!", heißt es heute oft am Meer
und dann schicken die Behörden sofort Rettungskräfte her.
Senden Sie – am besten schriftlich – Name, Ort und Hilfeschrei
an das zuständige Amt nach Rettungsvorschrift, Absatz drei.

(Verse 2)
Also tippte ich die erste in mein Telefon gehetzt
doch die ersten zehn Versuche war da immer nur besetzt.

Bei der zweiten ging nach kurzem Läuten wirklich jemand dran
dem ich sagte, wie er mir jetzt dringend weiterhelfen kann.

Und zur Antwort kam, Verzeihung, doch nur Schiffsrettungen hier
Geht's um Schwimmer, wählen sie null hundert dreizehn acht null vier.

(Chorus)
"Hilfe! Hilfe! Ich ertrinke!", heißt es heute oft am Meer
und dann schicken die Behörden sofort Rettungskräfte her.
Senden Sie – am besten schriftlich – Name, Ort und Hilfeschrei
an das zuständige Amt nach Rettungsvorschrift, Absatz drei.

(Verse 3)
Unter dieser Nummer wurde "Bitte, wo genau?" gefragt
und ich hab die GPS-Koordinaten durchgesagt.

Darauf kam nach kurzem Zögern, also, dann ist er jetzt ja
fast zwei Meter zu weit draußen, dafür sind wir nicht mehr da.

Dann ist's Hochseerettung, doch Sie sprechen mit der Küstenwacht.
Melden Sie den Notfall bitte bei zwölf siebzehn elf fünf acht.

(Chorus)
"Hilfe! Hilfe! Ich ertrinke!", heißt es heute oft am Meer
und dann schicken die Behörden sofort Rettungskräfte her.
Senden Sie – am besten schriftlich – Name, Ort und Hilfeschrei
an das zuständige Amt nach Rettungsvorschrift, Absatz drei.

(Verse 4)
Als ich das dann tat, kam wirklich, fast unglaublich, aber wahr
rasch ein Boot, so dass ich dachte, jetzt ist er außer Gefahr.

Doch bevor sie ihn erreichten, machten sie gleich wieder kehrt
das hat mir der Herr am Telefon auch gleich höflich erklärt:

Wie es scheint, trieb ihn die Strömung näher an den Strand heran
der gehört der Küstenwache, ich verbind' Sie, blei'm 'se dran!

(Chorus)
"Hilfe! Hilfe! Ich ertrinke!", heißt es heute oft am Meer
und dann schicken die Behörden sofort Rettungskräfte her.
Senden Sie – am besten schriftlich – Name, Ort und Hilfeschrei
an das zuständige Amt nach Rettungsvorschrift, Absatz drei.

(Verse 5)
Und durch abertausend Nummern, jede kam mit neuem Stuss
dreht' ich stoisch meine Runden, wie der alte Sisiphus.

Nach unzähligen Äonen eines Tag's der große Schreck:
als ich hinsah war der Kerl mit einem Mal ganz einfach weg!

"Nun, zum Glück ist ja inzwischen", sprach er plötzlich neben mir
"das gesamte Meer verdunstet – aber trotzdem, danke dir!"

(Outro)
Seither weiß ich, dauert manches auch bisweilen seine Zeit
steht in unserm Land die Rettung, wo es Not tut, stets bereit.

OscarTheFish
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Registriert: 08.11.2015
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Beitragvon OscarTheFish » 27.11.2024, 20:14

Gelungene Zeilen, die den staatstragenden Seilakt einer Bild- und Modellvermittlung skizzieren. Unter einer Schicht aus virtuellem Staub hört man das Wiehern.
Ein paar ausgewählte Werke zur Stillung weiterer Neugier:
AKUTES ABDOMEN, OBWOHL WIR BLIND SIND, SCHMUSEREI, MUCH ADO ABOUT FUJI.
Gedichte von: Der beste Dichter der Welt und XRayFusion.


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