Quadriga (vier Pferde und ein Wagenlenker, eine Jugendsünde)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
carl
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Beitragvon carl » 12.06.2006, 16:44

1. Enthusiasmus (Widmung)

Soll ich dich einem Sommerloch vergleichen
Wo träge tönt ein Nachtigallen-Schlag
Wo tausend Sterne keiner zählen mag
Und Träume über alle Ufer streichen?

Nein! Eher bist du mir ein Frühlingstag
Wenn endlich alle Nebel weichen
Und Licht und Atem frisch erreichen
Was endlos unter grauem Firnis lag.

Wenn Lerchen wie ein Lächeln steigen
Und Morgenstrahlen warm und hell
Wie Hände sich zur Wange neigen

Dann sollst du so dich immer zeigen!
Das bitte ich, sonst geht der Tag zu schnell:
Bleibe mir gut, du meiner Sehnsucht Quell!



2. Begierde

Komm her zu mir, unser Parcours geht weiter!
Denn wie du lässig auf der Ferse sitzt
Ein Schenkel hoch, der andre aufgestützt
Das unverschämte Grinsen immer breiter

Gewähr ich dir die Gunst, mein schöner Reiter
Weil deine Flanke immer noch verschwitzt
Schon wieder heftig geht und ungeschützt
Die Lanze steht: Sei noch einmal mein Streiter!

Doch ehe du mich hochziehst auf den Hengst
Sobald sich meine Schranken dir aufschließen
Will ich, dass du dich ganz an mich verschenkst

Und deinen Blick mit meinem fest verschränkst.
Dann sollst du mich ganz intensiv dort küssen
Wo du wirst die Turnier-Standarte hissen!



3. Mut

Noch 1000 Schritt. Und furchtgebietend steigen
Über den Kamm empor zum Hangvorteil
Die Panzerreiter - und die Lanzen neigen
Sich abwärts gegen uns im Angriffskeil...

Noch 100 Schritt. Die wir zu lang das Heil
Im Wahren unsrer Ruhe stets gesehen:
Wir sind's nun, die im letzten Ausfall stehen
Und deren Sehne trägt den letzten Pfeil...

Noch 10 Schritte und Leben als ein Lehen
Als unsichtbarer Kampf zum Schluss -
So löst, gespannt im Kommen und im Gehen
Die Atemwende jetzt den Schuss.

Dann werden die Parier-Klingen gestellt
Und donnernd fällt im roten Staub die Welt.




4. Einsicht

Flüssiges Silber lässt die Sicht verblassen
Die Welt ist fern, wird Silhouette bloß -
Und nah ins Tannendunkel unter Moos
Fährt Goldstaub über lichtgebaute Trassen.

Die Stunde dehnt sich zeit- und regungslos.
Doch was lässt plötzlich Tag und Jahr erfassen
Die ungeschätzt hat der versinken lassen
Der bisher wuchs am Ufer Lethes groß?

Ist es das frische Schimmern an den Zweigen
Des Bussards Schrei, der durch die Stille fährt
Der Wirbel, in dem dürre Blätter steigen?

Des Frühlings leiser innrer Nachhall klärt
Dass auch die Ernte nicht mehr ewig währt.
Bald wird das Leben völlig schweigen.



Auriga (Wagenlenker)

Gelassen führt der Knabe dein Gespann
Durch dieser Hunde rückgratlose Reihen
Die sich mit Fessel-schnappen prophezeien
Das Ende unter Hufen irgendwann...

Gelassen führt er durch der Ränge Schreien
Wo sich bepisst, wenn du zerschmettert fällst
Der sich bepisst, wenn du den Kranz erhältst
Und der nie teilt das Leben eines Freien.

Er führt dich bis zur Schwelle eines Todes
Die niemand aus sich selber überschreitet
Und wenn dein Chiton doch so ruhig gleitet

Dann stehst du bloß im Namen deines Gottes:
Mit einer Hand bändigst du Kräfte noch
Die ungeheuer sind - und schnellst sie hoch!

Gast

Beitragvon Gast » 15.06.2006, 20:03

Glaube nur nicht, lieber Carl, dass ich jetz sofort nachdem ich zu einem anderen deiner Gedichte geschrieben habe, mir jetzt komplett die Quadriga "vorknöpfe" Bild
Mir ist lediglich beim ersten Lesen aufgefallen, dass du "unauffällig" "Deine Begierde" mit hinein gestrickt hast...
Insgesamt ein Brocken, die 5 Gedichte, im Sinne von Berg.
Bestimmt bin ich auch nicht so fit um da die rechten geschichtlichen Bezüge und Bedeutungen heraus zu finden.

Ein paar Fragen, deren Beantwortung mir vielleicht weiterhelfen:
Warum Jugendsünde?
Worauf bezieht sich das auf die Dichtung oder den Inhalt?
Gleich in der sersten Zeile fehlt ein "mit", welches du m. E. auch nicht ausglassen kannst, denn so hat der Ves zwar das richtig Maß, aber, das allein reciht nicht.
Die Frage ist ohnehin: Willst du tatsächlich einen Menschen oder eine Menschin mit einem Sommerloch vergleichen, bzw. gerade dieses negieren...
Irgenwie komisch, vielleicht ungewollt...

Ich mache jetzt einen Sprung zum letzten Teil (Auriga):
Mehr kann ich heute nach dem ersten Lesen nicht sagen:

Wie geht dieses? Hunde, die sich selbst prophezeien, durch Fesselschnappen?

Abgesehen davon dass ich längst noch nicht hinter den Sinn und die Art des Gesamtaufbaus gestiegen bin, inhaltlich auch so meine Probleme habe und reichlich Unterstützung benötige, finde ich die Wiederholung des Wortes bespisst, abgesehen vom Wort, was unschön ist, schrecklich.
(Das Wort passt nicht, hier jedenfalls nicht, da du dich insgesamt in deinem Text, einer besseren Sprachqualität bedienst.

Vielleicht kannst du ja ein paar Anhaltspunkte geben, lieber Carl, inwieweit du geschichtlichen Bezug nimmst.
Das wäre schon mal eine Hilfe für mich, beim weiteren Lesen und vielleicht auch Verstehen. Am Wollen scheitert's nicht aber am Wissen will mir scheinen.
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Liebe Abendgrüße
Gerda
:smile:

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 16.06.2006, 09:54

Lieber carl,
ich brauche ein paar Tage, um mich über diesen Text äußern zu können. ich melde mich, versprochen!

Liebe grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 16.06.2006, 09:58

Hallo carl

Der erste Vers erinnert mich an Shakespeare "Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?". Ist das gewollt?

MfG

Jürgen

rockandrollhexe

Beitragvon rockandrollhexe » 16.06.2006, 11:09

Hallo Carl,
ein sehr langes Werk. Ich habe es mir ausgedruckt und werde es in meinem Hotel lesen. Meine Zeit hier im Internet-Cafe ist begrenzt, da ich noch andere Dinge erledigen will. Ich werde dir einen Kommentar jedoch nicht schuldig bleiben. In einer Woche bin ich wieder zu Hause.
Liebe Grüsse
rockandrollhexe

steyk

Beitragvon steyk » 16.06.2006, 17:30

Hallo Carl,
mir geht es wie rockandrollhexe. Mir fehlt augenblicklich die Zeit, um es richtig zu lesen und zu kommentieren. Ich habe es ausgedruckt und werde es in einer stillen Stunde lesen.

Gruß
Stefan / steyk

carl
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Beitragvon carl » 17.06.2006, 08:12

Hallo ihr Lieben,

ich freue mich natürlich, wenn ihr euch da dranmachen wollt!
Setzt euch aber bitte nicht unter Druck und macht keine Pflichtübung daraus ;-)
Ich werde auch noch genauer sagen, was mir dabei in die Krone geschossen ist. Heute nur soviel:
Ich meine, man kann zwei Dinge/Personen vergleichen und muss sie nicht miteinander vergleichen. Was meint ihr dazu?
Und, ja, es ist natürlich eine Hommage an den größten Sonettisten (Widmung)! Shall I compare thee to a summers day/ Thou art more lovely and more temperate... (wenn mich jetzt nicht mein Gedächtnis trügt.)
"Jugendsünde", weil ich die elitäre Haltung des Auriga nicht mehr teile, außerdem habe ich "Begierde" mal kurz ausgespannt, um sie euch solo vorzuführen. An sich und ursprünglich arbeitet sie aber mit den andern drei zusammen.
Und zu dem Bild der Meute Hunde, die hinterrücks nach den Fesseln der Pferde schnappen und sich durch dieses Tun ihre Zukunft prophezeien, nämlich ein tatsächlich gebrochenes Rückrat?
Ist das echt ein Problem?
Die bürgerliche Gesellschaft funktioniert nur, wenn Wildpferde kastriert als Wallache brav ihre Arbeit machen. Das Bild gilt übrigens nicht nur für dem männlichen Teil. Es ist ja auch zu gefährlich.
Dafür projiziert man und frau dann und nimmt den Schein als Ersatz:
Oder wie soll ich das verstehen, was z.B. bei boygroups während des Konzertes oder backsage passiert, oder wenn "unsere" Jungs ein Tor schießen?

Soviel erst mal.
Liebe Grüße, Carl

P.S.: Am 18. Sonett kann man übrigens sehr gut studieren, was wir schon bei Zaunkönigs "Dichters Manifest" besprochen hatten:
Eine steile Fügung in der 1. Zeile: bei compare wird das -pare betont und gleich darauf das thee und nicht das to (wie's der Rhythmus verlangte). Dadurch wird das thee inhaltlich besonders hervorgehoben.
In der 2. wird Thou anstatt art betont (oder zumindest kann so betont werden), weil durch den Vergleich ein Gegensatz konstruiert ist: Du bist mehr lieblich und mehr mäßiger (soll jetzt keine gute Übersetzung sein, sondern den Rhythmus wiedergeben). Dabei bleibt das and eher unbetont, weil hier keine Bedeutung im Sinne von "außerdem noch" vorliegt, sondern eine einfache Parallelisierung.
Wir müssen im Forum auch etwas aufpassen, dass wir z.B. Shakespeare nicht wegen seiner unvollkommenen Durchführung der Sonettform kritisieren, sondern auf das Verhältnis Inhalt/Form und den kontapunktischen Metarhythmus achten, wenn ihr versteht, was ich meine ;-)

Gast

Beitragvon Gast » 25.06.2006, 21:38

Guten Abend Carl,

Die Form deiner Quadriga ist perfekt, ich habe die Sonette wieder und wieder gelesen, sie klingen, tanzen, fließen.
Dass ich dennoch mit dem gesamten
Text nicht viel anzufangen weiß, liegt nicht an dir.
Dass mir manche Formulierungen oder Worte nicht gefallen hatte ich erwähnt, aber ich muss gestehen ich habe mir den Text immer mal vorgenommen und kann wieder nur sagen: Ja klingt gut, aber der tiefere Sinn erschließt sich mir nicht als Ganzes.
Da kann ich hier und dort deuten und teilweise verstehen, aber was liegt denn nun dieser Quadriga zu Grunde?
Was verbindet diese Sonette? :-s
Ich bin unerschrocken auch zuzugeben, dass ich nichts weiß, :sad: Deshalb frage ich hier mal, wer hat das denn verstanden?
Wer könnte, will oder ist bereit zum Inhalt etwas sagen, dass es z. B. auch mir verständlich wird warum hier bewusst, diese 5 sonette zu einem Ganzen (?) gefügt wurden.
Es kann doch nicht sein, dass ich dafür jetzt ein Literaturstudium nachholen muss ;-)
Shakespeare im Original lesen? Das kann es auch nicht sein, bis ich da fertig bin, bin ich schimmelig.
Bild
Shakespeare ist mir als großer Sonettschreiber ein Begriff, ich habe viele seiner Theaterstücke gesehen, aber da hatte ich keine Verständnisprobleme...
Bild

Noch einen schönen sonntag Abend und einen guten Start in die Woche
Gerda

carl
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Beitragvon carl » 26.06.2006, 11:34

Liebe Gerda,

ich danke Dir, dass Du Dir die Quadriga noch "angetan" hast!
Freut mich, dass sie auch fließt und tanzt (ein paar unreine Endungen, verschrobene Wendungen, etc. kann man natürlich immer noch anmerken...)
Ich warte mit dem Erklären, ob sich noch jemand zu Wort meldet (mit Shakespeare hat nur das 1. Sonett zu tun, ist zum Verständnis aber nicht notwendig). Sonst werde ich Dir eine PN mit einer ausführlichen Antwort schreiben.
Vielleicht nur soviel: Schlüssel ist das 5. Sonett
Der Auriga muss die Grundkräfte seines Lebens bündeln können, sonst zerschmettern sie ihn (welche Pferde man da nimmt... ist natürlich auch etwas Willkür).
Kastriert er sie (bürgeliche Existenz, die dann Idole als Lebens-Ersatz braucht), dann hat er brave Arbeitstiere, aber damit gewinnt er nichts.
Das gebrochene Rückgrat muss er in Kauf nehmen und darf sich nicht von denen beeinflussen lassen, die behaupten, es ginge gar nichts anderes, das Leben müsse im Desaster und Selbstzerstörung enden...
"mit einer hand bändigst du kräfte noch
die ungeheuer sind..."

Liebe Grüße

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 12.11.2006, 17:05

Lieber carl,
irgendwo auf meinem PC liegt noch ein halbfertiger Kommentar zu diesem Text von dir - ich wollte ihn immer fertig kriegen, aber ich bin dazu wohl nicht in der Lage. Unten dran wollte ich immer in Bild hängen, dass ich mal in Griechenland in einem Museum gemacht habe. Ich finde, es spiegelt so schön deinen "inneren Wagenlenker" wieder...weil er ja fast nicht mehr da ist, aber doch gezeichnet...

Vielleicht schaffe ich ja irgednwann den Kommentar fertig. Falls aber nicht, hier zur Sicherheit schon einmal das Bild:

Bild

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Beitragvon carl » 13.11.2006, 10:00

Danke Lisa!

Es gibt eine Rekonstruktion des Wagenlenkers von Delphi, in der führt ein Knabe das Gespann.
Ich glaube, es war immer schon ein innerer Wagenlenker gemeint, ach damals in der Entstehungszeit.

LG, Carl

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 13.11.2006, 11:34

Hallo Carl,

Ein gelungenes Gesammtkunstwerk,
Der Zusammenhang der einzelnen Sonette ist mir ganz offensichtlich und entspricht im Großen und Ganzen deiner Erklärung für Gerda.

Zur Betonung von Shakespeares 18. habe ich allerdings eine andere Meinung.
Für mich läuft der Vers auch im Englischen regelmäßig. Es ist inhaltlich nicht notwendig das "thee" zu betonen. Der angesprochene weiß auch so, daß es um ihn geht. Nicht IHN zu vergleichen wird hier in Frage gestellt, sondern die Möglichkeit ihn zu VERGLEICHEN. Meinem Sprachempfinden nach sind die drei Silben "thee to a" allesammt schwächer betont als das "pare" in compare. Der an klassische Metrik gewöhnte Leser wird aber unweigerlich das "to" etwas herausheben um im Rythmus zu bleiben. Da wird auch mit Erwartungshaltungen gespielt, weil dort eine betonte Silbe folgen "muß". Aber das sind Spitzfindigkeiten, die mit deinem Text nichts mehr zu tun haben.

LG: ZaunköniG
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

carl
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Beitragvon carl » 16.11.2006, 16:41

Hallo Zaunkönig,

Danke, ich kann Deiner Argumentation folgen...

Gruß, Carl


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