ziel: schmerz

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 15.06.2006, 12:45

thomas milser
30/VII/2004


ziel: schmerz


fast unerträglich
dich schon so bald
ganz nah bei mir zu wissen

vier stunden fahrt nur
über flaches land
und seichte see

und doch eine unendlich lange reise
weil das ziel
der schmerz ist

Perry

Beitragvon Perry » 16.06.2006, 17:07

Hallo Thomas,
eine Reise zum Schmerz kann viele Gesichter haben. Ich interpretiere in deine Zeilen eine Fahrt zu einem Begräbnis eines lieben Menschen.
Die leise Wehmut in deinen Zeilen gefällt mir gut, vielleicht passt der schlagwortartige Titel als Kontrast gerade deshalb.
LG
Manfred

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 16.06.2006, 18:49

Lieber Tom,
auch wen in den Worten einige Mal ein kleiner Tod steckt, lese ich das Gedicht eher Richtung "Fernbesziehung", aus einem ähnlichen Winkel betrachtet wie ein Gedicht von Paul neulich.

Abgesehen von dieser konkreten Deutung finde ich zudem, dass es gar nicht so wichtig ist, ob und welche Handlung des lyr.Ich zugrunde zu legen ist, denn es gibt viele Formen von Beziehungen zu anderen Menschen, die gerade dann, wenn man sich nähert ein Schmerz sind, weil man zugleich weit entfernt voneinander ist.

Bei der letzten Strophe fände ich:
und doch eine unendlich lange reise
weil der schmerz
das Ziel ist


flüssiger. Allerdings fände ich gut, andere Meinungen dazu zu hören, weil der Schmerz ans Ende gesetz erstens die "Pointe" später setzt und als (vor-)letztes Wort nachhallt.

Was meinst du dazu?

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Louisa

Beitragvon Louisa » 16.06.2006, 20:48

Hallo Thomas!

Das gefällt mir sehr gut! Man kann sich in diesen kurzen Worten eine richtige Szene ausmalen und in diesem Ende steckt für mich eine gewisse Weisheit.

-Ich habe es so verstanden, dass es ja gan gleich ist wohin man sich im Leben bewegt, irgendwann mündet alles im Schmerz.

Ob das eine zerstörte Liebe, die Sehnsucht oder ein Grab ist spielt keine große Rolle. Es ist der Schmerz, wie Du schon schreibst.

Lisas Vorschlag würde ich übernehmen. Das ist gut!

Liebe Grüße und gute Reise! louisa

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 16.06.2006, 22:39

Ja, danke, Ihr Lieben.

Lisa hat es mit der 'Fernbeziehung' genau erwischt: Man reist zu seiner Liebsten (aus einem fernen Land) und weiß, dass es vielleicht das letzte Mal ist.
Und Lisa: Du hast Deine Frage am Ende selbst beantwortet: Der Schmerz ist das, was schließlich bleibt, und gehört somit auch nach ganz hinten.

Und ich freue mich sehr, damit Euren Nerv zu treffen. Das gibt mir nach etlichen kommentarlosen Prosa-Texten (meist Lustigen) wieder Lust, Gedichte in dieser Schiene einzustellen. Also auch sehr Intimes. Es scheint, dass wahre Gefühle hier willkommen sind und verstanden werden. Schön.

Danke Euch allen sehr.

Der (im Moment voll woanders beschäftigte) Tom.

Pozegnanie, Basia.

Das war Polnisch.

steyk

Beitragvon steyk » 17.06.2006, 06:39

Hallo Thomas,
genauso habe ich deinen sehr guten Text verstanden. Eine Reise zu einem geliebten Menschen, an deren Ziel ein schmerzliches Ende steht... aus welchen Gründen auch immer. Derer läßt dein Gedicht viele zu.
Gruß
Stefan / steyk

scarlett

Beitragvon scarlett » 17.06.2006, 09:49

Hallo Tom,

das gefällt auch mir sehr gut. In diese Kürze so viel reinzupacken, was doch so viel Freiraum zum eigenen "Auffüllen" zuläßt - Kompliment!

Eine kleine, formale Änderung wäre evtl. überlegenswert, nämlich das "und doch" abzusetzen:

und doch
eine unendlich lange Reise
weil das Ziel
der Schmerz ist.

Was meinst du?

Den Schmerz würde ich auch auf jeden Fall am Ende stehen lassen.

Gruß,

scarlett

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 21.06.2006, 13:11

@Stefan: Danke, das ist ein tolles Kompliment.
@Scarlett: Auch Dir herzlichen Dank. Die Zeile abzusetzen wäre vom Leserhythmus her bestimmt gut, aber dann komme ich aus dem (formalen) Dreizeiler raus. Schwierig zu entscheiden, was mehr wiegt. Ich überleg's nochmal.

Max

Beitragvon Max » 21.06.2006, 16:58

Lieber Tom,

ich habe das Gedicht lustigerweise gleich so gelesen, wie Du es interpretiert haben mochtest und ich kann mich sehr gut in die Gedanken hineinfühlen. Ich würds erst mal so lassen, ist toll!

Liebe Grüße
max

claire.delalune

Beitragvon claire.delalune » 27.06.2006, 00:49

leider habe ich die kommentare zu schnell gelesen jetzt.
ich hätte mir mehr zeit nehmen/geben sollen, das gedicht allein auf mich wirken zu lassen.
so weiß ich nun schon, wie du es interpretiert haben möchtest.
und doch war es mein erster gedanke beim lesen, daß es sich um eine ferne (unglückliche) beziehung handelt.
aber der gedanke an ein begräbnis erscheint mir ebenso zulässig und schlüssig.

ich mag gedichte, die mehrere interpretationen zulassen.

und dies hier hat eine tiefe, die mich sehr anspricht.

lieben gruß,
kathrin

Cara

Beitragvon Cara » 27.06.2006, 09:13

Hallo Thomas,

auch ich finde das Gedicht ausgesprochen gut,
speziell in der letzten Strophe kumuliert es in diesem einen, tragenden Wort "Schmerz" und es kommt sehr gut zum Ausdruck, warum die Reise, die ja eigentlich kurz ist, dem Autor so lang vorkommt, denn wer mag das schon, irgendwohin reisen, wo ihn der Schmerz erwartet.
Also verzögert man gedanklich die Reise, zieht sie hinaus, um dann letzlich den unvermeidlichen Schmerz ...............(ja, was?).

Ein Gedicht, welches unter die Haut geht, weil es in wenigen Worten etwas sehr Existentielles aussagt.

LG
Cara

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 27.06.2006, 10:40

Ich danke Euch allen ganz herzlich.

Es erstaunt mich immer wieder: Manchmal feilt man, strickt und häkelt, fügt zu oder streicht, denkt: Jetzt hab ich's! Und keiner mag's.

Ein anderes Mal lässt man einfach einen simplen Gedanen spontan zu Wasser, ohne auch noch einmal was zu ändern, und man trifft den Nerv.

Ein Hoch auf die Intuition.

Tom

Gast

Beitragvon Gast » 07.09.2006, 03:09

Thomas Milser hat geschrieben:thomas milser
30/VII/2004


ziel: schmerz


fast unerträglich
dich schon so bald
ganz nah bei mir zu wissen

vier stunden fahrt nur
über flaches land
und seichte see

und doch eine unendlich lange reise
weil das ziel
der schmerz ist


dieser text (hoch lebe die Intuition ;-)) hat es auch mir angetan. Einzig die letzte Strophe schwächelt i.m.h.o. ...

ich hoffe, ich nehme mir nicht zu viel heraus, wenn ich sage, dass ich sie mir so

vorstellen könnte:

und doch eine
unendlich lange reise
der schmerz als ziel



mir will sich hier immer im das Englische aufdrängen: Destination: Pain...


lG

Bea

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 07.09.2006, 11:15

Hi Bea. Schön, dass es dir gefällt.

Ja, das Englische drängt sich oft auf, weil viele Wendungen geschmeidiger daherkommen. Ins Deutsche übertragen stehen die Anglizismen jedoch dann oft armseelig da. Ich mag das generell nicht. Und leider kann ich mich nicht für deinen Änderungsvorschlag erwärmen. Es gewinnt dadurch m.E. nichts.

Was bedeutet denn i.m.h.o.?

Tom
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)


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