ohne titel (angriff)

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carl
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Beitragvon carl » 13.11.2006, 10:16

kahle pappeln brennen
zwischen schlagschatten
deckungslos
und waagrecht schießt
unter öligen qualm
die sonne.

dann steigt sie über die wolken
und alles wird hier wieder
friedlich und grau.
Zuletzt geändert von carl am 24.11.2006, 09:13, insgesamt 1-mal geändert.

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 13.11.2006, 10:54

Hallo Carl,

das klingt wirklich hart und unbarmherzig. Ein Herbstbild, das weh tut. Dabei wäre es doch erst recht schön, wenn die Sonne den Nebel zerreißt und es wieder heller wird. Die Helligkeit schmerzt in deinen zeilen und dann spürt man noch etwas an misstönigem, den öligen Qualm, die Abgase wohl der Industrie.
Keine Herbstidylle sondern beißende Realität.

Kann es sein, dass es "unter öligem Qualm" heißen muss?

Angelika
"Ach, wissen Sie, in meinem Alter wird man bescheiden - man begnügt sich mit einem guten Anfang und macht dem Ende einen kurzen Prozess." AST

Gast

Beitragvon Gast » 13.11.2006, 14:36

Lieber Carl,

Dein Gedicht beeindruckt mich sehr.
Gründe hierfür gibt es reichlich. (später mehr)
Ich sehe hier kein Herbstbild, sondern einen grausamen Brand, real sowie auch metaphorisch und in der Nähe der sog. Reichskristallnacht.
Ich verstehe unter öligen Qualm - sowie es da steht.
(Die Strahlen schießen unter den öligen Qualm).
Das war jetzt ganz kurz nur, später ausführlich.
Jedefalls treffen deine Bilder meine Gedanken unabhängig von jedweder Jahreszeit.

Liebe Grüße
Gerda

14:59, der Text verfolgt mich... wie schrecklich muss dieser Brand sein, wenn grau = friedlich ist...

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tulpenrot
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Beitragvon tulpenrot » 13.11.2006, 15:43

Na klar, jetzt macht es Sinn. Danke Gerda
"Ach, wissen Sie, in meinem Alter wird man bescheiden - man begnügt sich mit einem guten Anfang und macht dem Ende einen kurzen Prozess." AST

Sabine

Beitragvon Sabine » 13.11.2006, 19:27

Hallo Carl,

für mein Empfinden lesen sich deine Zeilen wie ein Kriegszenario. Nach dem "Angriff" ( so ja auch dein Titel) bleibt ein Bild der Zerstörung, welches durch die Sonnenstrahlen noch grausamer wirkt und seinen Frieden erst in Grau gebettet, findet. So habe ich es verstanden.
Ein Gedicht, welches, durch das beschriebene Bild, unter die Haut geht.

LG Sabine

Hakuin

Beitragvon Hakuin » 14.11.2006, 19:41

he carl,

...
ok, sobald die sonne ihren stand verändert hat,
wird auch das bild ein anderes... so weit so gut!

das licht vermag in der waagerechten anderes,
als später, später dringt wenig/kein direktes sonnenlicht
hindurch....

hat was von INDUSTRIEGEBIET am morgen und später....

salve
hakuin

Gast

Beitragvon Gast » 14.11.2006, 21:03

Lieber Carl,

wären die Pappeln nicht, hätte ich gedacht, das Waldbrände im Süden, z. B. auf Korsika gemeint seien, aber da ist ja auch der Titel, der anderes impliziert.
Der Golfkrieg fiel mir als Nächstes ein.

Dann habe ich mich gefragt, ob es wesentlich ist für diesen Text ist, und die Wirkung, die er entfaltet, überhaupt einen real existierenden Ort zu finden.
Ich glaube nicht.
Der Titel impliziert, dass etwas diesem Brand vorausgegangen sein muss ."angriff", muss nicht zwangsläufig "Krieg" heißen.

carl hat geschrieben:kahle pappeln brennen
zwischen schlagschatten
deckungslos


Bedrückend das Bild der kahlen (nackten) Pappeln, die erbärmlich aussehen und völlig schutzlos sind.

carl hat geschrieben:und waagrecht schießt
unter öligen qualm
die sonne.


Er hat etwas Dämonisches dieser ölige Qualm und die Strahlen der Sonne, die darunter schießen
Völlig unkalkulierbar erscheint mir das Geschilderte, so als gäbe es nichts, was den Hergang stoppen könne. Eine Ungeheuerlichkeit

carl hat geschrieben:dann steigt sie über die wolken


Hier passiert etwas, das mich zunächst fragen lässt, wieso steigt jetzt die Sonne? Möglicherweise ein Hinweis auf die Tageszeit.
Aber wesentlich, ist für mich nicht, ob alles genau zu einander passt und logisch ist.
Für mich ist mit dem
carl hat geschrieben:und alles wird hier wieder
friedlich und grau.


zwar Ruhe eingekehrt, aber auch eine neue Art der Bedrückung entstanden.
Durch diese Art der Beklemmung habe ich kaum mehr Spielraum für Interpretationen.


Liebe Grüße
Gerda

aram
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Beitragvon aram » 17.11.2006, 08:20

hallo carl

diesen text finde ich klasse.

morgenstimmung ganz direkt beschrieben, starke sprache, metaphorische ebenen sind frei wählbar.

das ende ist gerade in diesem sinn herrlich.

merci
aram
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

carl
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Beitragvon carl » 17.11.2006, 10:05

Hallo zusammen,

dank für eure Kommentare! Ich bin schon verblüfft über die Spannbreite...
Anlass war ein Sonnenaufgang und der Wechsel der Landschaft unter dem Beleuchtungswinkel, also kein reales Geschehen... Der Titel ist da wohl irreführend (hatte das Gedicht in "Krautgarten" "troianische verse" genannt, scheint mir aber etwas bombastisch), obwohl die 1. Strophe bewusst mit der Fantasie des Lesers spielt.

Liebe Grüße, Carl

Max

Beitragvon Max » 17.11.2006, 15:17

Lieber Carl,

nun, da ich sogar den Luxus Deiner Erklärung habe, gefällt mir das Gedicht doppelt, denn es bleib nicht mehr die Ungewissheit, was denn in den ersten Zeilen beschrieben wird.

Die Bilder sind sehr stark und besonders den Übergang von Strophe 1 auf 2 mit dem starken Kontrast finde ich sehr gelungen.

Sehr gerne gelesen
Liebe Grüße
max

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leonie
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Beitragvon leonie » 17.11.2006, 16:14

Lieber carl,

das habe ich schon oft sehr fasziniert gelesen!

Liebe Grüße

leonie

Gast

Beitragvon Gast » 24.11.2006, 01:49

Lieber Carl,

gerade schaue ich hier vorbei, deine Antwort habe ich offenbar verpasst .
Verwundert bin ich, dass ich derart daneben liege... mit meiner Interpretation...
Spiegelt das "friedlich grau" wirklich nur den "normalen" faden Alltag des Lyrich?
Bezieht sich der Titel darauf, dass die Sonne "angreift", den Alltag zu sehr erhellt???

Bin einigermaßen verwirrt.

Liebe Grüße
Gerda

carl
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Beitragvon carl » 24.11.2006, 09:12

Liebe Gerda,

ein Merkmal der Lyrik ist, dass sie über jede Intention (auch des Autors) hinausreicht...
Wenn der Leser Bilder aus der Zeitgeschichte/ dem Fernsehen assoziiert (ich habe während meiner Klosterzeit nie ferngesehen), dann ist das nicht in vollem Umfang beabsichtigt. Allerdings war es für mich ein Spiel mit derm Gedanken, dass einem Normalität ziemlich grau erscheint und man sie erst zu schätzen lernt, wenn sie abhanden kommt:
"Mögest Du in intressanten Zeiten leben" soll ja eine chassidische Verwünschung sein...

Ich habe aber den Titel geändert.

Liebe Grüße, Carl


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