Vergangenheitsbewältigung

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carl
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Beitragvon carl » 17.11.2006, 10:18

Vergangenheitsbewältigung

Der Sedanplatz in Wolfeshagen
steht keineswegs voll Volkeswagen
der liegt in'm Buchenwald
ist 100 Jahre alt - und mehr.

Dort stehn die Guten Deutschen Eichen
und woll'n partout nicht Buchen weichen!
Sie stehn wie eh und je
noch immer im Karree - Habt acht!

So viel ha'm se nicht mitgekriegt
(dafür sind sie auch unbesiegt!)
in 130 Jahren
weil sie so abseits waren: nicht schlecht.

Na, ja, es gibt schon 'n paar Leichen
und auch die Schösslinge, die weichen
ganz schön vom alten Maß
doch was bedeutet das? Nicht viel...

Doch wer'n sie nochma 100 alt
sind se vielleicht schon Laubmischwald
wenn nicht der saure Regen
etzetera dagegen - vielleicht.

Inzwischen blühn im Zwischenraum
auch Buschwindröschen, Wiesenschaum-
(und wer genau hinschaut:)
Scharbocks- und Sauerkraut; nee: -klee

Und die Moral von der Geschicht?
Echt keine Ahnung, ehrlich nicht!
Moment, da fällt mir ein
gegen den Krieg zu sein: Hurra!

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 21.11.2006, 14:17

Lieber carl,

hast du den Text gepostet aufgrund der Assoziationen, die zu "angriff" kamen?

was mir als erstes einfällt ist das anhand von Natur die Zeit erzählt wird. Für mich verweist das stark auf eine bestimmte Form von Naturlyrik, die nach dem Nationalsozialismus/zweitem Weltkrieg aufkam und behauptete, durch die Zeit heile alles auf natürliche Weise wie auch auf der Fläche eines gerodeten Waldes oder nach einem Winter wieder alles grünt - von alleine und aufs Natürlichste - natürlich (...).
Ich hab der Literatur erst im Zusammenhang mit der Bachmann gehört, als es um den Kontrast zu diesen Autoren ging, leider weiß ich den genauen Namen nicht mehr, naja, die Texte waren es auch nicht wert.
Jedenfalls erhebt sich hier der Text mithilfe der Ironie/der Härte/Giftigkeit gegen eine solche Sicht. Im Gegenteil: Die Bäume werden zu dem, was Schlagwort war: Nichts mitgekriegt, am rande, abgewandt. Ihr Behaupten und doch immer noch da sein wird zur empfundenen Penetranz. (gibt es da einen bezug konkret? werden da extra andere bäume gepflanzt?nein ..oder? :icon_redface2: ). Die Bäume wirken ekelerregend in ihrer Lebendigkeit/beharrlichkeit/dauer in einer Zeit, die doch längst bewältigt hat, was war. Die Bäumen werden bleiben (wenn nicht der saure regen kommt, der ihnen eins auf den deckel gibt, wie eben alles irgendwann (vielleicht) etwas auf den deckel kriegt. Geschickt wie der text durch diesen Bezug bis ins Heute hineinreicht und so ein zweites Thema, bezüglich dem ebensowenig, obwohl der Schaden und die Konsequenzen bekannt sind, getan wird).

Die Sprache ist voller Anspielung, mischt sich zu einer Art Kindertrotzsprache voller deutscher Requisiten, die wie unabhinderlich in Form von Wortspielen in die Sprache des Ichs brechen, wie ein Schluckauf, wenn einer zuviel gegessen hat, unappetitlich, derb.

So wirkt das Ende dann auch jedes Maß vergessend, obwohl genau diese Aussage jeden Tag passiert: Alle sind "irgendwie" gegen Krieg, ja klar, denn dagegen ist ja jeder). nur was das heißt, ist natürlich willkürlich. Von der Vergangeheitsbewältigung bleibt nichts übrig außer einer hohlen Aussage und der (grenzenüberschreitenden) Freude daran.
So verstehe ich den Text, zumindest als erste Annäherung.

sprachlich: warum das partout kursiv steht, versteh ich nicht. Erkenne den Bezug nicht, aber es gibt sicher einen :-)

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 22.11.2006, 14:07

Lieber Carl,

Dein Text heißt Vergangenheitsbewältigung und zwischen den Zeilen klingt das auch immer wieder durch. Konkret aber scheint er mir gerade vom Gegenteil von Vergangenheitsbvewältigung zu handeln (was auch immer das sein mag), nämlich vom (n) (der Möglichkeit des) Ignorien(s) von Vergangenheit. Dies wird inhaltich auch verständlich, auch wenn das Gedicht gerade nicht um Verständnis dafür wirbt, denn Vergangenheit bewältigen kann nur, wer auch eine Vergangenheit hat. Dieses Dorf - ist e überhaupt ein Dorf - was Du beschreibst ist einfach abseits der Weltgeschichte und hat auch daher nicht viel gelernt, außer, dass Krieg schlecht ist.

Auffällig an dem gedicht finde ich auf der sprachlichen Ebene zweierlei: zum einen, dass es in einer Art Brandenbrugisch (naja, vielleicher Berliner Dialekt, aber das würde ja kaum zum Inhalt passen) geschrieben ist, also in einem Ton der Selbsüberzeugtheit, der anderen Meinunge keinen Raum gibt, weil sie gar nicht ernsthaft innerhalb des eigenen Horizonts in Betracht kommen. Andererseits gefällt mir, wie geschickt du es verstehst Verweise auf die (jüngere) deutsche Geschichte in dem Gedicht zu platzieren. Es mag absurd klingen, aber dadurch ist mir zum Beispiel zum ersten Mal wirklich aufgefallen, dass Buchenwald ja einen Wald aus Buchen bezeichnet und nicht nur den Ort für ein KZ (schön auch, dass der bei Dir gerade von den deutschen Bäumen, den Eichen, in Beschlag genommen wurde). Schön auch schließlich, wie Du zur Einleitung der Schlussstrophe die Doppelbedeutung des Wortes Geschicht8e) verwendest.

Ich finde, dies ist ein Gedicht, dass man nicht umsonst bekommt, ein Text in den man Arbeit stecken muss - der die Arbeit aber allemal lohnt.

Liebe Grüße
max

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 22.11.2006, 21:03

Hallo Carl

Dieses Gedicht finde ich sehr interessant, aber ich weiß nicht, ob es sich mir ganz erschließt. Einige Aussagen sind mir so wie sie da stehen, unklar. Warum sind die Eichen 130 Jahre alt? Warum gerade diese Zahl? Geht Deine Theorie von den Zeiten Bismarcks als Ursprung aus?
Mich spricht die Beschreibung der Buchen und Eichen an. Die Buchen interpretiere ich als die unzähligen Opfer des Nationalsozialismus, die deutschen Eichen als die Menschen, deren Vergangenheitsbewältigung sich auf ein „Wir haben von nichts gewusst“ oder „Man darf doch auch mal wieder stolz auf sein Land/seine Geschichte sein.“ reduziert. Sehr schön, wie die Buschwindröschen, Wiesenschaum, für mich Andersaussehende, Andersdenkende, Andersglaubende, Andersfühlende sich ihren Platz zwischen der Eichenmonokultur schaffen. Das ist sehr passend gewählt und ist als Bild sehr gelungen.

Bei der letzten Strophe habe ich Probleme. Kennst Du die politische Bewegung der Antideutschen? Sie haben pazifistische Demos gegen den Irakkrieg kritisiert mit dem Vorwurf die dortige Haltung wäre von Antisemitismus geprägt. Die Aussage der Strophe könnte eins zu eins aus dieser Richtung kommen. Oder meinst Du die NPD/Freien Kameradschaftsdemos gegen den Irakkrieg?

Schönen Abend

Jürgen

carl
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Beitragvon carl » 23.11.2006, 11:51

Hallo,

Dank für eure vielschichtigen Kommentare!
Ich bin bloß arg unter Zeitruck, deshalb nur soviel:
Gebt mal "Sedan" als Suchwort ins "Örtliche" ein.
Ich wohne in der Nähe der Sedanallee in HI, kenne eine Sedanstr. aus München und ein Cafe "Sedan" aus Berlin... Ich sag nur soviel:
1871 (ca.): Schlacht bei Sedan!
Da haben wir unsern Erzfeind (die Froschfresser) vernichtend geschlagen! Hurra!!
Ich glaube das erklärt schon eineiges, zumindest die 130 Jahre und das partout...
Zum Hintergrund: Ich bin bei meinen Harzwanderungen auf den Sedanplatz bei Wolfshagen gestoßen. Mitten im Buchenwald ein Karree Eichen (quadratisch gepflanzt in Reih und Glied).
Alle neueren Zeitbezüge sind zwar beabsichtigt, aber im mehrfachen Wortsinn "Nebeneffekte"...

LG, Carl

Gast

Beitragvon Gast » 24.11.2006, 02:18

Ein sehr eigenwilliger Text lieber Carl,
und ein sehr eigener (persönlicher) scheint mir, noch dazu.
Wer geht schon bei der Vergangenheitsbewältigung bis zu Schlacht von Sédan zurück, wenn er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren ist?
Mir fällt beim Wort Sédan sofort diese "historische Großtat" ein, weil mein Großvater davon erzählte und er hatte es ja wohl von seinem Vater.
Welcher Intention du bei diesem Gedicht gefolgt bist wird mir nicht wirklich klar.
Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es aus einer echten allgemeinen Wut gegen Krieg überhaupt entstanden ist.
Rückblickend könnte man auch meinen: 130 Jahre vergangen und weiterhin wird in Kriegen gerungen und gemordet.
Ich lese auch, dass diese besondere Formation dieser Eichen im Harz, eigentlich wohl eher eine Art Denkmal, dich darauf gestoßen hat, und du deinen Zorn in einen trotzigen aber auch ein wenig resignierenden Text hast einfliessen lassen.

Liebe Grüße
Gerda
- in der Hoffnung nicht schon wieder daneben zu liegen ;-)

Max

Beitragvon Max » 25.11.2006, 18:07

Lieber Carl,

herzlichen Dank, Deine kommentare erhellen mir das Gedicht weiter.

Liebe Grüße
max

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noel
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Beitragvon noel » 26.11.2006, 06:57

der klingt & singt
& doch ist er zackig & zeitlos
& doch gebunden in das karree
aus glut & boden

gerne
sehr gerne gehört
Zuletzt geändert von noel am 29.11.2006, 15:53, insgesamt 1-mal geändert.
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

carl
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Beitragvon carl » 29.11.2006, 09:57

Ich dank Dir, Noel, und nochmal euch andern Kommentatoren:
Durch euch ist mir wie an kaum einem andern Gedicht klargeworden, dass ich zu einer andern Generation gehöre... z.B. selbstverständlich mit Busch und Morgenstern, aber auch Biermann aufgewachsen...
Ich habe sogar ein paar "Palmström"-Gedichte verfasst: aber was soll das, wenn keiner Palmström kennt?

Liebe Grüße, Carl


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