Morgenland

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.11.2006, 20:07

Annuelles Morgen

Dekaden zirpen
zwischen den Halmen der Zeit

Annuelle im blauen Kleid
kniet sie zu fangen
biegt Aster, Korn und Bärenklau

Nesseln brennen ihr die Hand
Bienen surren, Dolden streifen ihr Gesicht
Falter machen große Augen

Den fetten Boden unter sich
die Augen im Himmel
streckt sie sich spät ins Gras

Der Wunsch liegt brach

*Hummeln zu Bienen dank Annette
Titel von Morgenland in Annuelles Morgen dank Peter (vorerst)
Zuletzt geändert von Lisa am 28.11.2006, 19:41, insgesamt 1-mal geändert.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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annette
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Beitragvon annette » 25.11.2006, 20:50

Liebe Lisa,
eigentlich wollte ich mich zuerst vorstellen, aber bei Deinem Text kann ich nicht widerstehen.

Ich finde es sehr eindrücklich, wie Du die beiden semantischen Felder von Zeit und von Sommerwiese miteinander verwebst. Szenario ist der Morgen Land - oder das Morgenland, wo sich die Ereignisse jährlich wiederholen. Zwar ist das Jahr in Gestalt von Annuelle die Protagonistin, trotzdem wird in diesem Kreislauf die Zeit in gewisser Weise wieder gegenstandslos: Gleichzeitig blühen Sommer- und Herbstblumen, und auch im Morgenland wird es irgendwann spät.

Auch sonst macht Annuelle keine Unterscheidungen: Sie biegt Blume, Getreide und giftiges Kraut unterschiedslos.

Besonders schön finde ich, wie am Ende durch das Gegensatzpaar "fetter Boden" - "brachliegen" die reiche Natur den Wunsch besiegt.

Eine Kleinigkeit: Surren ist mir zu mechanisch für das Geräusch von Hummeln, ich würde es eher als Brummen beschreiben.

Sehr schöner Text, starke Bilder.

Es grüßt annette

Gast

Beitragvon Gast » 26.11.2006, 02:42

Liebe lisa,

tolle Bilder, die mir, zunächst auch schon bei flüchtiger Betrachtung, eine Menge sagen.

Morgenland als Titel und "Annuelle" als Name?
Nein, ich denke mehr als nur einen Namen, eine Person, die all dies tun könnte, was in deinem Text geschieht, meinst du die Zeit, die alles zugleich möglich macht, und dennoch der Wunsch, auf fettem Boden keine Wurzeln schlagen kann, weil die Zeit nicht genutzt wird.
Es wird hier und da (ein wenig gesät, geerntet, vielleicht in Gedanken) gepflückt..., alles Mögliche und Unmögliche gleichzeitig, nur nichts Gescheites...
Ich denke auch in eine fernöstliche Politische Dimension hinein...

Schon der Anfang! Wie sehr ist man geneigt Zikaden zu lesen und es heißt: Dekaden

Ein Gedicht, was mich mitnimmt in den bildern bis zur "verborgenen" Tiefe, die mich traurig werden lässt.
Die Hummeln sind schon angemäkelt. ;-)

Liebe Grüße
Gerda

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noel
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Beitragvon noel » 26.11.2006, 07:08

*whow

dekaden zirpen
welch einstieg
da doch gerade dieser zeitraffer
so verführerisch wäre zu zikaden alliteriert zu werden :O)
du spielst mit semantik & klang CHAPEAU

am ende die herbstliche satte stimmung eines tiefbraunen, feuchtsatten bodens
auf dem sie liegt, so brach, wie der wunsch, das land & sie
verklärter text, der dennoch, durch seine sinnliche mittBilder
nichts trübes, sondern etwas existenzielles mir gibt


noel
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

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annette
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Beitragvon annette » 26.11.2006, 12:55

Gerda Jäger hat geschrieben:Ich denke auch in eine fernöstliche Politische Dimension hinein...


Trotz der Assoziation an so prominenter Stelle spielt der ferne Osten in meiner Lektüre des Textes keine Rolle. Ich denke bei Morgenland eher an "Land des Morgens" oder "von morgen". Die andere Lesart bleibt bei mir deshalb im Hintergrund, da ich keine weiteren Hinweise im Text auf diese Bedeutung finde. Flora und Fauna wirken auf mich sehr heimisch. Hab ich da was übersehen?

annette

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 26.11.2006, 13:09

Liebe annette,
ach, das ist aber schön, dass ich dich hier verführen konnte :-). Nach deinen Worten bin ich schon sehr gespannt auf deine Vorstellung, denn sie haben mir sehr gefallen. Besonders schön find ich, dass du das hier entdeckt hast:

Auch sonst macht Annuelle keine Unterscheidungen: Sie biegt Blume, Getreide und giftiges Kraut unterschiedslos

(und auch dass sie zu unterschiedlicher Zeit blühen, ja, genau so hatte ich das vorbereitet...schön...)

Wie schön auch, dass die Zikaden (mein heimlicher Schatz) entdeckt wurden...da war ich mir gar nicht sicher, aber es scheint zu funktionieren...wie schön! danke für deine nahe und für mich intensive Lesart des Textes.

Liebe Gerda,
mir gefällt, dass du Annuelle nicht nur als (aber auch von mir so gedacht, ein bisschen von beidem) Person, sondern auch als Prinzip/Personifizierung liest...daher ja auch ihr Name (Annuelle = jährlich)...ja...wie schon, dass sich das so lesen lässt!

Mit politischen Bezügen, jedenfalls mit gewollten, kann ich leider wieder nicht dienen, Gerda, ich bin zu einfach gestrickt und verheddere mich immer noch in mir selbst. :-). /Aber eines Tages! ;-)).

Liebe noel, ja Semantik und Klang zu vermischen, das gefällt mir zur Zeit und auch wie du mein verklärt beschreibst, ist schön: Ein wenig mit aber gemischt (zurecht!), aber im Ganzen doch mit offenen Augen geträumt.

Und an alle: Das mit dem Surren und den Hummel habe ich schon befürchtet, ich habe es trotzdem erst mal ausprobieren wollen. Ich könnte es mir natürlich leicht machen und anstatt Hummeln Honigbienen nehmen, in meiner Vorstellung sind es aber eher Hummeln, daher mag ich mich auf Wortsuche begeben. Gibt es außer Brumme(l)n noch etwas Besseres? Summen?

Das Zweite, was für mich noch fragwürdig ist, ist der Rhythmus, ich denke, an einigen Stellen (strophe2/3) könnte man ihn (eventuell durch Umstellung?) noch besser machen?

Ich danke euch,
Liebe Grüße,
Lisa
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Beitragvon Lisa » 26.11.2006, 13:11

Achso, durch das Morgenland kommt die Assoziation: Ich meine mit Morgenland zum einen das Spiel mit der Ackereinheit (oder wie man das sagt) "so und so viel Morgen Land" und zum andern, das zeitliche Morgen: Der Wunsch bleibt trotz des fetten Bodens von Annuelle ins Morgen vertagt....
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leonie
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Beitragvon leonie » 26.11.2006, 15:30

Liebe Lisa,

das ist stark wie Du dis zeitliche Dimension in den Acker verwebst. "Surren" stört mich gar nicht, es hat so was drängendes, nichts sanftes und das finde ich sehr gut hier.

Liebe Grüße
leonie

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annette
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Beitragvon annette » 26.11.2006, 16:04

Lisa hat geschrieben:Das Zweite, was für mich noch fragwürdig ist, ist der Rhythmus, ich denke, an einigen Stellen (strophe2/3) könnte man ihn (eventuell durch Umstellung?) noch besser machen?

Da ist keine Stelle, über die ich stolpern würde. Die meisten Verse sind alternierend, dadurch gleichmäßig und ruhig. Fünf Verse (2,3 und 4 sowie 10 und 11) haben Daktylen, beschleunigen das Tempo also. Bis auf Zeile zwei sind diese schnelleren Zeilen diejenigen, in denen Annuelle handelt und gewissermaßen in das Idyll der Sommerwiese einbricht. Das finde ich sehr stimmig mit dem Inhalt.
Vielleicht könntest Du den Auftritt Annuelles noch etwas hinauszögern, indem Du die Verse 3 und 4 folgendermaßen umstellst:

Im blauen Kleid
kniet Annuelle sie zu fangen

Vers 3 würde so das Geschehen etwas verlangsamen, dafür kämen in Vers 4 gleich zwei Daktylen - der schnellere Rhythmus entspräche der Vorstellung von einem Mädchen, das Zi- pardon, Dekaden fängt.

Sonst gefällt mir der Text auch rhythmisch sehr.

Eine Frage: Warum trägt sie blau? Sehnsucht?

Gruß, Annette

scarlett

Beitragvon scarlett » 27.11.2006, 20:27

Liebe Lisa,

das ist ein sehr beeindruckendes Gedicht. Es kommt mir so leicht daher, fast schon märchenhaft, feenhaft, was sicherlich auch mit dem "Namen" Annuelle zu tun hat und offenbart erst am Schluß seinen "hammermäßigen", tiefsinnig traurigen Sinn. So zumindest lese ich das -

Wenn ich davon ausgehe, daß Dekaden Zeitabstände sind und zwar zu je einer 10er-Einheit, so ist damit auch die Verbindung zu "einer Menge x MOrgen Land" recht eindeutig - es geht dir wohl um das in bestimmten Abständen immer Wiederkehrende. Annuelle möchte etwas einfangen - ich lasse jetzt mal die Zikaden außen vor - die Zeitabstände??? Ein wenig irritiert mich das schon...
Lese ich hingegen die Zikaden, dann ist ja alles klar - das Flüchtige, das Außergewöhnliche, das Rastlose...

Ich habe aber das Empfinden, daß ich dieses Gedicht besser wohl nur vom Gefühl her auch weiterhin lesen sollte, es ist einfach schön - und da Annuelle jährlich versucht, ihren Wunsch erfüllt zu bekommen, ist auch klar, daß sie blau tragen muß...

Ich finde keine Stelle, die mir holprig erschiene...

Sehr gerne gelesen,

Grüße

scarlett

Peter

Beitragvon Peter » 27.11.2006, 21:16

Hallo Lisa,

da hier vom Stolpern geredet wird - Also ich - stolpre schon, weil - ich finde das Gedicht zu kurz! Lese ich das Gedicht, kommt mir ein erzählender Ton entgegen, ich lasse mich auf ihn ein wie auf einen Prolog - aber da ist er plötzlich zu Ende, schon ist Epilog, und warum (das Mädchen) jetzt daliegt, habe ich nicht mitbekommen.

Daher mein Stolpern. Ich denke dein Gedicht könnte noch vieles sein, und sehe es auch als so angelegt, der Grundton ist doch erzählend; oder ist der Bruch gewollt, und ich begreife nur nicht? Oder ist überhaupt kein Bruch?

Ich denke, Annuelle könnte noch viele Gedicht-Zeiten auf jenem Feld verbringen; müsste sie sogar.

Bei"Morgenland" dachte ich selbst zuerst an Hesse, an die "Morgenlandfahrt", und man könnte vieles denken. Ohne dein Gedicht mindern zu wollen: aber "Morgenland" als Titel finde ich selbst sehr groß, fast zu groß. Verstehst du? Einen solchen Titel muss man erstmal wieder einfangen. Er kommt mir vor wie ein großer Ballon, der von allen Seiten aufgeblasen wird, und es fällt schwer, ihn "nur" auf deiner Wiese zu behalten. - Aber wie das Gedicht anders betiteln?

Vielleicht irgendwie konzentrierter...

Liebe Grüße,
Peter

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.11.2006, 19:01

Hallo ihr,
danke!

annette: ja, *hust*, blau ist genau auf diese einfache Weise zu lesen (ich verwende das immer wieder gern). Deinen Vorschlag für die Umstellung finde ich nicht schlecht, lasse aber meinen erst mal, da er mir einen Tick besser gefällt, so wie er ist. Wenn die folgenden Zeilen für dich rhythmisch gelungen sind , dann ist das schon mal wichtig, danke!!

Liebe scarlett,
doch, du hast das schon ganz richtig angeschnitten. Natürlich ist es ein bisschen irritierend, aber das soll es auch. Sie versucht die Dekaden zu fangen, aber es gelingt ihr nicht..Dekaden vergehen, ohne dass etwas passiert, ohne dass sie sie nutzt/nutzen kann.


Liebe leonie,
danke! Wenn dir das Surren gefällt (mir auch in deiner Beschreibung!) sollte ich vielleicht doch die Bienen nehmen? ich ändere das jetzt mal vorläufig....

Lieber Peter,

leider weiß ich sehr gut, was du meinst. Das Gedicht ist auch ein bisschen entstanden, weil ich derzeit soviel an prosa arbeite, ich aber gerne mal wieder eins "machen" wollte, da kommt natürlich etwas nicht vollständiges bei raus...ich glaube, du hast das sehr genau herasugelesen(empfunden).

Auch mit dem Titel hast du recht, mir war er auch nicht ganz lieb, weil er so viel assoziiert, was gar nicht gemeint ist. Ich würde es gerne umbenennen, gäbe es eine Alternative, die auch den Hinweis auf "Kommendes" als Welt des Wunsches gibt...vielleicht kann jemand helfen?

Ich danke euch!

Liebe Grüße,
Lisa
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Peter

Beitragvon Peter » 28.11.2006, 19:17

Vielleicht könnte man einfach einen Bindestrich setzen: Morgen-Land.

oder?

schwierig.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.11.2006, 19:24

Oder nur Morgen? Mein Morgen? ohje...
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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