Gesetz der Verzweiflung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
woitek

Beitragvon woitek » 14.12.2006, 14:09

          Gesetz der Verzweiflung

          Stunden um Stunden knirscht krächzend der Kahn,
          auf der Fahrt durch die nebligen Moore,
          von Tümpel zu Tümpel zieht der Bug seine Bahn,
          leis jammert die Besatzung im Chore.

          Die Schemen der Ahnen, die das Mondlicht erzeugt,
          blicken traurig und still das Geschehen,
          sie begleiten das Boot bis ein Schatten sie beugt
          und Winde die Geister verwehen.

          Die Reise, sie endet mit sachtem Gesang,
          am Platz bei den knorrigen Linden,
          wo sicher schon tausende jahrelang,
          letzte Ruhe die Toten finden.

          Das Volk war in Not und der Rat meint, es sei
          der Verzicht und der Darb viel gelinder,
          gehen wir diesen Schritt und unter lautem Geschrei
          versinken die Alten und Kinder.

Max

Beitragvon Max » 16.12.2006, 17:40

Lieber Woitek,

das zentrale Bild dieses Gedichts stellt sich (leider) erst in der letzten Strophe ein: eine Gesellschaft, die ihre Alten und Kinder abschiebt, um dadurch selbst besser überleben zu können (wenn ich das so richtig verstehe). Hier wird dann auch klar, wieso Di das Gedicht bei Lyrik und Kultur eingestellt hast - was ich mir beim ersten Lesen drei Strophen lang gefragt habe.

Es ist für mich nicht deutlich, ob die von Dir gewählte sehr klassische Form (die mich ein wenig an die Schillerschen Balladen erinnert) dem Inhalt, wenn ich ihn richtig verstehe, gerecht wird. Der Stil macht den Inhalt ffür mich schwerer verständlich und rückt ihn zudem in ferne Zeiten oder gar ins Irreale - doch genau so würde man das ja nicht verstanden wissen wollen, oder?
Zudem muss sich das Gedicht bzw. der Autor an zumindest einer Stelle schon ganz schön anstrengen, um den Reim einzuhalten - was ihm aber bravourös gelingt. Ich meine diese Stelle

Das Volk war in Not und der Rat meint, es sei
der Verzicht und der Darb viel gelinder,



Kleiner Schönheitsfehler am Rande: In Strophe 3, Zeile 3 meinst Du sicher

tausende Jahre lang

statt "tausende jahrelang".

Liebe Grüße
max

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annette
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Beitragvon annette » 16.12.2006, 20:27

Hallo Woitek,

ich finde es gar nicht schlecht, dass Du den Schlüssel zum beschriebenen Geschehen erst zum Schluss lieferst, die Spannung erhält sich so bis zum Ende.
Allerdings frage ich mich, ob der Text einen historischen Hintergrund hat. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass ein Volk seine Kinder tötet, denn Kinder sind in allen mir bekannten Kulturen gleichbedeutend mit Überleben für eine Gesellschaft. Es müsste eine ganz außergewöhnliche Notsituation ohne Aussicht auf Hoffnung vorliegen (aber das legt Dein Titel ja auch nah). Daher und durch die Form (wie Max auch kommentiert) mutet der Text für mich fiktiv, fast Fantasy-artig an. Verrätst Du, was der Geschichte zugrunde liegt?

Oder soll der Text eine Metapher sein für unseren eigenen Umgang mit Alten und Kindern? Dafür fände ich die Schilderung zu balladesk.

Bin gespannt. Gruß, annette

Max

Beitragvon Max » 17.12.2006, 14:48

Liebe Annette,

meine Lesart war die zweite, daher meine Kritik.

Liebe Grüße
Max

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noel
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Registriert: 04.08.2006

Beitragvon noel » 17.12.2006, 16:46

ich mag das absurde szenario
das in dieser gegossenen form einhergeht
es ist absurd wenn man
seine zukunft & vergangenheit
hergibt & meint damit zu bleiben
denn die ewige wiederkehr
die der kahn, die ahnen andeuten
wird beraubt durch die angst
der jetztzeitigen

hedonistisch mut
ist selten
_gut
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