Vorstellung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 22.08.2007, 15:18

vorstellung


wenn ich dir meine träume zeigte
als film im kino
bliebest du sitzen
bis der abspann käme um zu sehen
ob dein name dort erscheint

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 22.08.2007, 16:38

Hallo Sam,

spontan dachte ich: Ja, das gefällt mir.
Doch dann frage ich mich, ob man sich nicht erkennen würde in den Träumen, oder ob man darin keine "Rolle" spielt, wenn man es erst im Abspann erkennen kann. Ob man vielleicht gar aus einer (der einzigen) Szene herausgeschnitten wurde, weil sie nicht wichtig oder gut genug war.
Oder welche Funktion man sonst bei der "Erstellung des Filmes" übernommen hat. Als was will man sich sehen, im Abspann.

Interessantes Gedankenspiel, das dein Gedicht bei mir hervorruft.

edit: ein anderer Gedanke ist natürlich auch der, ob das Einzige, was das Du interessiert nicht das Ich und seine Träume sind, sondern das Interesse nur dem Eigenen gilt, der eigenen Rolle.

liebe Grüße smile
Zuletzt geändert von Ylvi am 22.08.2007, 18:49, insgesamt 1-mal geändert.

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annette
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Beitragvon annette » 22.08.2007, 18:01

Hallo Sam,

als ich die Zeilen las, musste ich unwillkürlich "You're so vain" vor mich hin summen. Mir scheint der Ton in beiden Texten ganz ähnlich zu sein, in dem die gockelhafte Ich-Zentriertheit des Gegenüber verspottet wird.

Gefällt mir!
Gruß - annette

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 22.08.2007, 18:14

Hallo Annette,

der Gedanke kam mir auch, allerings fehlt mir, um rein zu dieser negativen Auslegung zu kommen, ein "nur". Und mir gefällt sehr, dass sich da in meinen Augen auch eine ganz andere Persönlichkeit hinter dem Du verbergen könnte.

liebe Grüße smile

edit: und hinter dem Ich.

Eigentlich fallen mir immer mehr Möglichkeiten ein. Das ist fein.

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 22.08.2007, 19:57

Hallo zusammen,

dies ist jetzt wieder ein Moment in diesem Forum, in dem ich fast verzweifel, wenn ich die bisherigen Kommentare zu dem Text von Sam lese. Vielleicht sollte ich das mal sein lassen. *seufz* Das Kommentare lesen, bevor ich was dazu schreibe.

Ich finde den Text ganz stark.

Allerdings lese ich darin offenbar was völlig anderes als meine Vorschreiberinnen.
Ich-Zentriertheit?
Habe ich das richtig verstanden, daß der Text als so eine Art Selbstgespräch aufgefaß wird?
Mein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen.

Für mich ist der Text eine Frage an eine Person, die man gerade liebt oder geliebt hat.
Es ist für mich ein Liebesgedicht.

Sethe, wieder mal schwer verwirrt
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Klara
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Beitragvon Klara » 22.08.2007, 20:17

Hallo Sam,

eigentlich wollte ich noch eine Weile mit "Urlaub"s-Schild mitlesen, weil ich eigentlich gar keine Zeit habe, aber jetzt muss ich dir schreiben (keine Kommentare gelesen):

Bei diesem Text stimmt auf beneidenswerte Weise alles!

Der Titel ist genial, die Gedanken sind genial, es ist fein ausgearbeitet (steckt Arbeit drin, ohne sichtbar zu sein).

Man kann es bitter lesen (das "Du" interessiert sich nicht "selbstlos" für den anderen bzw dessen Träume, sondern nur im Zusammenhang mit dem eigenen (Du-) Anteil daran). Dann aber kann man es auch nicht bitter lesen, sondern feststellend, denn wenn ich ehrlich bin, wäre ich wohl auch so ein "Du", ein im Grunde egozentrischer Mensch (ist so nicht jeder?? außer Mutter Theresa? Oder die auch??).

Wie auch immer, ich will da gar nichts zerreden. Es ist ein Liebesgedicht. Oder ein Abschiedsgedicht. Oder ein Einsichts-Gedicht. Auf jeden Fall ein sauguter Text.

Lieber Gruß
Klara (die jetzt lieber wieder ihr Urlaubsschild raushängt, um nicht in Versuchung zu kommen ,-))

Sam

Beitragvon Sam » 23.08.2007, 07:37

Hallo smile,

Interessantes Gedankenspiel, das dein Gedicht bei mir hervorruft.

Das freut mich, habe ich doch gehofft, dass der Leser mit diesen paar Zeilen genau dieses tut: Herumspielen und sie aus den verschiedensten Perspektiven heraus durchdenkt.

Herzlichen Dank!


Hallo annette,

"You're so vain
You probably think this DREAM is about you" ;-)

Ein sehr interessante Lesart. Jemand, der sich so wichtig nimmt, dass er bis ins letzte Detail wissen will, welche Rolle er in den Träumen eines anderen einnimmt. Und der "Träumer" selber findet das einfach nur eitel.

Auch dir lieben Dank!



Hallo Sethe,

nur nicht verzweifeln. ;-) Das Ding ist ja nach allen Seiten offen und kann auf verschiedenste Art gelesen werden. Man kann es theoretisch am Ende mit einem Ausrufe- oder einem Fragezeichen versehen. Es als Selbstgespräch, oder wie du, als an eine Person gerichtet lesen. Ich denke, diese Freiheit (das meine ich auch aus den anderen Kommentaren heraus zu lesen) macht den Reiz dieser paar Zeilen aus.

Freut mich jedenfalls, dass es dir gefällt!



Hallo Klara,

oh, das ist aber sehr nett, dass du dein Urlaubsschweigen extra für ein paar Augenblicke unterbrochen hast.
Und herzlichen Dank für dein Lob! Da trau ich mich eigentlich gar nichts mehr sagen. :icon_redface: Das Gedicht scheint zu funktionieren und das freut mich natürlich sehr.

Dann aber kann man es auch nicht bitter lesen, sondern feststellend, denn wenn ich ehrlich bin, wäre ich wohl auch so ein "Du", ein im Grunde egozentrischer Mensch (ist so nicht jeder??

Ja, ich wäre wohl genauso. Ich würde wissen wollen, welche Rolle ich in den Träumen des (der) Anderen spiele. Und wenn es nur der Dollygrip wäre. ;-)

Herzlichen Dank und noch einen schönen Resturlaub!


Liebe Grüße an euch alle

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 23.08.2007, 09:50

Hallo Sam, Sethe,

ich bin wirklich begeistert, von der Fülle von Geschichten, die diese Zeilen anstoßen können.

Allerdings die Konstellation, dass das Ich das Du liebt und deshalb fragt, kann ich mir nur schwer vorstellen. :eek:

Wenn schon Liebe, dann ein liebendes Du, das hofft und ein gehäßiges Ich, das quält. ;-)

liebe Grüße smile

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 23.08.2007, 15:13

Obwohl ich gerade ganz furchbar schlechte Laune habe, kann ich dem Gedicht kein gehässiges Ich oder sonst was negatives und/oder bitteres finden.
Aufgrund welcher Wörter, Setzungen etc. kann man denn auf eine negative, bittere Lesweise kommen? Ich versteh´s nicht. Wirklich nicht.

Was ist denn ein Dollygrip?

Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Hakuin

Beitragvon Hakuin » 23.08.2007, 18:39

hi sam,

sehr viele ebenen in diesen zeilen, gratulation :daumen:

es ist doch irgendwie klar, dass filme im kino laufen - oder?
daher, meine idee...

vorstellung

wenn ich dir meine träume zeigte
im kino
bliebest du sitzen
bis der abspann käme um zu sehen
ob dein name dort erscheint

du könntest aus meiner sich noch mehr komprimieren:

zeigte dir meine träume
und
bis zum abspann
und
ob dein name erscheint

...du entscheidest ;-)

salve
hakuin

Sam

Beitragvon Sam » 24.08.2007, 07:43

Hallo smile,

Wenn schon Liebe, dann ein liebendes Du, das hofft und ein gehäßiges Ich, das quält.

Muss das Ich unbedingt gehässig sein? Die Aussage könnte auch als eine Art Eingeständnis des Ich gelesen werden, dass das DU in seinen Träumen nicht (mehr )vorkommt, oder so verändert, dass es sich den Abspann anschauen müsste, um zu sehen ob dort sein Name auftaucht, weil es sich selber im Film nicht erkannt hat.

ich bin wirklich begeistert, von der Fülle von Geschichten, die diese Zeilen anstoßen können.

Das freut mich sehr!!


Hallo Sethe,

Aufgrund welcher Wörter, Setzungen etc. kann man denn auf eine negative, bittere Lesweise kommen?

Die Lesweise entsteht allein im Kopf des Lesers und macht sich nicht an irgendwelchen Wörtern oder Setzungen fest. Das Gedicht selber legt sich (glaube ich) nicht fest.

Was ist denn ein Dollygrip?

Das ist der/die, die den Kamerawagen bei Filmaufnahmen schiebt.


Hallo Hakuin,

danke für die Gratulation.

Sicher könnte man mehr komprimieren. Aber ich befürchte, dadurch würde das Gedicht nicht unbedingt "dichter", dafür aber enger. Und gerade die Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten macht hier den Reiz aus.

Auch den Film lasse ich lieber drin. In den ersten beiden Zeilen wird das Setting klar beschrieben, so muss der Leser sich darüber keine Gedanken machen, sondern konzentriert sich auf den zweiten Teil.

Die Wendung "Als Film im Kino" finde ich deswegen passend, da man eigentlich nur im Kino einen Film bis zum Ende des Abspanns anschauen kann - auch wenn andere schon aufstehen und gehen.

Herzlichen Dank!


Liebe Grüße

Sam

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 24.08.2007, 12:15

Lieber Sam,

was den facettenreichtum angeht, stimme ich dem Lob hier voll zu, besonders, weil all diese um einen Kern changieren - sie sind nicht getrennt voneinander und doch verschieden, das lässt den text bei verschiedenen Lesarten nicht auseinander fallen.

Ästhetisch empfinde ich diesen Text aber nicht als Gedicht (das ist keine Abwertung, ich glaube, bei dir kann man das so sagen, ohne dass es eine Grundsatzdebatte gibt, auf die ich gar nicht abziele). Was ich meine, ist, dass der Text für mich, bis auf die Art des Einschubs "als Film im Kino", keine lyrischen Elemente zeigt...für mich hat das sprachlich in erster Linie Fazitcharakter, es ist eine Geste, die sich abwendet (im Moment, nicht generell, meine ich) und der Spannungsbogen verläuft dabei für mich wie in einer Geschichte oder einem Aphorismus oder dergleichen - es ist ein Prosaenttäuschung. Damit meine ich aber mehr, als die Idee, den text jetzt in die Prosaabteilung verschieben zu lassen; als Gedicht wirkt das ästhetisch nicht auf mich. Aber als Prosatext würde ich das natürlich auch nicht so lassen, wie es jetzt da steht (auch wenn das den Wert mindert, könnte ich mir den "Satz" einfach in einer guten Geschichte vorstellen, ich finde nicht, dass er da unter Wert stünde, er würde mich auch begeistern).

Ich hoffe, du verstehst das nicht so, als verlangte ich nach lyrischem Zuckerguss. Es geht mehr um die Spannungsbogenanlage, die dann die Worte auf eine bestimmte Art wirken lässt.


Übrigens habe ich das jetzt nicht nachgesehen und sicher ist es Quatsch, aber mein Gefühl meint immer, dass es "bliebtest" heißen müsste. Na ja.

So mein Eindruck.

Liebe Grüße,
Lisa

edit: den Titel finde ich etwas einfallslos aus der Metapher geschaffen
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Sam

Beitragvon Sam » 24.08.2007, 16:50

Hallo Lisa,

herzlichen Dank für deine Meinung!

Ich denke, jeder, der sich mit Literatur und auch mit Lyrik beschäftigt, schafft für sich selbst einen "Lyrikbegriff", in den Leseerfahrung- und erwartung gleichermaßen einfließen. Von daher habe ich keine Probleme damit, wenn du sagst, dass der der Text für dich keine lyrischen Elemente zeigt.

Fazitcharakter? Da würde ich eher widersprechen. Es wird kein Fazit gezogen. Dafür ist der Text zu offen und könnte, wie schon erwähnt, ja auch als Frage gelesen werden.

Spannungsbogen? Da bin ich unsicher. Vielleicht eine Kreisbewegung, die, ähnlich dem Spannungsbogen, doch auch "lyrischen" Erfordernissen gerecht werden könnte. Als Prosasatz müsste es eine klare Aussage werden, selbst wenn es in eine Geschichte eingebetet wäre. Ich sehe die "lyrische Berechtigung" aber am ehesten in der Polyphonie. Inwieweit dabei die Ästehtik auf der Strecke bleibt, ist schwer zu beurteilen. Ich habe vor dem Unästhetischen schon immer weniger Angst gehabt, wie vor dem Oberflächlichen oder Einspurigen.

Heißt es bliebtest? Da müssen wir, glaube ich, mal die Deutschlehrer fragen. Vielleicht geht aber mittlerweile beides. Wenn dem so wäre, würde ich beim, für mich schöner klingenden, "Bliebest" bleiben. (saumäßig blöder Satz :mrgreen: ).

Dass ich dir beim Titel widerspreche, erwartest du glaube ich von mir. Ich wüßte ehrlich gesagt keinen passenderen. :daumen:

Nochmals Danke für deine Einwände, die mich dazu gebracht haben, das Gedicht nochmals zu überdenken. Dennoch könnte (und wollte) ich es nicht anders schreiben, wie es da oben steht.


Liebe Grüße

Sam


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