Sonettenkranz (14 + 1 Sonette)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Uwe Beuer

Beitragvon Uwe Beuer » 16.03.2006, 19:25

Der Sonettenkranz ist eine alte (und verrückte) Idee. Es ist nicht klar, wer genau damit angefangen hat, aber z.B. Rückert, Platen und Bechstein machten so was. Die Spielregeln:
Ein Sonettenkranz besteht aus 14 Sonetten. Mit der letzten Zeile des ersten Sonetts soll das zweite Sonett anfangen ... letzte Zeile zweites Sonett = erste Zeile drittes Sonett ... bis letzte Zeile 14. Sonett = 1. Zeile 1. Sonett.
So weit geht's noch, aber jetzt wird's echt verrückt: Alle letzten Zeilen von allen 14 Sonetten sollen, hintereinander gelesen, wieder ein neues Sonett ergeben, das so genannte "Meistersonett"! - Also los:


SONETTENKRANZ


I

Ich hab es längst schon ausprobiert:
Ob fremde Landschaft, fremde Stadt,
ob fremde Küste, fremdes Watt,
schon bald kommt jemand anmarschiert.

Und dieser Jemand wird mich fragen,
wo hier der Bahnhof ist, die Post,
die Burg, die Kneipe, West und Ost ...
Dann wartet er und ich soll's sagen.

Nur, meine Antwort ist nichts wert,
ich kenn die Gegend nicht so toll
und bin ja selber hier verkehrt.

Nichts geb ich mehr zu Protokoll,
egal ob Jemand sich beschwert:
Ich weiß doch nie, wo's lang gehn soll.



II

Ich weiß doch nie, wo's lang gehn soll,
drum lauf ich richtungslos herum
und wieder falsch und kreuz und krumm
und quer und meistens sorgenvoll.

Ich pralle gegen jeden Berg
und komm nicht über diesen Fluss,
renn kreisverkehrt, als ob ich's muss,
im Kreis: Das ist mein Tageswerk.

Nur kommt auf diese Weise man
zu Lebenszeiten nirgends hin,
geschweige denn, man käme an.

- Ob ich noch ganz bei Sinnen bin?
Worauf ich nur entgegnen kann:
Ich weiß doch nichts von einem Sinn.



III

Ich weiß doch nichts von einem Sinn,
ich weiß auch nichts von einem Wert.
Da bin ich lieber unbeschwert
und möglichst, wie ich eben bin.

Ich kenne keinen guten Zweck,
ich helf dir nicht beim Weh-Beklagen.
Ich kann dir keine Lösung sagen,
auch Gut und Böse fallen weg.

Du fragst, ob ich denn gar nichts weiß?
und ich sag selbstbewusst doch leis
und deutlich, mit erhob'nem Kinn:

Durch diese Uhr, die Uhrzeit misst,
weiß ich sehr wohl, wie spät es ist:
Dies eine weiß ich immerhin.



IV

Dies eine weiß ich immerhin,
auch wenn's dir anders scheinen mag,
wenn du so wartest Tag für Tag:
Ich hab ja nichts als dich im Sinn!

Und doch, hast du es schon geahnt;
für dich ist frühestens, mein Schatz,
am übernächsten Mittwoch Platz,
die andern Tage sind verplant.

Wie wär's danach mit Ostern wieder?
Dann Nikolaus, dann Weihnachtslieder ...
Ich finde deine Stimme toll!

Vielleicht auch, dass ich's uns erspare,
voll ausgebucht auf 14 Jahre.
Der arme Kopf ist viel zu voll.



V

Der arme Kopf ist viel zu voll,
er wird ja niemals leer genug.
Und leere ich ihn Zug um Zug,
ist's immer noch zu voll, jawoll.

Ach, wär mein Kopf doch einmal leer:
vielleicht hilft's, täglich ihn zu schütteln,
mit beiden Händen dran zu rütteln -
vielleicht, dass er dann leerer wär?!

Gedankenfrei ließ es sich leben,
besonders frei vom Unbequemen,
dann ließ der Kopf sich leichter heben,

bequem sich mit durchs Leben nehmen;
man könnt ihm auch mal Urlaub geben:
Mein Kopf ist überfüllt mit Themen.



VI

Mein Kopf ist überfüllt mit Themen
und tausend Dingen, tausend Sorgen.
Könnt ich mir einen andern borgen,
ich würd den probeweise nehmen,

vorausgesetzt, darin gäb's Ruhe,
denn sonst blieb alles ja beim Alten,
da könnt ich meinen gleich behalten,
was ohnehin zum Schluss ich tue.

Vielleicht auch ist er's gar nicht schuld,
mein Kopf und seine Ungeduld?
Dann könnt kein Tauschen je gelingen.

Die Welt, mit Chaos und Tumult:
Was könnt dem Kopf sie andres bringen?!
- Die Welt ist über-voll mit Dingen.



VII

Die Welt ist über-voll mit Dingen,
so vielen, dass mich Unmut quält.
Ich krieg noch nicht mal aufgezählt,
was meine Augen nur verschlingen.

Erschwerend gibt's zudem die Ohren:
Wovon die beiden mir berichten,
sind fast noch mal so viel Geschichten:
So geh ich im Zuviel verloren.

Ich könnte, um zuletzt zu lachen,
mich selber um mein Leben bringen.
Das würd die Sache leichter machen.

So könnt es schließlich mir gelingen,
die Welt ein Stück vereinzufachen.
- Wär's gut, nur ein Ding zu besingen?



VIII

Wär's gut, nur ein Ding zu besingen,
wenn tausend unbesungen bleiben?
Ach, könnt ich alle Lieder schreiben
und alle Farben in sie bringen!

Versuchen kann man's und beginnen,
nach vorn den Schritt und nie zurück,
die Bergwelt vor sich fest im Blick
und felsenfester Wille innen.

- Ich bleib beim ersten Schritt schon stecken
in wirren Plänen, Nebel-Schemen,
komm nicht mal um die ersten Ecken.

Wozu soll man sich noch bequemen,
wenn unzählbare Dinge necken -
und welches davon soll man nehmen?



IX

Und welches davon soll man nehmen:
den Ruhm, Gesundheit, Liebe, Geld?
Gibt's eins, das dir am meisten zählt,
am meisten löst von den Problemen?

Und käme die berühmte Fee
und würde dich mit Wünschen quälen,
dann müsstest du dir eines wählen
und alles liefe falsch, oh je.

Als Beispiel einmal angenommen,
Gesundheit hättest du bekommen;
das andre aber, wie gemein,

verschwände ganz aus deinem Leben:
Du wärst gesund und trostlos. Eben.
- Das Eine steht doch nie allein.



X

Das Eine steht doch nie allein:
Mit etwas Mühe und Geschick
und einem bisschen Finderglück
wird gar nicht weit ein Zweites sein.

Frag dieses Zweite freundlich, bitt es,
es wird sich nicht entgegenstellen,
vielmehr wird's sich dazugesellen -
und schau dich um: Schon naht ein Drittes!

Du brauchst dich nicht zu sorgen, weil
sehr bald bist du bereits zu viert,
Tendenz nach oben, und zwar steil.

Wenn nicht in Sprache abstrahiert,
dann gibt's ja gar kein Einzelteil
für sich, ansonsten isoliert.



XI

Für sich, ansonsten isoliert,
ist nichts, das irgendwem verwandt wär,
und nichts, das irgendwem bekannt wär,
der wach durch diese Welt spaziert.

Für sich, und das ist wesent-lich,
kann es kein halbes Ding im Leben
noch lebenslose Dinge geben.
Für sich (na gut) bin nicht mal ich.

Und doch reicht's aus, man schaut auf eins
(starr MICH nicht an - Was fällt dir ein),
und sei's der Glanz des Kieselsteins.

So ist denn jedes auch allein
ein Miniaturstück allen Seins:
Es gleicht und steht für alles Sein.



XII

Es gleicht und steht für alles Sein
zum Beispiel auch das Meer, der Fluss,
ein Regentropf, ein lieber Kuss,
ein Diamant, ein Kieselstein,

ein Dieb, ein Mörder, ein Normaler,
ein altruistisches Geschöpf,
Frau Mahlzahn, Lukas und Jim Knöpf,
ein Affe und Neandertaler.

Sogar im Wissen findet man
vereinzelt Spuren, die sich lohnen
und die dem Ganzen innewohnen,

sofern man sie auch sehen kann,
wenn man sie dreht und ausprobiert:
Drum schadet's nicht, dass man studiert.



XIII

Drum schadet's nicht, dass man studiert:
Dann bist du schlauer als der Rest,
der Wissen leicht links liegen lässt
und gleich die Lust daran verliert.

Na ja, zumindest glaubst du das.
In Wahrheit ist es völlig gleich,
ob bildungsarm, ob wörterreich,
und glücklich ist, wer niemals las,

dafür die Dinge sich besah,
als würden sie nicht Worte sein
und wär'n stattdessen wirklich da.

Und ließ die Welt in sich herein
und grüßte froh mit einem: Ja
das Eine und sei's noch so klein.



XIV

Das Eine, und sei's noch so klein,
und sei's aus Blech auch nur ein Ring
und sonstwie ein geliebtes Ding,
kann dir genauso wichtig sein,

wie andern etwas Großes, Teures,
Abstraktes gar wie Staat und Land,
ein Haustier oder Elefant
und sonstwie etwas Ungeheures.

Vielleicht ja sind es Regenbögen:
für dich nur schön und ohne Zweck
und nach dem Regen wieder weg?

Allein, du selber musst es mögen,
dann ist sein Glanz dir garantiert.
Ich hab es längst schon ausprobiert.


______________________


Das "Meistersonett" ist also:


(XV)

Ich weiß doch nie, wo's lang gehn soll.
Ich weiß doch nichts von einem Sinn.
Dies eine weiß ich immerhin:
Der arme Kopf ist viel zu voll.

Mein Kopf ist überfüllt mit Themen,
die Welt ist über-voll mit Dingen.
Wär's gut, nur ein Ding zu besingen -
und welches davon soll man nehmen?

Das Eine steht doch nie allein
für sich, ansonsten isoliert.
Es gleicht und steht für alles Sein.

Drum schadet's nicht, dass man studiert
das Eine, und sei's noch so klein.
Ich hab es längst schon ausprobiert.

Cornelia

Beitragvon Cornelia » 16.03.2006, 20:05

Ich bin total fasziniert!!!!

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 16.03.2006, 20:13

Kompliment.

Dieser Sonettenkranz ist nicht "nur" formal, sondern auch inhaltlich
voll gelungen.

Es gibt eine generelle Stoßrichtung, es gibt einige wenige ausgewählte
Bilder (teils Metaphern, teils konkrete, teils beides zugleich), die sich
durch den gesamten Kranz ziehen.

Die Selbstähnlichkeiten, die auftreten, sind durch leicht abgewandelte
Prioritätssetzungen in jedem Fall vertretbar (kann auch nicht anders
sein bei 14 Sonetten mit einem Generalthema).

Kleine Seitenhiebe sind eine zusätzliche Würze.
Die Botschaft kommt rüber.

Gruß
Frank

Herby

Beitragvon Herby » 16.03.2006, 22:03

Hi Uwe,

ich reihe mich gerne und ziemlich sprachlos in die Gratulationen ein und hoffe, es werden noch mehr! Wusste nicht, dass es so etwas gibt und hatte so etwas noch nie gelesen! Ganz großes Kompliment für diesen Lese- und Lyrikgenuss!! Trüge ich im Moment einen Hut, so würde ich ihn ziehen! Danke!!

LG Herby

Elli

Beitragvon Elli » 16.03.2006, 22:45

Wow! Das ist ja klasse ! Sowas gefällt mir :grin:

Besonders dieses "Geheimnis" zwischen den Gedichten (das Meistersonett) macht die Sache so spannend. Gut konstruiert! Reizt einen auch, es mal selber irgendwann zu versuchen.

Viele Grüße,
Elli

cyberpoet

Beitragvon cyberpoet » 16.03.2006, 22:47

hallo uwe!

das hat mich zutiefst beeindruckt! das ist für mich lyrik auf höchstem niveau! eine wichtige und bereichernde erfahrung!

vielen dank dafür!
lg

cyberpoet

moana

Beitragvon moana » 17.03.2006, 10:47

Ach du heilige ****!!! Was has du da nur erschaffen?? Mein Gott, du musst verrückt sein (meistens wurden die Genies für verrückt erkärt ;-) )!!! OK, ein paar Kleinigkeiten habe ich entdeckt, aber dazu muss ich das ganze nochmal kopieren und mir genauer anschaun. Aso, mit viel, viel Zeit :shock: !

Danke für diese Bereicherung!

Bewundernder Gruß von einer (fast) sprachlosen moana

pompeius

Beitragvon pompeius » 17.03.2006, 11:11

fantasievoll, satirisch, formal unglaublich bestechend.
habe vorher noch nie einen sonettenkranz gelesen und kann nur erahnen wieviel zeit und liebe da hineingepackt wurde.

respekt,

danke dafür,

pompeius

Uwe Beuer

Beitragvon Uwe Beuer » 17.03.2006, 12:34

Hoppla. Ich staune völlig, dass so etwas
überhaupt jemanden interessiert. Jetzt
weiß ich gar nicht, wie ich reagieren soll:
so viel tolles Lob!
Bin ganz beeindruckt - und diese Sonette
sind mir im Moment sehr, sehr, sehr fremd.
Bin die gesamte letzte Woche darin herum-
gepaddelt.
Auf jeden Fall schon mal vielen herzlichen
Dank an alle Leser und Kommentatoren!
Etwas benommen:
Uwe

Cornelia

Beitragvon Cornelia » 17.03.2006, 18:25

Hallo Uwe,
ich liebe die alten Formen und habe mich schon oft und immer wieder damit beschäftigt - weiss also, was da so alles zu beachten ist.
Ich hab extra einen lila Hut aufgezogen - um ihn vor Dir ziehen zu können

Mit lieben (fast wollt ich hochachtungsvollen schreiben) Grüßen
Cornelia

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 17.03.2006, 23:00

Mein Gott Uwe

Ich bin zutiefst beeindruckt.
:shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock: :shock:
Für jedes Sonett des Kranzes einen Smiley.

Ich habe Deinen Kranz jetzt durchgearbeitet und kann nur annähernd eine Idee gewinnen, welche Arbeit Du beim Schreiben hattest.

Weh-Beklagen (Orientierung Planquadrat Sonett III) ist eine vorzügliche Wortschöpfung. Und für Frau Mahlzahn, Lukas und Jim Knöpf (Planquadrat Sonett XII) eine Fahrt nach Lummerland.

Und inhaltlich immer den Faden gehalten...Wahnsinn

Grandios.

Jürgen

Uwe Beuer

Beitragvon Uwe Beuer » 19.03.2006, 17:52

Hallo ihr alle!
Habt noch mal tausenderlei Dank für das viele Interesse
und Lob: Das tut sehr gut!
Wenn euch zu den Gedichten noch etwas einfällt, dann
gerne an:

uwebeuer@gmx.de

Nächste Woche setze ich ein Abschiedsgedicht ins Forum,
dann entschwebe ich aus dem Blauen Salon: Ich muss
wieder Musik machen, Gedichte schreiben, meditieren,
nett zu Leuten und glücklich sein.
Aber ich hatte äußerst interessante 6 Wochen hier und
einigen meiner Gedichte hat's sehr gut getan!
Tschüs: Uwe
Zuletzt geändert von Uwe Beuer am 19.03.2006, 18:28, insgesamt 1-mal geändert.

Uwe Beuer

Beitragvon Uwe Beuer » 19.03.2006, 17:54

Liebe Moana:
Du musst dir aber doch noch mal den
Anfang der Leuchtturm-Ballade angucken,
du vergessliches Ding!
Gruß, Uwe

Herby

Beitragvon Herby » 19.03.2006, 18:46

Och Mensch, Uwe! Schade, sehr schade!! :sad:

Aber wenn du deinen Weggang hier schon für nötig erachtest, so ist es nach dieser Meisterleistung des Sonettenkranzes zumindest ein würdiger Abgang ...

Maach et joot, Jung, und schau wenigstens mal hin und wieder als Gast rein hier!

LG Herby


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