süffelfliegen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 28.06.2008, 01:50

süffelfliegen



weinsaufen nachtschales

ich würge gewölle
graubitter

kann dem falter nicht helfen
am griesfenster

finde selbst
den ausgang nicht

wie schlafwarten




*erste Zeile ("die süffelfliegen") mit Geheimtinte übermalt
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 29.06.2008, 14:31, insgesamt 4-mal geändert.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.06.2008, 13:52

Tom,

ich hör, wie du den Titel sprichst und da ist schon alls drin und ich weiß, bevor ich weiterlese, was für eine Stimme folgen wird und dass sie nicht gebrochen sein wird - das stimmt so ein in den Text, das ist gar kein Einstimmen mehr!

Das Wort "griesfenster" finde ich genial, auch wenn ich nicht weiß, was es ist und wenn ich mir versuche vorzustellen, was es ist an grießfenster denken muss .-)- aber allein der Klang macht den Raum zu einer Wolfshöhle.
Außerdem mag ich, wie du leichterhand grammatisch umstellst -weinsaufen nachtschales - so oft misslingt sowas, aber bei dir funktioniert es eben.

auch süffelfliegen finde ich genial. ich denke an eine büffelherde in afrikanischer steppe und die fliegen um die augen und die sonne (schon klar, dass das von dir nicht intendiert ist) und dann im gleichen moment wird in diesem gedanken alle sonne aus dem bild entfernt, es wird grau und ich weiß, was süffelfliegen - ganz einheimisch - sind und wie das wohl so "aussieht".
Für mich hast du da einen Moment einfach gehalten und darum ist es ein Gedicht, und natürlich ein gutes dazu.

Bei der Monatswahl wird es allrdings durch einen anderen Text von einem gewissen Thomas Milser noch aus dem Rennen geschmissen :tiere0051:

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 28.06.2008, 14:14

*erröt*

Liebe Lisa, was viel Netteres kann man wohl nicht zum Text sagen? Nur das mit der Monatswahl habe ich nicht verstanden :o))))

Süß finde ich: "...das stimmt so ein in den Text, das ist gar kein Einstimmen mehr!"
Toll finde ich: " ..aber allein der Klang macht den Raum zu einer Wolfshöhle."
Wundervollst finde ich: "...es wird grau und ich weiß..." (da musste ich kurz überlegen, warum du da so blass wirst :o)
Freuen tut mich: "Außerdem mag ich, wie du leichterhand grammatisch umstellst -weinsaufen nachtschales - so oft misslingt sowas, aber bei dir funktioniert es eben."

Leichterhand? Schön, wenn's jetzt so klingt, aber so war's beim Schreiben diesmal nicht.
Hab gestern etliche Biere lang über einen zwar neuen, aber irgendwie schnöden Tomtext gebrütet.
"Sie müssen mal verdichten, Herr Milser!", sagte ich zu mir, bis mir einfiel, dass ich mich ja duze.

Vorher sah das so aus:



süffelfliegen


morgens hängen die süffelfliegen wieder am weinglas
und saufen das schalgewordene der nacht

am spiegel die eiterspritzer eines unreinen lebens
und speichel auf daunen die einst wärmten

das sputum mit erinnerungen
zerschellt im klo, grau und bitter

kann dem falter nicht helfen
der sich am vergriesten fenster
zu tode surrt

finde selbst
den ausgang nicht

es ist
wie warten auf den schlaf




Böh, laaang-weilig. Befindlichkeits-Dickauftrag-Erklärbär-Lyrik. Viel zu Früher-Tom. Hatten wir alles schonmal.

Ob's dann an den beiden Linien, die Kai spendiert hat gelegen hat (nein, kein Nasenpuder, so heißt eine Aquavitsorte!), weiß ich nicht; jedenfalls stellte sich spanton die Erkenntnis ein, Herr Milser und ich müssten mal alles Überflüssige rausschmeißen, kräftig umrühren, und die Chuzpe haben, das bisschen, was übrig bleibt, als Gedicht zu verkaufen :o))

So bin ich noch nie an einen Lyrik-Text rangegangen. Es scheint, als bekäme ich eine Ahnung davon, was Ihr immer meint, wenn Ihr von Textarbeit sprecht :o)

Freut mich jedenfalls diebisch, dass das zumindest schonmal für dein Empfinden geklappt hat. Vielen schönen Schrank!

Tom.

p.s.: Griesfenster kann man übrigens ganz leicht selber herstellen: Einfach ein Jahr lang nicht putzen :o)
Und jetzt lese ich mir deinen Kommentar nochmal durch! Ist ja wie Balsamico auf essigsaurer Tomerde :o)
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 28.06.2008, 14:57, insgesamt 1-mal geändert.
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 28.06.2008, 14:35

Erklärbär (Auszug Wikipedia):

Die Taufliegen (Drosophilidae), auch Frucht-, Obst-, Gär- oder Essigfliegen genannt, sind eine Familie der Fliegen (Brachycera) innerhalb der Ordnung der Zweiflügler (Diptera). [...]
Es handelt sich bei ihnen um kleine, nur etwa ein bis sechs, meist zwei Millimeter lange Fliegen, die fast überall vorkommen, so in feuchten Laubwäldern und an Waldrändern, aber auch in der Nähe menschlicher Behausungen. Sie werden von faulenden Früchten sowie Getränkeresten in offenen Flaschen angezogen, von deren gärenden Substanzen sie sich ernähren. Der deutsche Trivialname „Obstfliege“ ist auf diese Vorliebe für faulendes Obst zurückzuführen. Die Bezeichnung „Fruchtfliege“ taucht in der deutschsprachigen Literatur erst nach 1960 auf.[...]


Und 'Süffelfliege' erst 2008 [Anm.d.Verf.]

Prost,
Tom.
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leonie
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Beitragvon leonie » 28.06.2008, 14:59

Lieber Tom,

Dein Gedicht fängt die Stimmung gut ein, gefällt mir! Ich bin noch unsicher, wie ich Dich als verdichtenden Dichter finde, ich mag das "Erzählende" von Dir auch immer sehr.

Wie dem auch sei, wenn Du schon so schön am Verdichten bist, könntest Du das "wie" noch weglassen, meine ich.

Ich musste bei Griesfenster an die mit weißen Fliegengittern davor denken, die produzieren einen ähnlichen Schleier wie ein Jahr lang nicht putzen :smile:. Vor allem, wenn sie nicht mehr ganz neu sind.

"Süffelfliegen" ist eine klasse Wortschöpfung, passt super hier!

Liebe Grüße

leonie

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 28.06.2008, 15:10

Liebe Leo,

vielen Dank!

Über das 'wie' habe ich tatsächlich auch schon nachgesonnen (wie hast du das rausgefunden?), und bin da noch unsicher. Zum einen deswegen, weil das so elfchenpopulär ist, mit nur einem Wort aufzuhören, zum anderen, weil das 'wie' eine nicht unerhebliche Beziehung herstellt.

"wie schlafwarten" (destilliert aus: "es ist wie warten auf den schlaf") beinhaltet für mich ein vergleichendes Moment, nimmt Bezug zu dem vorher Gesagten, zur vorherigen Stimmung.
Ohne 'wie' wäre das eine Einzelaussage. Ich glaube, ich lass das mal drin.

'Süffelfliege' ist m.E. keine Wortneuschöpfung; ich meine, ich hätte es mal irgendwo gelesen (Bukowski?). Also diese Lorbeeren möchte ich mir nicht überstreifen.

Liebe Grüße,
Voll-am-Verdichten-dran-Tom.
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.06.2008, 16:24

Lieber Textarbeit-Tom,

ich hab auch beim "wie" gedacht: irgendwie unstimmig, aber ohne wie wird es das, was manmanchmal im Netz passiert: forengedichtplump.
Ich würd es so lassen. Es hat auch was beim widerholten lesen.

Danke für Erklärbär..so Fenster hab ich also auch selbst .-)

liebe Grüße,
Lisa
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leonie
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Beitragvon leonie » 28.06.2008, 16:38

Lieber Tom,

Ehrlich gesagt überlege ich gerade, ob Du die letzte Zeile nicht ganz streichen könntest. Ich finde den Schluss ohne sie fast stärker. Und auch etwas offener. Die geneigte Leserin könnte dann das Thema "Ausgang" mit eigenen Assoziationen füllen. Ohne erklärt zu bekommen, was es für den Autor bedeutet...:smile:

Liebe Grüße

leonie

Perry

Beitragvon Perry » 28.06.2008, 19:21

Hallo Tom,
gratuliere zu diesem Textdestillat.
Ich sehe den Schluss übrigens genauso wie Leonie und würde vorschlagen, das "schlafwarten" zum Titel zu erheben, denn so toll die Süffelfliegen auch sind, einmal reichen sie trotzdem.
LG
Perry

Max

Beitragvon Max » 28.06.2008, 19:22

Lieber Tom,

spannend. Für mich erzeugt das Gedicht vor allem durch seinen Klang ein klebrig, unentwirrbares Netz, aus dem ich zum Schluss selbst nicht fliehen kann.

Das ist insofern aufrgend, als ich die Strophe

ich würge gewölle
graubitter


mit ihren Alliertationen mit dem Kopf eigentlich als "zu viel" empfinden würde, aber gerade das bringt dieses Gefühl, als habe man selbst 'zu viel', beispielsweise Wein, konsumiert.

Zur diskutierten letzten Strophe: ich würd sie lassen wie sie ist, oder ich schlage die Variante vor, die ich die ersten drei Mal gelesen habe:

wir schlafwarten

(wir, der Falter und ich).

Liebe Grüße
Süffelmax

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.06.2008, 20:00

Hi Tom,

Max beschreibt den Eindruck, den ich von deinem Text habe sehr trefflich:
Max hat geschrieben:Für mich erzeugt das Gedicht vor allem durch seinen Klang ein klebrig, unentwirrbares Netz, aus dem ich zum Schluss selbst nicht fliehen kann.

Genauso geht es mir auch.
Den Titel würde ich unbedingt so lassen, er macht neugierig!

Die letzte Zeile würde ich allerdings auch streichen. Für mich klingt es viel besser, wenn das Ende offen bleibt und keine Wertung mehr kommt. So klingt dein Text mehr nach und man überlegt sich als Leser, wie man selbst diesem "klebrigen Netz" entkommen könnte.
Saludos
Mucki

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 28.06.2008, 21:58

Bemerkenswerte Fortschritte tuhen sich hier zu meiner Freude auf!

Ich kann mich noch daran erinnern, daß ich von dir erheblich gerüffelt wurde, weil ich ein Wort schrieb, das du in deinem Duden nicht finden konntest.

Hast du jetzt auch deinen eigenen Duden?

:smile: :daumen:

MlG

Moshe

Trixie

Beitragvon Trixie » 28.06.2008, 22:06

Bäh/Ooooh! Das ist wie: Schnecken mit der Axt totmachen. Und gleichzeitig sagen: Ich mag Spinnen in meiner Wohnung, weil die die Fliegen fressen. Und danach: Nachbar's Katze am liebsten in der Regentonne ertränken. Und: Einem Mehlwurm im Frühstück einen guten Appetit zu wünschen.

Tja: Das ist Tom!
Es ist irgendwie auf abscheuliche Art anregend und dann doch wieder so lyrisch. Mal eine hohe Welle, die über mich drüber schwappt und ich bin in jenem schon erwähnten "Netz" und dann wieder Ebbe, schön, überschaubar mit Horizont und Sonnenuntergang. Eben: Lyrik a la Thomas Milser. Gefällt :daumen: !

Liebe Grüße
Trixie

Max

Beitragvon Max » 28.06.2008, 22:10

Das ist wie: Schnecken mit der Axt totmachen.


Liebe Trixie,
WAS ist wie Schnecken mit der Axt zu töten? Toms Gedicht?

Liebe Grüße
Max


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