Vorübergehendes Domizil

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Perry

Beitragvon Perry » 28.06.2008, 19:33

Vorübergehendes Domizil


Vier Wände
mit einem Quadratmeter
Hinterhofblick

Für die paar Wochen wird es reichen
sagen die
die immer alles besser wissen

Auf den Tapeten Biographien
Höhlenzeichnungen
des Homo Neanderthalensis

Im Schein der schirmlosen Lampe
gefühlte fünfundzwanzig Watt
Schattentheater ohne Vorhang

Langsam löse ich mich
aus der Zuschauerrolle
mache Pantomime am Fenster

und du lachst


1. Fassung:

Vorübergehendes Domizil


Vier Wände
mit einem Quadratmeter Hinterhofblick
Mülltonnenidyll

Für die paar Wochen wird es reichen
sagen die
die immer alles besser wissen

Auf den Tapeten Biographien
Höhlenzeichnungen
des Homo Neanderthalensis

Im Schein der schirmlosen Lampe
gefühlte 25 Watt
Schattentheater ohne Vorhang

Langsam löse ich mich
aus der Zuschauerrolle
mache Pantomime am Fenster

und du lachst
Zuletzt geändert von Perry am 29.06.2008, 17:57, insgesamt 1-mal geändert.

Max

Beitragvon Max » 28.06.2008, 19:59

Lieber Manfred,

ein interessanter Versuch, die Verlassenheit einer zeitlichen Behausung darzustellen. Stellenwesise kann ich mich gut in den Text finden, an anderen Stellen nimmt das Lyr. Ich für meinen Geschmack zu viel Distanz zu dem, was es eigentlich zu beschreiben sucht.

In Strophe 1 finde ich beispielsweise das Wort

Mülltonnenidyll


zu distanziert. Das ist eine Chiffre, die auf einer Metaebene beschreibt, aber dadurch, das sie Chiffre ist, auf der emotionalen Ebene (bei mir) nichts mehr bewegt.

In strophe 2
die immer alles besser wissen


richtet sich gegen eine Außenwelt, aber ein

"sagen die anderen"

hätte mir als Abgrenzung genügt.

In Strophe 3 empfinde ich die letzte Zeile als eine Schwächung des Textes. Es mag sein, dass ich die Intention Deiner Texte wirklich nicht verstehe, aber es fällt mir auf, dass Du versuchst in einer Vielzahl (ich denke: einem Großteil) Deiner Gedichte Deine Kenntnis biologischer, geographischer o.ä. Begriffe unterzubringen. Einerseits wirkt das manchmal so, als wolltest Du etwas zeigen, was zu zeigen Du nicht nötig hast, andererseits führt es den Text auf Abwege. Was macht der Neandertaler hier? Er höhlenzeichnet in einem Miet- oder Hotelzimmer. Das soll ironisch sein (denke ich), aber es wirkt gekünstelt ...

Hier
Im Schein der schirmlosen Lampe
gefühlte 25 Watt


würde ich das "gefühlte" weglassen. Wieso könne es nicht wirklich 25 Watt sein?

Die letzten beiden Strophen hingegen gefallen mir wieder. Es kommt echtes Leben ins Gedicht.

Du siehst: gemischte Gefühle ...

Liebe Grüße
Max

Perry

Beitragvon Perry » 29.06.2008, 12:12

Hallo Max,
danke für deine, wie immer offene und gerade Sicht zu einem meiner Texte.
Was du als Distanz empfindest, ist vermutlich der zunehmend beobachtende allgemeine Blickwinkel, den ich mir statt der früher mehr autobiographisch geprägten Sicht zugelegt habe.
Was dein teilweises "Unverständis" meiner Texte anbelangt, könnte dies an der unterschiedlichen Lesart der Metaebene liegen, die hier nicht in Bildern wie des Mülltonnenidylls und den Höhlenzeichnungen des Neandertalers liegen, sondern mehr in der Schlussszene.
Die ironische Beschreibung des Hinterhofmillieus und der Wandschmierereien sind der Versuch ungewöhnliche bzw. überraschende Momente in den Text mit einzubringen und keineswegs persönliche Profilierungsgedanken. Solange diese einen Bezug zum Text haben, ist das als stilistisches Mittel durchaus vertretbar. Dies trifft auch auf die von dir angesprochene Formulierung der "anderen" zu, wo das doppelte "die" eben eine lyrische Verstärkung bewirken soll und bei den "gefühlten 25 Watt" eine noch größere innere Dunkelheit zum Ausdruck gebracht werden soll.
Ich hoffe, ich konnte dir damit ein wenig von meiner Schreibintention verdeutlichen und freue mich, dass der Text dein Interesse gefunden hat.
LG
Manfred

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 29.06.2008, 12:51

Hallo Perry,

das ist ein erfreulich unangestrengter Text.
Im Gegensatz zu Max finde ich, dass sich dein Neandermann hier ganz gut einfügt. Deine von Max zitierte Neigung zu 'Unterbringen von Fachausdrücken' empfand ich bei vorangegangenen Texten auch etwas überstrapaziert, aber gerade diesmal eben nicht.
Allerdings bekäme auch eine humoristische Neuschöpfung wie z.B. 'Homo Mietnomadis' oder so dem Text nicht schlecht. Muss aber nicht.

Das Wort 'Mülltonnenidyll' fällt aber auch für mich aus der Erzählhaltung heraus, weil es das einzige ist, was eine Wertung abliefert.

Die letzten vier Zeilen sind wunderbar rund und fluffig, das finde ich stark.

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Perry

Beitragvon Perry » 29.06.2008, 17:55

Hallo Tom,
danke für das "unaufgeregt", das ich gerne als Kompliment nehme.
Mit dem Mülltonnenidyll habt ihr mich überzeugt, weil es eigentlich nur den Hinterhofblick "wertet" und das muss nicht sein.
LG
Manfred

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 30.06.2008, 00:39

Perry hat geschrieben:Hallo Tom, danke für das "unaufgeregt", das ich gerne als Kompliment nehme.


Ja sicher.

Und die ersten drei Zeilen haben sichtbar gewonnen.

Vielleicht sind die Lektoren im Forum doch nicht so schlecht. Hab ich an meinen Texten jedenfalls erfreut festgestellt. :o))))

Es grüßt dich,
Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 30.06.2008, 10:22

Hallo Perry,

die zweite Fassung ist sehr schön. Ich mag auch die gefühlten 25 Watt, irgendwie passt es zu dem Bild, das Dein Gedicht in meinem Kopf entstehen lässt. Nur beim Pantomimespiel, weiß ich nicht, ob mir "mache" Pantomime so gut gefällt. Oder wäre Dir "spiele Pantomime am Fenster" schon einen Schritt zu weit, weil es natürlich auch eine andere Stimmung bedeutet. Ist letztendlich sowieso Deine Entscheidung. Und so und so ein schönes Stimmungsbild. Ach übrigens, die Leute, die immer alles besser wissen gefallen mir. Ich finde, die sollten bleiben.
Hm, irgendwann gebe ich vielleich auch qualifiziertere Kommentare ab, aber vielleicht kannst Du mit diesem Fragment ;-) auch schon etwas anfangen.
viele Grüße
elke

Perry

Beitragvon Perry » 30.06.2008, 15:46

Hallo Tom,
da kannst mal sehen, was eine positive Stimmung alles bewirken kann. :smile:
Danke für die Rückmeldung und LG
Manfred

Hallo Elke,
schön dich hier zu lesen. Wie du richtig vermutet hast, wäre mir ein richtiges Pantomimenspiel zuviel, weil dies ja ein eigene Kunstform ist und das LI diese nur nachzumachen versucht. Vielleicht ist es ja gerade dieser amateurhafte Versuch, der ein LD (bzw. das LI selbst) zum Lachen bringt.
Danke fürs "schöne Stimmungsbild" und LG
Manfred


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