Geburtstag

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 02.09.2008, 22:11

Brave Kinder lachen und fragen nicht.
Fragen machen graue Haare.

So einfach das ist. Leben.
Baisers zerkrümeln. Eine rauchen gehen.

Die Möchtegern-Indianerin gegenüber
krault ihren Hund.
Ihr Kind ist in den Knast gezogen.
Wie andere zur See.

War da nicht gestern ein Fleck.
Auf meiner Bluse?
Wo ist verdammt noch mal dieser Fleck.

Scheißwarme Sonne.
Und die Fenster der Kirche zu rot.
Die Alten lachen. Mich an.


Erstfassung:
Brave Kinder lachen und fragen nicht.
Fragen machen graue Haare.

So einfach das ist. Leben.
Baisers verspeisen. Eine rauchen gehen.

Die Möchtegern-Indianerin gegenüber
krault ihren Hund.
Ihr Kind ist in den Knast gezogen.
Wie andere zur See.

Und die Sonne ist so scheißwarm.
Und die Fenster der Kirche zu rot.

Gestern war da ein Fleck auf meiner Bluse.
Wo ist verdammt noch mal dieser Fleck?
Jeder würde ihn sehen.

Heute lachen sie nur.
Lachen mich an.
Zuletzt geändert von leonie am 01.10.2008, 20:49, insgesamt 2-mal geändert.

Max

Beitragvon Max » 03.09.2008, 20:43

Liebe Leonie,

der Text ist für mich sehr facettenreich, allerdings wirkt er für mich eben auch ein wenig zerspliitert - wie echt Facetten ;-).

Der Auftakt liest sich für mich sehr doppeldeutig und ich weiß nicht, ob das Absicht ist.

Ich selbst hätte eine Setzung wie

Brave Kinder lachen
und fragen nicht.
Fragen machen graue Haare.



bevorzugt, bei mir lachen die Kinder zunächst auch nicht - bis ich begreife.

So einfach das ist. Leben.
Baisers verspeisen. Eine rauchen gehen.


finde ich eine klasse Strophe.

Und diese
Die Möchtegern-Indianerin gegenüber
krault ihren Hund.
Ihr Kind ist in den Knast gezogen.
Wie andere zur See.


auch - allerdings sehe ich nur einen ganz dünnen roten Faden über die Kinder.

Das zieht sich über die nächsten Strophen so hin, wobei Strophe 2 und 3 so stark sind dass sie für mich allein genommen schon beinahe Kurzlyrik sind, während Strophen 4 und5 für mich nicht alleine stehen können.

Ein Kreis, mit sehr dünner Kreides gezogen schließt sich erst in Strophe 6.

Liebe Grüße
max

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9468
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 03.09.2008, 23:20

Liebe Leonie,

das gefällt mir sehr. Es fühlt sich echt an, beinahe, als hätte man es selbst gerade erlebt. Die Stimmung, der Tonfall, der da durch die Zeilen schwingt und die Beobachtungen, das irritierende Nichtzusammenpassen und deshalb so wirklich sein.

Ich würde auch die erste Zeile so lassen, ich finde die Doppeldeutigkeit genau richtig gesetzt.

liebe Grüße smile

Herby

Beitragvon Herby » 04.09.2008, 04:52

Liebe leonie,

der Text fasziniert mich in eben dem Maße, wie ich befürchte, dass er sich meinem Verstehen entzieht. Was ich zu verstehen glaube, ist folgendes. Ich sehe zunächst wie Max auch einen Rahmen zwischen den ersten und letzten beiden Versen, das scheint mir eindeutig. Mit dem, was dazwischen liegt, wird's dann schwieriger. Ein Schlüsselsatz scheint mir Vers drei zu sein,

So einfach das ist. Leben.


wobei mich hier zum einen die Syntax irritiert, zum anderen der Bezug durch das einleitende "So". Es wirkt auf mich, als sei dieser Vers einleitende Satz die Antwort auf die (kindliche?) Frage: was bedeutet Leben? Betrachte ich den Titel, so dient der Geburtstag nach meinem Verständnis als auslösendes Moment dieser Reflexion. Gleichzeitig klingt für mich Ironie in diesem Vers durch, will sagen, das Leben ist alles andere als einfach.

Die anschließende Reihung unterschiedlichster Facetten scheint das zu belegen (bes. Vers 4), wobei die dritte Strophe dann eine bittere Note hinein bringt, nicht zuletzt durch die verfremdete Verwendung des Verbs "zog": ihr Kind zog in den Knast (so einfach) wie andere zur See zogen/ziehen. Und auch die folgenden Empfindungen (Sonne scheißwarm) und Beobachtungen (Kirchenfenster zu rot) sowie die Suche nach dem scheinbar Unerklärlichen (wo ist der Fleck bzw. indirekt, unausgesprochen damit verbunden die Frage nach dem Grund seines Verschwindens) sind ja in ihrer Banalität dazu angetan, einem das Leben unnötig schwer zu machen.

Und dann kommt am Ende das Lachen der Kinder, was ja im Rückschluss auf die erste Strophe heißt, dass sie eben keine Fragen stellen, das Leben mit einem Lachen nehmen. Sollte dies zutreffen, läge allerdings in dem Adjektiv "Brave" wie in der Verallgemeinerung des ersten Satzes Ironie, die nur verständlich würde, wenn man ihn als die Aussage eines durch eben zuviele Kinderfragen genervten Erwachsenen interpretiert. Dieser Satz könnte so oder ähnlich tausendfach tatsächlich gesagt worden sein, um endlich Ruhe zu haben und als Ausdruck der eigenen Rat- und Hilflosigkeit.

Kann es also sein, dass es hier um die zwischen Erwachsenen und Kinder unterschiedliche Art geht, das Leben zu betrachten? Kann es sein, dass ich gerade in den letzten beiden Versen so etwas wie Neid auf die kindliche Sichtweise lese?

Liebe leo, an meiner vorsichtigen, fragenden Ausdrucksweise magst du erkennen, wie unsicher ich mir mit deinem Text bin. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich mich am Ende dieses Kommentars fürchterlich blamiert hätte, aber sei's drum... Das waren so die Gedanken (und noch nicht einmal alle), die mir zu deinem Text durch den Kopf gingen.

Doch jetzt werde ich versuchen, eine Mütze Schlaf zu kriegen.

Liebe Morgengrüße
Herby

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 04.09.2008, 08:17

Mir geht es so ähnlich, wie den anderen. So ganz kriege ich den Bogen da nicht rein.
Brave Kinder lachen und fragen nicht.
Fragen machen graue Haare.

So einfach das ist. Leben.
Baisers verspeisen. Eine rauchen gehen.

Die Möchtegern-Indianerin gegenüber
krault ihren Hund.
Ihr Kind ist in den Knast gezogen.
Wie andere zur See.

Bis dahin geht es noch. Hat was Resignatives. Besonders die Zeilen mit dem Knast sind sehr gelungen. Aus den Kindern ist nicht das geworden, was die Eltern sich vorgestellt haben. Die Eltern sind alt geworden darüber. Dass es (auch) ums Altern gehen könnte, legt der Titel nahe.

Dann kommt:
Und die Sonne ist so scheißwarm.
Und die Fenster der Kirche zu rot.

Hier kann ich nicht folgen. Abgesehen davon, dass ich finde, dass "scheißwarm" sprachlich aus dem Rahmen fällt. Ist zu vulgär an der Stelle. OK, "verdammt" und "Knast" sind auch umgangssprachlich, aber stören nicht so. Ich frage mich, was ist damit gemeint - und warum sind die Fenster der Kirche wichtig?

Gestern war da ein Fleck auf meiner Bluse.
Wo ist verdammt noch mal dieser Fleck?
Jeder würde ihn sehen.

Tja, hmm. Auch hier suche ich automatisch, eben weil es so aus dem, was ich bisher verstanden zu haben glaubte, nach dem Sinn, dem Zusammenhang. Bluse klassifiziert die Erzählerin als weiblich, OK. Alltägliche Sorgen, die den Schmerz der Jahre überlagern? Weiß nicht.

Und dann schließen die letzten Zeilen einen Bogen zu den ersten, der mit dem, was ich bislang sah nicht passen will. Sind die Kinder doch noch da? Doch eher eine düstere Vorahnung? Die Sorge, was aus den eigenen Kindern werden wird? Angst, dass sie so enden wie die von Nachbars, überlagert von den Alltagsproblemen wie Hitze, Kirchenfenstern und Blusenflecken. Wessen Geburtstag wird hier eigentlich (nicht) gefeiert?

Verwirrte Grüße
Henkki

Klara
Beiträge: 4508
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 04.09.2008, 09:15

Oh Leonie, das ist so schön, da bekomme ich eine Gänsehaut!

Hab keine Ahnung, warum das so ist.

Ich mag die Fragen, die graue Haare machen und die Indianerin, die zugleich mit Neid wie mit Herablassung in den Blick kommt. Ich mag die scheißwarme Sonne und die zu roten Fenster der Kirche (ja!). Den Fleck und das Lachen.

Vielleicht könnte man die Baisers noch sinnlicher machen, weniger vornehm ("verspeisen"). Das Typische an Baisers ist ja dieses süßkrümelige Zergehen auf der Zunge... Weil "baiser" französisch "küssen" heißt, und umgangssprachlich mehr als küssen ,-)

Lieber Gruß
Klara

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 04.09.2008, 10:40

Hallo, Ihr,

ich danke Euch für die ausführlichen Rückmeldungen. Ich wollte in erster Linie sehen, wie der Text wirkt, was bei den Lesern ankommt.
Facettenreich sei der Text, schriebst Du, Max. Die Rückmeldungen sind das ebenso. Der Text enthält Ambivalenzen, das ist auch bewusst so angelegt. Deshalb soll er auch verwirrend und irritierend (smile) sein.
Dass man ihn allerdings so unterschiedlich lesen kann, hatte ich nicht vermutet. Das lässt mich nun wiederum ambivalent zurück: Will ich das oder muss ich es eindeutiger machen?

Herby, Du blamierst Dich gar nicht, tatsächlich war in der Ursprungssituation jemand von den Kinderfragen genervt. Das hast Du sehr fein herausgelesen.

Henkki, ich kann Deine Irritationen nachvollziehen. Ich muss nochmal darüber nachdenken, ob ich das Ganze in eine eindeutigere Richtung haben will oder nicht.

Klara, danke Dir, ich freu mich über die Gänsehaut!

Liebe Grüße

leonie


Ich glaube, die hauptsächliche Irritation könnte dadurch entstehen, dass das "sie" unten auf die Kinder bezogen wird.
Ursprünglich war die Idee eine Geburtstagsfeier, auf der sich das lyrIch eher mit den fragenden Kindern als den Erwachsenen identifiziert. Es ist also fremd, anders. Sucht seinen Ort noch.
Der Fleck auf der Bluse hätte das Anderssein zeigen können, aber er ist verschwunden. So lachen die anderen Erwachsenen und behandeln das lyrIch als "Mitglied", bemerken das "Fremdsein" nicht.

Nach Euren Rückmeldungen bin ich aber ganz unsicher, ob ich das wirklich eindeutig herausarbeiten will....Ich denke nochmal drüber nach!

Benutzeravatar
ferdi
Beiträge: 3260
Registriert: 01.04.2007
Geschlecht:

Beitragvon ferdi » 04.09.2008, 12:57

Hallo Leonie!

"Eindeutig herausarbeiten" ist ja nicht die einzige Option :-) (bei Licht besehen auch nicht die, die du wählen solltest, finde ich) Aber vielleicht könntest du dem Leser... hm... mehr Einheitlichkeit trifft's nicht... einen etwas dickeren roten Faden in die Hand geben?! In meinem Fall sind es vor allem die Abschnitte drei und vier, die mich den Fokus verlieren lassen - der Rest passt gut zusammen und ist wäre für mich stimmig, auch wenn ich nichts von einer Geburtstagsfeier wüsste :-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Max

Beitragvon Max » 04.09.2008, 14:02

Liebe Leonie,

ich kan nmich da Ferdi nur anschließen. Ich finde nichts verkehrt an einem facettenreichen und ambivalenten Ausdruck, wenn ich den Eindruck bekomme: Das wollte die Autorin damit sagen .. aber gerade bei dieser Suche war ich gelegentlich schwankend (wobei mit nach wie vor die meisten Einzelstrophen und -zeilen sehr gefallen).

Liebe Grüße
Max

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 04.09.2008, 14:33

Liebe leonie,

es ist hier schon so ausführlich kommentiert worden, dass ich keine weiteren Lesarten mehr hinzufügen kann - im Gegenteil für mich war erstens der Text ein Genuss und dann nochmal die Überlegungen der anderen ein Genuss, weil sie mir geholfen haben. Ferdis Vorschlag würde ich dabei sehr zustimmen - vielleicht geht es, indem du die Bilder der strophen 3 und 4 (die abstrakteren, nicht so leicht fassbaren) auf die anderen verteilst bzw. einfach alles etwas mischst? Oder eine zusätzliche Formatierung für freiere Passagen wählst, sodass der Rahmen einheitlich erkannt werden kann?

Was ich aber eigentlich sagen möchte: Mir gefällt hier besonders, dass du in diesem Gedicht ein wenig deinen Stil variiert hast - nicht, dass ich den alten nicht mag (das weißt du ja), aber hier ist irgendetwas neu dran, was mich freut, dass es so aus deiner Feder herauskommt :-) und nicht im alten Ton. Frag lieber nicht genauer nach, was ich damit meine .-)

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 04.09.2008, 20:54

Lieber Ferdi, leiber Max, liebe Lisa,

im Moment habe ich keine Idee, ich glaube, ich weiß mal wieder selbst nicht, was ich will. Ich habe auch noch nicht genug Distanz zum Text, um ihn gut ändern zu können. Aber ich bleibe am Ball.

Auf jeden Fall vielen Dank Euch für die Rückmeldungen und die Ideen.

Liebe Grüße

leonie

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 07.09.2008, 18:22

Liebe leonie,

was für ein guter Text! Jetzt war ich tagelang nicht da und freu mich an diesem! Es ist mehr ein Film für mich und er berührt mich.

Baisers zerkrümeln vielleicht? würde besser zur gewählten Gedichtsprache passen.

Die Indianerin-Strophe ist überhaupt mein Lieblingsteil und natürlich auch der weggegangene Fleck auf der Bluse.

Lieben Gruß
Elsa
Schreiben ist atmen

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 08.09.2008, 12:22

Liebe Elsa,

danke Dir! Ich freue mich über Dein Lob!

Liebe alle,

Ich merke, dass ich im Moment ganz schlecht etwas am Text ändern kann. Ich brauche noch Zeit, hab im Moment den Kopf dafür nicht frei.

Wenn sich da für mich etwas klärt, melde ich mich...

Danke nochmal und liebe Grüße

leonie

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 26.09.2008, 10:55

Hallo Ihr,

ich habe mir den Text jetzt noch einmal vorgenommen.

Was meint Ihr dazu?

Liebe Grüße

leonie


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot] und 49 Gäste