komm, wir reisen zu den geisterbäumen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 05.09.2008, 17:34

 
komm, wir reisen zu den geisterbäumen



du lässt die augen sinken. zu früh
sagst, es wird kein zwischen mehr geben
nur noch hitze und schnee. graue haare
so viele wie legenden. trauerreden
und bäume mit spanischem moos

wir werden uns farblos schminken
vergessen, dass küsse zeitlos sind
erinnerungen werden wir wissen nennen
ich lass die flügel hängen. am morgen

jemand wird sie finden, hineinschlüpfen. lieben
blätter aufwirbeln, kichern im herbst
heute hab ich dich dabei erwischt
nach dem morgen zu schielen


 

edit: erinnerungen und wissen geradegestellt
Zuletzt geändert von Ylvi am 08.09.2008, 09:24, insgesamt 1-mal geändert.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 06.09.2008, 10:31

Hallo smile,

da steckt so viel Phantasie drin, ohne, dass sich auch nur einziges Wort bemüht, wichtig zu sein.
Leise Töne, flüsternd erzählt, in einem Zustand der Einkehr.
Es ist der Klang, die Melodie, das Sinnliche, das Versteckte, was hier die Tiefe erzeugt, und nicht die große Geste.

Bei 'graue haare so viele wie legenden' und 'erinnerungen werden wir wissen nennen' kann man den Text erst einmal vor dem inneren Auge schließen, und was anderes machen; das genügt fürs Erste. Deswegen schaue ich mir den Text jetzt auch schon zum vierten Mal an.
Die Kursivsetzung finde ich allerdings überflüssig. Das ist inhaltlich so stark, dass eine weitere Hervorhebung eher störend ist. Es bedarf dessen nicht.

Und wieder mal ganz wunderbar, dass der Text sein Geheimnis nicht vollends preisgibt.

Tom


edit: Viele gucken hier rein, und keiner schreibt was. Ich weiß warum: Man hat das Gefühl, nicht stören zu wollen. So wie man (als Herr) höflich den Blick abwendet, wenn eine Dame die Oberbekleidung wechselt, aber doch heimlich ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe betrachtet. Und sie weiß es.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 06.09.2008, 10:47

Du hast es erfasst, Tom, ich schaue das Gedicht auch immer wieder an, aber sagen möchte ich eigentlich besser nichts ...
Es ist ein subtiles Grauen drin, zum Beispiel in der Zeile "wir werden uns farblos schminken".
Mit der Kursivsetzung hast Du Recht, sehe ich auch so.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 06.09.2008, 10:58

'Subtil' ist das Wort, was mir nicht eingefallen war ...

Wenn man einem solchen Text ins Antlitz schaut, gehen einem manchmal die Worte verlustig ...
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.09.2008, 11:31

Hallo smile,

allein den Titel finde ich schon klasse. Er macht neugierig und hält sein Versprechen. In deinen Zeilen "spukt" es. Eine mysteriös-traurige Stimmung springt auf mich über. Durch die letzte Strophe wird diese Stimmung wieder aufgehoben. Du gewährst mir, als Leser, einen Einblick in eine Art Traumsequenz, die ich auf verschiedene Weisen deuten kann.
Gelungen!
Saludos
Mucki

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 06.09.2008, 12:21

Wunderbarer Text. Kursiv finde ich auch überflüssig. Mysteriös-traurig, aber auch bedrohlich. Für mich wird die Stimmung nicht durch die letzten Zeilen aufgehoben. Das morgen gehört nicht dem LyrIch, und das weiß es. Pure Verzweiflung.

LG
H

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 06.09.2008, 12:52

Liebe smile,

erstmal zum Titel: Das habe ich auch gleich gedacht: Dass der Titel wirklich fein gemacht ist, wie er einen lockt. Was ich dann am Text besonders gelungen finde, ist, wie er es schafft, von Vergangenem in der Gegenwart zu erzählen, wie er es holt und zeigt und man sagen kann: ja, so ist das Gefühl, wenn man weiß und trotzdem (..). Dazu passt für mich vorzüglich auch das Auftakt-komm, was gar nicht kitschig daherkommt, sondern ganz weich. Und dann mag ich auch noch, dass das "Du" sowohl als Du als auch als (Leser-)Ich zu lesen ist, beides zugleich.

Ich hab aber doch ein paar Anmerkungen:

Den Zeilenumbruch gleich im ersten Vers empfinde ich als fremd, kann ich mich nicht hineinlesen.

In Strophe 2 stört mich etwas das dicht aufeinander folgende "-los".

Und in Strophe 3 hab ich noch nicht verstanden, warum die ersten beiden Zeilen nicht ganz am Ende stehen, sagen die Schlusszeilen:

heute hab ich dich dabei erwischt
nach dem morgen zu schielen


etwas anderes oder nochmal das gleiche in Bezug auf lyr. Ich und Du und nicht die andern wie die ersten beiden Zeilen der dritten Strophe?

Die Kursivsetzung finde ich wiederum deshalb notwendig, weil die Stelle so ja zweifach zu lesen ist.

Ein Text ohne Druck, das mag ich an ihm.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 06.09.2008, 13:11

@Lisa: vielleicht ist es auch die zeichensetzung in der ersten Strophe. Hakt bei mir auch ein wenig.

Ich lese:

du lässt die augen sinken - zu früh,
sagst, es wird kein zwischen mehr geben
nur noch hitze und schnee und graue haare
so viele wie legenden. trauerreden
und bäume mit spanischem moos

Über die beiden -los bin ich nicht geflogen, aber darauf gelenkt, hast Du Recht damit.

Dein Argument zum Kursiv verstehe ich nicht.

M.E. müssen die letzten beiden Zeilen ans Ende, weil sie diese abschließende Resignation bergen. Das LD schielt nach etwas anderem, nach dem Morgen. Das klingt nach Abschied, nach Ende. Man könnte natürlich mit den ersten zwei Zeilen der 3S und noch einer Ergänzug eine eigenständige Strophe machen und die letzten Zeilen so stehen lassen.


Entschuldigung, Smile, für diese vielleicht etwas aufdringliche Spinnerei. Dein Text inspiriert halt.

H

Klara
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Beitragvon Klara » 06.09.2008, 13:20

wow!
das ist ein berührender text, smile. ich mag ihn. ein wissender text. ich würde nichts kursiv stellen, aber die hier bereits monierte zeichensetzung ist super!

inhaltlicher widerspruch: küsse sind niemals zeitlos, sondern das gegenteil: voller zeit, und vergehend in der gegenwart. wie kommst du darauf, dass küsse zeitlos sind?

einzig der titel gefällt mir nicht: ich finde, er zerstört alles leise, resignierende (noch nicht resignierte, es ist im vollzug), und zugleich gibt er sich kraftvoll, als hätte "ich" dem du noch etwas vorzuschlagen, und dann auch noch ein aufforderndes "komm".

klara

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 06.09.2008, 16:34

Auch *wow. Danke für die schönen Komms., ich schau mir später eure Vorschläge und Hinweise in Ruhe an, bin grad etwas in Eile. :tiere0053:

liebe Grüße smile

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 08.09.2008, 09:20

Hallo Ihr,

also bei diesem Gedicht fällt mir begründen und erklären irgendwie furchtbar schwer.
Ich denke, ihr habt Recht mit dem kursiven (eh sei denn Lisa hat noch ein Argument, das ich übersehen habe...) das wurde erst im Forum kursiv, weil ich dachte, sonst wäre es verwirrend.
Die Zeilenumbrüche und die Zeichensetzung und der Titel müssen so bleiben, sie fühlen sich für mich richtig an.

Klara hat geschrieben:küsse sind niemals zeitlos, sondern das gegenteil: voller zeit, und vergehend in der gegenwart. wie kommst du darauf, dass küsse zeitlos sind?

Das ist ein Geheimnis, das ich nicht erklären kann. .-) Aber wenn Küsse voller Zeit währen, würden wir diese wahrnehmen, dafür müssen es dann aber ganz grauenvolle Küsse sein. :pfeifen:

liebe Grüße und danke noch mal
(@Tom, das war ein sehr feiner Komm. :blumen: )

smile

Alma Marie Schneider
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Beitragvon Alma Marie Schneider » 17.10.2008, 11:24

Starker Titel. Der Text selbst bringt sehr schöne Bilder und man wird hineingezogen. Gefällt mir sehr gut.

Liebe Grüße
Alma Marie
Die Schönheit erklärt man nicht, man empfindet sie (Peter Rosegger).

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 19.10.2008, 09:53

Danke Alma Marie, das freut mich, schön, dass du wieder hier her gefunden hast.

liebe Grüße smile

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 03.05.2016, 10:21

Es ist zwar noch nicht Herbst, aber ich glaube, die Flügel gefunden zu haben ...


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