Beitragvon Pjotr » 22.05.2006, 00:47
Wie ich eben das Forum zum ersten Male betrat, so habe ich auch gerade erstmals bemerkt, daß Du Dein Gedicht inzwischen verändert hast, Lisa.
Besonders bei einem Gedicht wie diesem, halte ich Kritik für paradox. Im folgenden will ich nicht die Neufassung kritisieren, dazu fehlt mir persönlich der Zugang, ich will vielmehr die Kritik kritisieren; die Kritik der Väter(!) an der Originalfassung.
Mir scheint, als wäre die Neufassung nicht mehr ein Gedicht über Vatersprache, sondern eine in Vatersprache. Der Vater hat das Gedicht klammheimlich geschnappt und nach seinem Gusto sterilisiert, und das riesensprechende Ich hat die Vereinnahmung nicht bemerkt. Vielleicht irre ich mich; aber wenn nicht, dann sei dies mein Versuch, diesen klammheimlichen Vorgang ins Bewußtsein zu rufen.
Die Originalfassung hat bei mir besonders durch die ersten Zeilen sofort gezündet. "Könnte ich nur einen Riesen sprechen" -- das hat so viel Farbe, daß ich das, als optisch denkender Mensch, nicht übersehen kann; und diese Farbe ist so vollgefüllt mit Sehnsucht, so leidenschaftlich, und in seinen Worten so außergewöhnlich, so spontan und impulsiv, daß die Neufassung nur farblos dagegen wirken kann: "Eines Tages werde ich einen Riesen sprechen". Schade. Für mich stimmt jetzt die Chemie nicht mehr. Statt Sehnsucht und Leidenschaft, sehe ich jetzt eine vatersprachlich verseuchte Trockenheit, eine kühle Abgeklärtheit, eine selbstverständliche Flachheit, über der keine angreifbare Obrigkeit mehr steht (wozu dann überhaupt einen Riesen benötigen?), kein glaubhaftes Unten mehr, welches ein Potential für das dynamische Aufbäumen eines Riesen böte.
Bezeichnend ist auch die Grundsatzfrage bezüglich "stünde" versus" "stände". Den nebensächliche Grundsätze niederschmetternden Riesen hat es nicht zu kümmern, ob es "stünde" zu heißen hat, zumal der Poesie so viel antiorthographische Frechheit gestattet sein muß. Ich hätte zum Trotze geschrieben: "stönde"!
"Könnte ich nur ein mächtiges Wort sprechen." Ein farbloser Satz wie dieser hätte meine Aufmerksamkeit nicht erregt.
Apropos Konjunktiv. Ich kann nicht nachvollziehen, was an ihm ästhetisch oder technisch schlecht sein soll, selbst dann nicht, wenn er das gesamte Gedicht von oben bis unten durchzöhöge, und zwar ohne "würde".
"Deiner Heimat Turm". Das klingt, als wäre in der Neufassung der Turm einer von vielen Gegenständen in der Heimat. Wieder eine vatersprachliche Vereinnahmung des Gedichts. "Deine Heimat Turm" in der Originalfassung hingegen ist die Heimat namens Turm. Der einzige Gegenstand. Das ist konzentrierter und wuchtiger, würde ich meinen.
So bauen die Väter Schritt für Schritt die Dynamik der Originalfassung ab. Das Unten wird verstärkt, das Oben wird abgeschwächt. Die Spannung wird reduziert. Das Impulsive, das Spontane, wird trockengelegt.
Mir scheint, als ginge es in der Neufassung nicht um ein Gedicht, sondern um einen parlamentarisch verhandelten Verfassungstext, in dem sich die unterschiedlichsten Charakterköpfe wiederfinden wollen. In der Demokratie sind Kompromisse essentiell, aber in einem persönlichen Gedicht kann es nur einen einzigen Charakterkopf geben.
Die Neufasssung hat für mich keine Seele mehr. Meine Musik gilt ausschließlich der Originalfassung, nur in ihr bekomme ich optische und akustische Visionen.
Noch eine kleine Anmerkung: ich übertreibe gerne. Ha! Also bitte nicht allzu ernst nehmen, meinen Kommentar hier. Die Neufasssung ist bestimmt auch sehr gut. Ich bin kein Lyriker, ich kann nicht wirklich mitreden.
Nastrovje
Pjotr