Albern? Banausen!
Ich gebe zu, das Bild ist etwas hermetisch, mit ein bisschen Geduld erschließt es sich aber sehr schnell und bietet dann unerwartet viel Raum.
(Warnung: sie begeben sich ins Land der Zeitverschwendung!! Der folgende Text entstand spontan und wurde nicht mehr auf Verträglichkeit getestet!)
Zunächst betrachte man die Zitronen. Sie erscheinen grell und künstlich. Andererseits ist ihr Licht nicht scharf, sondern sogar beruhigend, fast sternengleich. Unser erster Anhaltspunkt: Sterne. Sieben Zitronen, und, kennen wir die Form nicht? In der Tat! Es ist der Große Wagen, verfremdet (siehe unten das Attachement). Die Künstlerin hat hierbei das Bild des Asterismus nicht, wie es bekannt ist, aus dem Sommer, sondern aus dem Winter gewählt und dieses dann gespiegelt (die Deichsel ist auf der richtigen Seite, aber unten statt oben) um dann die beiden letzten Deichselsterne/zitronen aus der eigentlichen Bahn herauszubrechen und in unmöglicher Stellung zu zeigen.
Wir haben es hier gleich mit mehreren Punkten zu tun.
1. Winter vs. Zitrusfrüchte, die mit Sommer assoziiert werden
2. das wieder "bekannt" machen eines Bildes (nämlich des Großen Wagens im Sommer) jedoch in leichter Variation, die sich als totale Entfremdung herausstellte (ich nenne es verdeckte Entfremdung)
3. die dreifache Ephemerisierung des Bildes eines Wagens: durch die Darstellung im Sternbild; durch die Darstellung der Sterne mit Zitronen; durch die Entstellung des eigentlichen Bildes ins Unmögliche (obwohl ja, ein Zusatzparadoxon, die Sterne in alle möglichen Richtungen verdreht werden könnten, nur unser Bild, das wir uns machen, wehrt sich dagegen, dass hier z.B. die Deichsel so verkrümmt wird).
Punkt 2 und 3 führen uns also in die Erkenntnistheorie, da die Künstlerin das Entstehen von Bildern in unserem Kopf durch Erinnerung thematisiert und uns so fragen lässt: wie sehr sind wir von Erkenntnisschemata abhängig? (Wieso müssen wir überhaupt alles in menschliche Kategorien wie "Wagen" pressen? etc.)
Doch dies nur am Rande.
Wir sehen also, dass das "Kompottmännchen" die Deichsel des umgekippten, gespiegelten Wagens in der Hand hält. Verweilen wir zunächst bei den Sternen/Zitronen, und beschauen sie uns genauer. Es fällt auf, dass sie an einem Nicht-Zitronenbaum hängen, was noch einmal die Künstlichkeit/Entfremdung unterstreicht, andererseits ist gerade diese Pflanze, wie man an der Wand dahinter sieht, Schattenspender - über den Begriff der Sterne kommen wir zur Metapher der Nacht. Ein Blick auf die Pflanze zeigt einen weiteren Punkt: der Stamm ist durch das Kompottmännchen verdeckt, wodurch die optische Täuschung (!!) entsteht, die Pflanze stehe nicht im Topf, sondern schwebe in der Luft.
Die "Nacht" (=Blätter des Bäumchens), auf der sich die träumerische Täuschung des Zitronenwagens abspielt, ist also selbst freischwebend.
Dies dürfte die stärkste metaphorische Beschreibung des lyrischen Zustandes sein, die mir je untergekommen ist. Die Nacht/Pflanze verdeckt die rationale Tageshelle; sie ist die lyrische Stimmung, die uns erfasst, wenn wir die Welt mit Dichteraugen - also nicht mehr menschlich, nicht mehr in Kategorien, was sich eben in der Verdrehung des Sternbildes äußert - sehen. Genau aus/auf dieser Stimmung fließt die dichterische Vision, das Traumbild, die verdrehte Wirklichkeit, die je immer schon Interpretation der Welt ist (hier: die Sterne als Wagen interpretiert als Symbol für das analytische Denken; diese Sterne nun aber in der dichterischen Nachtpflanzen im organisch-schaffenden Dichtungsprozess umgewandelt zu dem Bild scheinbar zufälliger Zitronen).
Interessant hierbei noch die eigentlichen Schatten an der Wand dahinter, die wohl so etwas wie eine Kommentarebene darstellen - möglich, dass hier gerade über die Kunst des Fotografierens selbst reflektiert wird (denn normalerweise flirrt dieser Sonnenteppich an der Wand; wie stark und kalt ist da doch der Kontrast zu den geradezu eingravierten Schatten, doch wir schweifen ab).
Dies war also die obere Ebene, nennen wir es das Kunst-Kontinuum.
In dem lyrischen Schatten der Pflanze (in welcher die Idee des Kunstproduktes wie gesagt zitronengelb-wagengleich erstrahlt) steht das Kompottmännchen in Siegerpose und hält den äußersten Deichselpunkt triumphierend in der Hand. Dass das Kompottmännchen der Künstler selbst ist (natürlich als Ideal), ist selbstverständlich. Die Symbolik hier ist umwerfend. Die ganze Szenerie steht ja auf einem Topf Erde - Erde hier als die "wirkliche" Welt zu verstehen. Der Dichter sitzt zwar auf ihr, jedoch - und das ist wichtig! - ohne direkten Kontakt, sondern durch einen weißen Teller der Realität enthoben und gerade erst dadurch in die Möglichkeit versetzt, das Kunstwerk zu beherrschen.
Analysieren wir das Kompottmännchen (=Dichter/Künstler) weiter, fällt neben der geradezu antiken Pose vor allem wiederum die Trennung von tatsächlichem und scheinbaren/künstlichem auf. Das Männchen ist eigentlich ein Kompottglas, das alles Licht spiegelnd von sich weiß. Die Künstlerin weist selbst darauf hin, dass in dieser Form das Glas noch "vermenschlicht" werden muss - denn in der Reinheit dieses Spiegelglases liegt das schreckliche Geheimnis des Menschen an sich, welches notwendig immer das Geheimnis des schaffenden, künstlerischen Menschen sein muss. Dieses ist undurchdringlich, uneinsehbar (=Spiegelglas), im Namen (Kompott) nur ahnbar. Um erträglich zu sein, bedarf es einer Verkleidung, bedarf der "Vermenschlichung" gerade des Menschlichsten. Wieder also haben wir es mit einem Schein zu tun, einer künstlichen Veränderung. Oben jedoch geschah dies mit der "Wirklichkeit" wie sie kategorienhaft (also auch wieder verfälscht) vom Menschen erkannt wird. Die Sterne sind ja kein Wagen, und doch wird ihnen dies untergelegt. In der künstlerischen Ent-Stellung dieser "Scheinwirklichkeit" kommt das wahre Wesen der Sterne zitronenhaft zum Ausdruck.
Hier unten haben wir es mit einer anderen Art von Dichtung zu tun, denn hier wird das wahre Wesen verkleidet, um überhaupt schaubar zu werden. Und es ist gerade der triumphierende Künstler, der falsch wahrgenommen werden muss, um erkannt zu werden! (Ohne das künstliche "Männchen" könnte das Kompottglas nicht die Deichsel halten, könnte es kein Künstler sein). In der unteren Ebene geht es also um die Künstlerexistenz, während es oben um das Kunstschaffen geht.
Die Vergänglichkeit der "Beherrschung" des künstlerischen Objekts (=das Halten der Deichsel) wird gekonnt durch das nichtende Weiß um den rechten, haltenden Arm dargestellt. So siegesgewiß das Männchen auch schauen mag, immer schwebt über allem die Vergänglichkeit auch des Kunstereignisses (man erinnere sich an die Schattenwand) - und nun wird die Deutung zur Spekulation, denn die Augen sind ohne Ausdruck: flieht der Künstler (=das Männchen) vor dieser Vergänglichkeit, dem Nichts, gerade in die Kunst? Wendet er deshalb die Augen ab vom gleißenden Licht der Rationalität (Beleuchtung von rechts, Augen nach links?). Oder will die Künstlerin gerade damit auf die heilsame Wirkung der Kunst deuten, die uns immer wieder im Leben halten kann, uns wieder dazu verführen kann?
Dieses letzte Element der Bitterkeit ist überraschenderweise schon im Wesen der zentrale Metapher, also der Zitrone angelegt, welche an der Pflanze, die ja auch für das Leben steht, wächst. Der Kreis schließt sich.
Ein Meisterwerk!! Wo kann ich bieten?
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