Der vierte Sohn

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 14.02.2010, 21:29

Er war der vierte von sieben Söhnen.
Sie waren alle im Krieg.
Einer in Stalingrad.
Einer bei den Partisanen Titos.

Mein Vater konnte Kyrillisch lesen und schreiben.
Und dennoch wollte er nicht mehr in Schuhbäddele gehn:
Wohinter er verbarg, dass er aus dem serbischen Lyzeum
Ausgewiesen wurde, wegen seines Hangs zu Schlägereien.
Er behauptete später, aus Kroatien zu stammen.
Sicher war er überzeugter Nationalsozialist
Und wartete sehnsüchtig darauf,
Unter Deutschen wieder Deutscher zu sein.
Zuvor hat er den Militärdienst auf seiten des Mihailovic abgeleistet,
Gegen die Partisanen Titos.

Sicher wurde er mit Halsdurchschuss ins deutsche Lazarett eingeliefert.
Ich habe die tätowierte Blutgruppe gesehen. A.
Sicher wurde er zum Feldwebel befördert.
Und ja, seine Uniform hat damals Peter Wrobel fasziniert,
Der die kleinste Insignie zu deuten vermochte.
Ich brauchte Jahrzehnte dazu.

Mein Vater weckte mich nachts, als die Fabrik brannte,
Wo er Hilfsarbeiter war.
Zwei Jahre vor meinem Abschied ohne Wiederkehr
Schenkte ich ihm das Kapital.
Er sagte Politik ist ein schmutziges Geschäft.
Ich war achtzehn.
Er fünfzig.

Zwei Jahre später,
Ein väterlicher Fluch.
Ich hasste ihn zehn Jahre lang.
Dann liebte ich ihn wieder.
Ich bin der letzte Mensch, der von ihm
So viel
weiß.

(kleine Änderung: Absätze + Bäddele = Stoffschuhe (statt Bättle)
Zuletzt geändert von Renée Lomris am 16.02.2010, 19:48, insgesamt 4-mal geändert.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 15.02.2010, 15:26

aber doch eine "épitaphe" (eine Grabinschrift)

Vielleicht kommt es zu dick aufgetragen daher, zu vergangenheitsbelastet ...

ich würde mich über eure Kritik freuen.

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 15.02.2010, 16:19

Hallo Renée,

mir gefällt "Der vierte Sohne" ausnehmend gut, insbesondere das stete und sehr gelungene Hin und Her zwischen (faktischer) Gewissheit (eingeleitet durch "sicher") und (emotionalem) Zweifel. Zweifel an seiner Person und seiner Liebe, aber auch der Liebe des lyrischen Ichs zu ihm. Hier wird eine Vater-Kind-Beziehung geschildert, die be- und vorbelastet ist, aber zu jedem Zeitpunkt lebendig erscheint, weil sie Brüche nicht verleugnet oder qua familiärem Zusammenhang übertüncht, idealisiert, verleugnet oder gänzlich negiert, sondern eben jenen familiären Zusammenhang zum einen historisch betrachtet (er war der vierte, und alle waren im Krieg), zum anderen auf der Ich-Du-Ebene privatim ehrlich reflektiert.
Mir gefällt auch, dass Du zu keinem Zeitpunkt in irgendeine Form von Mitleid verfällst, gleichzeitig aber eine mit Gefühlen durchzogene Haltung wahrst, die diese Draufschau vom bloßen Abbild zum Bildnis eines Vaters erhebt.

Toller Text.

Zwei Änderungsvorschläge: "Kyrillisch" wird hier groß geschrieben und Militärdienst "abgeleistet" nicht "abgestattet".

Gruß
Rosebud

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 16.02.2010, 14:06

Hallo Rosebud,

hab mich ganz besonders gefreut ûber deinen Kommentar. Das mit dem Mitleid: ich hüte mich sehr vor Selbstmitleid, aber abgesehen davon, dass ich keinen Grund dazu sehe (!?), lauert es doch beharrlich in Biographien aller Arten und will mit rein, ins "Bild". Deshalb werde ich hellhörig, wenn du sagst:

Rosebud hat geschrieben:
Mir gefällt auch, dass Du zu keinem Zeitpunkt in irgendeine Form von Mitleid verfällst,


denn: eine Spur ist gelegt, die dich drauf bringt, "es könnte" darauf hinauslaufen.

Aber schön, wenn dann die Frage, die sich stellt, verneint wird ...

Ich hab korrigiert, was du zu Recht angemerkt hast.

Ich suche noch nach einem besseren Begriff für "Abkehr" und habe nichts gefunden, oh doch, grade eben fällt mir was ein, ich schreibs mal hin. Mal sehen ob es passt?

Danke!!

liebe Grüße
Renée

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 16.02.2010, 18:35

Hallo Reneé,

was ist denn ein Schuhbättle? Google bringt mir nur einen Treffer, und zwar Deinen Text.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 16.02.2010, 18:43

Hallo Sethe,

Danke für den Hinweis mit Google ... naja, ich denke immer, ein Baum kann sich im Wald verstecken

Also Schuhbaddele, bäddele (vielleicht besser mit d, aber im Dialekt recht hart ausgesprochen : das sind Stoffschuhe, die handgefertigt waren. Kinder trugen sie, und Frauen, bei Hausarbeit. Auf dem Feld trug man richtige Schuhe - also "teure" Schuhe, die auch ausdrückten, dass man erwachsen war, bzw schuftete wie einer (mit 10, 11, war man es zumindest, was die Feldarbeit anging.

vielleicht ist baddele besser.

viele Grüße
Renée

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Beitragvon Sethe » 16.02.2010, 18:53

Aha. Danke. Wo kommt den das Wort bzw. der Dialekt genau her?

Ich frage deshalb, weil ich im Moment noch nicht sortiert bekomme, wer denn nun wo bei wem bzw. gegen wen gekämpft hat.
Zuerst steht im Text bei den Partisanen Titos, dann steht dort bei Mihailovic, und damit gegen die Partisanen Titos, dann wurde er Feldwebel, also wohl bei der Wehrmacht. Ein deutscher Nationalsozialist in den Reihen serbischer Nationalisten gegen die Deutschen und gegen Tito, dann wieder als Feldwebel bei den Deutschen?
Ist mir nicht ganz klar.
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 16.02.2010, 19:20

Ganz einfach, wenn nur die Geschichte einfach wäre.

Serbien vor 1942 = es gibt drei Armeen, Partisanen (Tito) Kroaten = auf deutscher Seite Miahlovic gilt als serbischer Nationalist, hat aber ebenfalls objektiv den Deutschen keinen Widerstand entgegengesetzt und bekämpfte die Partisanen. Als serbischer Staatsbürger leisteten die Donauschwaben ihren Militärdienst für die reguläre serbische Armee ab. (Mihailovic) wurden dann auch in den Krieg eingezogen. Volksdeutsche wurden von den Deutschen sofort in SS eingereiht.

Ansonsten gab es in dieser donauschwäbischen (=volksdeutschen) Familie sieben Söhne, alle waren im Krieg, also sechs letzten Endes bei der SS, einer (!) hatte immerhin den Schritt zu den Partisanen gewagt. Deutschsprachig, waren vor allem junge Männer auch zweisprachig und sprachen fließend serbisch.

Sehr komplex. Aber das Hin-und Her war für alle verwirrend - nur genaue Kenner der Kriege auf dem Balkan erkennen Einzelnes.

Vielleicht stört das ...

eigentlich kein Hin-und Her, sondern ein Hin zur SS ...

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 16.02.2010, 20:33

Alles klar, ich kann jetzt einordnen. Donauschwaben.

Ich hatte irrtümlich die Zeile "Einer bei den Partisanen Titos" auch auf den vierten Sohn bezogen, und war daher bei den nachfolgenen Passagen etwas aus den Takt geraten.

Jetzt habe ich es verstanden. Danke.
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)


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