Der Zirkus
Der Tag bricht an, es ist ein Spätsommermorgen. Von den Dächern der Baracken heben sich Dunstschwaden in einen wolkenlosen Himmel. Das Lager liegt ruhig, es ist still. Menschen stehen schweigend in einem großen Raum. Erste Sonnenstrahlen dringen ein und eine Stimme fragt in anteilnehmender Sorge:
„Sagen Sie, gute Frau, was hat das Kind?“
„Es liegt im Fieber, die Nacht war schlimm, aber mir ist, als wäre es überstanden.“
Langsam dreht der Junge sein Gesicht, die Augen glänzen, als er zu sprechen beginnt: „Mutter, sag mir bitte, was du draußen vor dem Fenster siehst, was geschieht?“
„Mein Sohn, so weit ich sehen kann, erblicke ich lauter Wagen von stampfenden Pferden gezogen. Mit welcher Disziplin die Rosse im Gespann einhergehen, bunte Federn tragen sie auf ihren Häuptern und die Karren, ich sag’s dir, herrlich geschmückt und überall sind Fahnen. Leute, hundert, nein tausend springen ausgelassen auf der Straße. Sie tanzen und singen, und da, ich seh's so deutlich, als wär ich unter ihnen, da ist ein Clown, dort ein zweiter und ein dritter, ein vierter. Sie schlagen Räder, zaubern lustige Sachen aus ihren Hüten und fortwährend bewerfen sie die Menge mit unzähligen Blüten. Sie winken zu uns her, ich seh's ganz deutlich, sie meinen uns hier, hinter dem Fenster.“
„Mutter, siehst du auch wilde Tiere?“
„Ja, wilde Tiere, eins nach dem anderen! Kamele, Elefanten, unvorstellbar in ihrer Größe und gewaltig. Und dort, in den Käfigen, ein Löwe, ein Bär und zwei Tiger, wie ihre Zähne blitzen, zum Fürchten ist es. Dem Himmel sei's gedankt, sind sie alle hinter Gittern, aber der bloße Anblick, als hätten sie Feuer im Mund, ich sag's dir, beinahe unerträglich ist mir ihre Wildheit.“
„Mutter, sag es schnell, was siehst du noch?“
„Ja, mein Junge, sie bleiben stehen, mitten auf der Straße! Viele Hände arbeiten unentwegt, ein Gerüst wird aufgestellt, und da, eine große Plane auseinander gelegt. Kind, jetzt weiß ich's, es ist ein Zirkus, der gekommen ist! Hörst du sie, hörst du, wie die Menschen jubeln?“
„Mutter, ach liebe Mutter, bitte gehe mit mir dahin.“
„Ja mein Sohn, dorthin wollen wir gehen, bald, wir werden uns schön machen und die besten Kleider anziehen und dann gehen wir, ich versprech es dir.“
„Mutter sieh, ein Mann tritt ein, er winkt so fordernd in den Raum, als hätte er großen Unmut. Sag, was möchte er von uns?“
„Ach Junge, du irrst dich, der Herr will uns nur den Weg zeigen, dorthin, wo sich die Waschräume und Duschen befinden. Komm, ich trage dich.“
„Ja, Mutter.“
Glücklich lächelt das Kind.
Thema: Aufbruch. Titel: Der Zirkus
Hallo Sibirier,
ich hoffe, es ist OK, wenn ich bei einem ersten Kommentar zu einem deiner Texte gleich einen sehr kritischen Kommentar schreibe.
Der Text wirkt auf mich sehr intentiös - durch die Baracken und die Duschen wird der Leser unmittelbar zu der Vorstellung hingelenkt, was eigentlich - also im Unterschied zu dem, was die Mutter dem Kind schildert - geschieht: dass sie beide gleich (von Nationalsozialisten oder einem ähnlich fiktiven Regime) umgebracht werden. Das ist auf eine scheinbar sprachkompositorisch versteckte Weise überdeutlich.
Weiterhin der Sprachstil: Die Mutter spricht um mindestens ein Jahrhundert entrückt (und das Kind haucht seine Glaubenstreue an die Mutter in gleicher Art "Ja, Mutter" , "Ja Mutter"), so dass das ganze für mich einen gewollt herzzerreißenden Ton erzeugt (der mich in diesem Kontext übrigens dann auch an das überhöhte Mutterbild der Nationalsozialisten erinnert/zu diesem durchaus parallel kontruiert ist). Das ganze gipfelt in dem Schlusssatz: "Glücklich lächelt das Kind.", der noch einmal auf die Diskrepanz zwischen der Realität und dem, was die Mutter erzählt, hinweist und zugleich auch ausdrücken soll, dass das Kind tatsächlich, in einem wirklichem Sinne "glücklich" ist - ich fürchte, hier soll nicht nur die Furchtbarkeit, in der sich die beiden befinden, geschildert werden, sondern vielleicht auch, dass die Mutter (voller Liebe) das einzig richtige tut nur ein Nebenaspekt - aber auch den kann ich nicht schlucken, das steht alles so eindeutig und rein und in einer Süße da, dass ich das nicht als "richtig" annehmen kann - fast schlägt der Text schon über in eine ironische Kritik von Geschichten, die so erzählend verfahren, aber das traue ich ihm dann doch nicht zu.
Da das ganze dann auf das Vergangenheitsbewältigungsthema der Deutschen schlechthin anspielt, macht das ganze dann auch noch einmal plakativ in meinen Augen - die Geschichte wirkt auf mich, als ob man schon allein des Themas (grausame Ereignisse im Nationalsozialismus) und der Protagonisten (innigste Mutter-Kind-Verbindung) wegen gerührt und betroffen sein müsste - und genau das - verstärkt durch den Stil - verdirbt es mir dann. Ich sehe keine tatsächliche Auseinandersetzung mit Geschichte oder menschlichen Schicksalen, sondern ein klischeegeladenes, überdeutlich an mich herangetragenes Angebot, das nichts Reales mehr trifft.
Die Geschichte kann mich also nicht überzeugen.
liebe Grüße,
Lisa
ich hoffe, es ist OK, wenn ich bei einem ersten Kommentar zu einem deiner Texte gleich einen sehr kritischen Kommentar schreibe.
Der Text wirkt auf mich sehr intentiös - durch die Baracken und die Duschen wird der Leser unmittelbar zu der Vorstellung hingelenkt, was eigentlich - also im Unterschied zu dem, was die Mutter dem Kind schildert - geschieht: dass sie beide gleich (von Nationalsozialisten oder einem ähnlich fiktiven Regime) umgebracht werden. Das ist auf eine scheinbar sprachkompositorisch versteckte Weise überdeutlich.
Weiterhin der Sprachstil: Die Mutter spricht um mindestens ein Jahrhundert entrückt (und das Kind haucht seine Glaubenstreue an die Mutter in gleicher Art "Ja, Mutter" , "Ja Mutter"), so dass das ganze für mich einen gewollt herzzerreißenden Ton erzeugt (der mich in diesem Kontext übrigens dann auch an das überhöhte Mutterbild der Nationalsozialisten erinnert/zu diesem durchaus parallel kontruiert ist). Das ganze gipfelt in dem Schlusssatz: "Glücklich lächelt das Kind.", der noch einmal auf die Diskrepanz zwischen der Realität und dem, was die Mutter erzählt, hinweist und zugleich auch ausdrücken soll, dass das Kind tatsächlich, in einem wirklichem Sinne "glücklich" ist - ich fürchte, hier soll nicht nur die Furchtbarkeit, in der sich die beiden befinden, geschildert werden, sondern vielleicht auch, dass die Mutter (voller Liebe) das einzig richtige tut nur ein Nebenaspekt - aber auch den kann ich nicht schlucken, das steht alles so eindeutig und rein und in einer Süße da, dass ich das nicht als "richtig" annehmen kann - fast schlägt der Text schon über in eine ironische Kritik von Geschichten, die so erzählend verfahren, aber das traue ich ihm dann doch nicht zu.
Da das ganze dann auf das Vergangenheitsbewältigungsthema der Deutschen schlechthin anspielt, macht das ganze dann auch noch einmal plakativ in meinen Augen - die Geschichte wirkt auf mich, als ob man schon allein des Themas (grausame Ereignisse im Nationalsozialismus) und der Protagonisten (innigste Mutter-Kind-Verbindung) wegen gerührt und betroffen sein müsste - und genau das - verstärkt durch den Stil - verdirbt es mir dann. Ich sehe keine tatsächliche Auseinandersetzung mit Geschichte oder menschlichen Schicksalen, sondern ein klischeegeladenes, überdeutlich an mich herangetragenes Angebot, das nichts Reales mehr trifft.
Die Geschichte kann mich also nicht überzeugen.
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Hallo liebe Lisa
Danke, für deine wirklich sehr ausführliche Stellungnahme zu diesem Text.
Du hast erkannt, dass die verwendete Sprache zu alt ist für diese Epoche. Richtig erkannt.
Es geht mir in diesem Text weder um eure deutsche Vergangenheit, noch um ein Tränendrüsendrücken, sondern einzig und allein um die dargestellte Illusion. Das Lager ist nur der Rahmen, die Waschräume und das glückliche Kind, die Pointe.
derSibirier grüßt
Danke, für deine wirklich sehr ausführliche Stellungnahme zu diesem Text.
Du hast erkannt, dass die verwendete Sprache zu alt ist für diese Epoche. Richtig erkannt.
Es geht mir in diesem Text weder um eure deutsche Vergangenheit, noch um ein Tränendrüsendrücken, sondern einzig und allein um die dargestellte Illusion. Das Lager ist nur der Rahmen, die Waschräume und das glückliche Kind, die Pointe.
derSibirier grüßt
Lieber Sibirier,
ich denke, dass diese Rahmenargumentation nicht möglich ist. Deine Verweise sind so eindeutig ([b]Baracken, Dunstschwaden in einen wolkenlosen Himmel, Lager, Waschräume und Duschen), sie legen die Wahrnehmung zu fest für deine Intention, da sieht man kein Rahmen und kein Bild mehr, sondern eine feste Szenerie und die funktioniert wie gesagt für mich nicht - ich würde also ggf. überlegen, solche genauen Details dann allgemeiner zu gestalten.
liebe Grüße,
Lisa
ich denke, dass diese Rahmenargumentation nicht möglich ist. Deine Verweise sind so eindeutig ([b]Baracken, Dunstschwaden in einen wolkenlosen Himmel, Lager, Waschräume und Duschen), sie legen die Wahrnehmung zu fest für deine Intention, da sieht man kein Rahmen und kein Bild mehr, sondern eine feste Szenerie und die funktioniert wie gesagt für mich nicht - ich würde also ggf. überlegen, solche genauen Details dann allgemeiner zu gestalten.
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Hallo Sibirier,
Lisa hat ja schon einiges zu deinem Tet geschrieben, dem ich mich auch voll und ganz anschließen kann. Nun hast du ihre Bedenken damit vom Tisch gewischt, dass du behauptest es ginge dir nur um die Illusion. Daraus schließe ich, der Rahmen ist dir nicht wichtig. In einer solch kurzen Geschichte ist aber alles wichtig, weil jedes Detail dazu beiträgt, das Komprimierte im Leser aufzufächern und so ein komplexes Bild entstehen zu lassen.
Tatsächlich ist nämlich die Illusion in der Konzeption dieses Textes das Unwichtigste, weil sie vom Leser sofort erfasst wird. Was viel schwerer wiegt, ist einmal der Rahmen, also Lager/Duschkabinen und die altertümliche Sprache der Mutter. diese beiden Dinge greifen wie eine Zange um die dargestellte Illusion, und nur wenn der Leser diesen Griff für sich aufzulösen vermag, kann sie ihre Wirkung entfalten.
Mir gelingt diese Auflösung nicht, aus den schon von Lisa angeführten Gründen.
Interresant finde ich diese Aussage:
Nun, selbst wenn diese "deutsche Vergangenheit" nicht die deine ist, ist der Text auf deutsch geschrieben (oder übersetzt) und wird hier einer deutschen Leserschaft vorgestellt. Es ist also entweder sehr naiv oder zeugt von einer nicht vorstellbaren Unkenntnis der Geschichte, wenn man denkt, dass der Leser hier keinen Bezug zu KZ und Gaskammern herstellt würde, sondern sich nur mit der Darstellung einer Illusion begnügt.
Gruß
Sam
Lisa hat ja schon einiges zu deinem Tet geschrieben, dem ich mich auch voll und ganz anschließen kann. Nun hast du ihre Bedenken damit vom Tisch gewischt, dass du behauptest es ginge dir nur um die Illusion. Daraus schließe ich, der Rahmen ist dir nicht wichtig. In einer solch kurzen Geschichte ist aber alles wichtig, weil jedes Detail dazu beiträgt, das Komprimierte im Leser aufzufächern und so ein komplexes Bild entstehen zu lassen.
Tatsächlich ist nämlich die Illusion in der Konzeption dieses Textes das Unwichtigste, weil sie vom Leser sofort erfasst wird. Was viel schwerer wiegt, ist einmal der Rahmen, also Lager/Duschkabinen und die altertümliche Sprache der Mutter. diese beiden Dinge greifen wie eine Zange um die dargestellte Illusion, und nur wenn der Leser diesen Griff für sich aufzulösen vermag, kann sie ihre Wirkung entfalten.
Mir gelingt diese Auflösung nicht, aus den schon von Lisa angeführten Gründen.
Interresant finde ich diese Aussage:
Es geht mir in diesem Text weder um eure deutsche Vergangenheit...
Nun, selbst wenn diese "deutsche Vergangenheit" nicht die deine ist, ist der Text auf deutsch geschrieben (oder übersetzt) und wird hier einer deutschen Leserschaft vorgestellt. Es ist also entweder sehr naiv oder zeugt von einer nicht vorstellbaren Unkenntnis der Geschichte, wenn man denkt, dass der Leser hier keinen Bezug zu KZ und Gaskammern herstellt würde, sondern sich nur mit der Darstellung einer Illusion begnügt.
Gruß
Sam
Hallo Sibirier,
nur ein Wortspiel zu diesem ernsten Thema? Das geht für mich nicht.
Dann hättest du m.E. nicht diesen Rahmen wählen dürfen. Du schreibst, es ginge ausschließlich um die Illusion. Das lässt mich an "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni denken. Doch dafür fehlt mir in diesem Text die Sensibilität, um mit diesem Thema umzugehen.
Saludos
Gabriella
derSibirier hat geschrieben:es ist nur ein Wortspiel, liebe Lisa, ein Text, mehr ist es nicht.
nur ein Wortspiel zu diesem ernsten Thema? Das geht für mich nicht.
derSibirier hat geschrieben:Es geht mir in diesem Text weder um eure deutsche Vergangenheit
Dann hättest du m.E. nicht diesen Rahmen wählen dürfen. Du schreibst, es ginge ausschließlich um die Illusion. Das lässt mich an "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni denken. Doch dafür fehlt mir in diesem Text die Sensibilität, um mit diesem Thema umzugehen.
Saludos
Gabriella
Lieber Sibirier,
Hm, ich habe auch nicht behauptet, dass er was anderes ist als ein Text und habe ihn auch nur als solchen behandelt.
Jedenfalls verlange ich nicht, dass du wegen meiner einzelnen Anmerkung den Text änderst, wenn er für dich so passt, ich wollte nur anmerken, was warum für mich nicht funktioniert.
liebe Grüße,
Lisa
es ist nur ein Wortspiel, liebe Lisa, ein Text, mehr ist es nicht.
Hm, ich habe auch nicht behauptet, dass er was anderes ist als ein Text und habe ihn auch nur als solchen behandelt.
Jedenfalls verlange ich nicht, dass du wegen meiner einzelnen Anmerkung den Text änderst, wenn er für dich so passt, ich wollte nur anmerken, was warum für mich nicht funktioniert.
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
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