Pompondahlien

Quoth
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Beitragvon Quoth » 12.10.2010, 20:20

Pompondahlien
(Überarbeitete Version)

Meine Situation ist völlig normal und in Ordnung. Meine Familie liebt mich, ich verdiene genug, wir haben unser Haus gerade schuldenfrei, was ja auch nicht selbstverständlich ist, gucken Sie sich die Amerikaner an, die sich übernommen und uns in die Krise gerissen haben. Nein, es geht uns gut, und gerade deshalb ist es ja so unbegreiflich für mich! Warum bin ich nicht glücklich? Warum bin ich sogar das Gegenteil? Warum komme ich morgens nicht aus dem Bett?

Mein liebster Ort, wissen Sie, war immer mein Gartenhaus. Wir haben eine Parzelle im Kleingartenverein, und da habe ich alles – Stangenbohnen, Zuckererbsen, Schnittsalat, Porree, Grünkohl – und Dahlien. Dahlien sind meine Lieblingsblumen. Wussten Sie, dass sie früher Georginen hießen? Ein viel schönerer Name! Bei Dahlien denkt man doch eher an Schweden als an Mexiko ... Entschuldigen Sie, ich schweife ab. Ja, was soll ich sagen? Vor dem Gartenhaus steht eine Bank. Und auf dieser Bank zu sitzen, während die Sonne die roten Pompondahlien zum Leuchten bringt, das war immer mein Schönstes. Aber nun ... Ich traue mich überhaupt nicht mehr hin. Ja, sie wollen die B208 ausbauen, und das bedeutet für viele von uns Verlust der Parzelle und des Häuschens. Aber das ist es nicht. Im Gegenteil. Ich freue mich fast. Endlich diesen Ort zerstören, an dem ich so viel Zeit verplempert habe. Ja, verplempert! Dieses gedankenlose Dasitzen, Vorsichhinstarren und ...

Wenn ich mich heute dahin setze, kann die Sonne scheinen, so viel sie will. Die Dahlien sind verblüht. Ich müsste die Knollen ins Gartenhaus bringen. Sollen sie Frost bekommen! Ich habe sie geliebt! Ich hätte sie küssen können, jede einzelne. Libgart, meine Frau, sagt, ich solle mich nicht so gehen lassen. Aber ich lasse mich nicht gehen. Es ist doch alles sinnlos! Was habe ich erreicht? Ich bin Bürovorsteher in der KONKORDANZ. Toll! Was ist das schon? Aber selbst wenn ich Generaldirektor wäre ... Ach, wissen Sie, Rüllmann. Der fleißigste von allen und wird übergangen, als der General neu zu besetzen ist. Er hat sich oben ins mittlere O der Leuchtschrift gestellt und ist „versehentlich herabgestürzt“. Wer’s glaubt, wird selig.

Ein anderer Spruch von Libgart: „Das renkt sich schon wieder ein.“ Es macht mich so hilflos, wenn sie das sagt. Was hat sich denn da ausgerenkt? Meine Seele? Hab ich die? Es ist alles so – zufällig! Verstehen Sie? Zufällig habe ich Versicherungskaufmann gelernt, zufällig habe ich die Stelle gefunden, zufällig habe ich Libgart kennengelernt, zufällig sind diese und keine anderen Kinder daraus entstanden. Alles könnte auch anders sein, wissen Sie? Warum bin ich nicht Sie? Warum sind Sie nicht ich? Warum ist alles, wie es ist? Hören Sie auch immer dies weiße Rauschen, wenn alles still ist?

Libgart sagt, das sei mein eigenes Blut, das ich in den Ohren rauschen höre. Sie stellt dann das Radio an, in dem gerade zufällig irgendein Wunschkonzert irgendeinen Satz aus irgendeinem Konzert von irgendeinem Komponisten spielt. Ich fliehe dann in das Gartenhaus. Dort habe ich meine Ruhe und kann auf das Rauschen des Verkehrs auf der B208, auf das Rauschen meines Blutes in den Ohren hören. Was erzählt es mir? Nichts! Was bin ich? Nichts! Was kann ich aus mir noch machen? Nichts! Wohin ich schaue, gähnt Nichts mich an. Ich bin schon in verschiedene Kirchen gerannt. Aber da wird alles noch schlimmer. Was für ein Sinn liegt denn darin, Leib und Blut eines Verstorbenen symbolisch zu vertilgen? Ich glaube nicht mehr, dass mir zu helfen ist. Geben Sie sich keine Mühe. Lassen Sie mich gehen. Ich bin nur noch eine Hülse meiner selbst.



Erstfassung
Meine Situation ist völlig normal und in Ordnung. Meine Familie liebt mich, ich verdiene genug, wir haben unser Haus gerade schuldenfrei, was ja auch nicht selbstverständlich ist, gucken Sie sich die Amerikaner an, die sich übernommen und uns in die Krise gerissen haben. Nein, es geht uns gut, und gerade deshalb ist es ja so unbegreiflich für mich! Warum bin ich nicht glücklich? Warum bin ich sogar das Gegenteil? Warum komme ich morgens nicht aus dem Bett? Mein liebster Ort, wissen Sie, war immer mein Gartenhaus. Wir haben eine Parzelle im Kleingartenverein, und da habe ich alles – Stangenbohnen, Zuckererbsen, Schnittsalat, Porree, Grünkohl – und Dahlien. Dahlien sind meine Lieblingsblumen. Wussten Sie, dass sie früher Georginen hießen? Ein viel schönerer Name! Bei Dahlien ... Entschuldigen Sie, ich schweife ab. Ja, was soll ich sagen? Vor dem Gartenhaus steht eine Bank. Und auf dieser Bank zu sitzen, während die Sonne meine Pompondahlien zum Leuchten bringt, das war immer mein Schönstes. Aber nun ... Ich traue mich überhaupt nicht mehr hin. Ja, sie wollen die B208 ausbauen, und das bedeutet für viele von uns den Verlust der Parzelle und des Häuschens. Aber das ist es nicht. Im Gegenteil. Ich freue mich fast. Endlich diesen Ort zerstören, an dem ich so viel Zeit verplempert habe. Ja, verplempert! Dieses gedankenlose Dasitzen, Vorsichhinstarren und ... Keine Ahnung. Wenn ich mich heute dahin setze, kann die Sonne scheinen, so viel sie will. Die Dahlien scheren mich einen Dreck. Verzeihung, das ist übertrieben. Aber ich habe sie so geliebt! Ich hätte sie abküssen können, jede einzelne. Libgart, das ist meine Frau, sagt, ich soll mich nicht so gehen lassen. Aber ich lasse mich nicht gehen. Es ist doch alles so sinnlos! Was habe ich denn erreicht? Ich bin Bürovorsteher in der KONKORDANZ. Toll! Was ist das schon? Aber selbst wenn ich Generaldirektor wäre ... Ach, wissen Sie, Rüllmann. Der fleißigste von allen und wird übergangen, als der General neu zu besetzen ist. Er hat sich oben ins mittlere O der Leuchtschrift gestellt und ist „versehentlich herabgestürzt“. Wer’s glaubt, wird selig. Ein anderer Spruch von Libgart: „Das renkt sich schon wieder ein.“ Ich könnte sie erwürgen, wenn sie sowas sagt. Sie begreift nicht, wie heftig und unwiderleglich das Unbegreifliche ist, woran ich leide. Es ist alles so – zufällig! Verstehen Sie? Zufällig habe ich Versicherungskaufmann gelernt, zufällig habe ich die Stelle gefunden, zufällig habe ich Libgart kennengelernt, zufällig sind diese und keine anderen Kinder daraus entstanden. Alles könnte auch anders sein, wissen Sie? Warum bin ich nicht Sie? Warum sind Sie nicht ich? Warum ist alles, wie es ist? Hören Sie auch immer dies weiße Rauschen, wenn alles still ist? Libgart sagt, das sei mein eigenes Blut, das ich in den Ohren rauschen höre. Sie stellt dann das Radio an, in dem gerade zufällig irgendein Wunschkonzert irgendeinen Satz aus irgendeinem Konzert von irgendeinem Komponisten spielt. Es ist entsetzlich. Ich fliehe dann in das Gartenhaus. Dort habe ich meine Ruhe und kann auf das Rauschen meines Blutes in den Ohren hören. Was erzählt es mir? Nichts! Was habe ich erreicht? Nichts! Was kann ich aus mir noch machen? Nichts! Wohin ich schaue, gähnt Nichts mich an. Ich bin schon in verschiedene Kirchen gerannt. Aber da wird alles noch schlimmer. Was für ein Sinn liegt denn darin, Leib und Blut eines Verstorbenen symbolisch zu vertilgen? Ach, es ist alles so furchtbar! Helfen Sie mir! Bitte helfen Sie mir!
Zuletzt geändert von Quoth am 15.10.2010, 18:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Beitragvon Amanita » 12.10.2010, 23:48

Sind schöne Stellen drin - z. B. "Hören Sie auch immer dies weiße Rauschen, wenn alles still ist?" oder das Resignieren vor der Zufälligkeit, auch gefällt mir dieses (wohl) depressive Schwanken innerhalb des Textes, das Schlechtreden (oder -denken) seines Lieblingsplatzes.
Nur bekommt der Mann bei mir so recht keine Kontur, ich weiß zwar (oder vertu' ich mich?), er ist depressiv, aber manchmal erscheint er doch nur als "Knötterkopp". Ich glaube, es sind Begriffe wie entsetzlich oder furchtbar haben einfach zuviel "Power", um der depressiven Lähmung zu entsprechen, die er ja am Anfang selbst anspricht: "Warum kommeich morgens nicht aus dem Bett?"

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Beitragvon Quoth » 13.10.2010, 20:05

Hallo, Amanita,
die Texte zum Thema des Monats, "Angst", waren überwiegend Extremsituationen gewidmet, in denen Todesangst usw. dominiert. Ich wollte hier ein anderes Gesicht der Angst zeigen, ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht, eine Art von existenzieller Angst, die einer Provokation durch besonders Bedrohliches nicht bedarf, sondern gerade in der Sicherheit und gerade bei etwas "spießig" organisierten Menschen aufbricht. Ich weiß nicht, ob mein Protagonist depressiv ist, er ist jedenfalls in Not, und Libgart ihn sicherlich für einen bloßen "Knötterkopp" - nur dass solche Knötterköppe dann auch schon mal von Brücken springen. "Entsetzlich" und "furchtbar" sind für mich total abgenutzte und plattgemachte Begriffe, die wir auf Mückenplage, leicht überhöhte Temperatur und länger dauerndes Regenwetter anwenden.
Mit Dank für Befassung
Quoth
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Beitragvon Amanita » 13.10.2010, 20:15

Quoth, ich glaube, Dein ursprüngliches Anliegen einigermaßen erkannt zu haben - die "furchtbare" Alltäglichkeit und das Verzweifeln darin, wo es doch gerade keine akute Bedrohung gibt. Alles, was Dein Text in dieser Hinsicht bei mir ausgelöst oder erreicht hat, habe ich auch bereits positiv erwähnt.

Es ist einzig und allein der Typ Mensch, der für mich nicht plausibel rüberkommt. Natürlich sind entsetzlich und furchtbar abgenutzte Begriffe ... aber wenn Du sie dem Ich - wie heißt das Prosa-Ich??? - in den Mund legst, bekommen sie damit ja was Ironisierendes, was die angesprochenen "Konturen" dieses Ich für mich wiederum stört.

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Beitragvon Quoth » 15.10.2010, 18:11

Hallo, Amanita, ich hab den Text überarbeitet und die von Dir beanstandeten Jammerworte herausgenommen. Außerdem habe ich zum Zweck besserer Lesbarkeit Absätze eingefügt.
Das Prosa-Ich hat bisher keinen Namen. Es ist aber dasselbe wie in den beiden "Bürotagebüchern".
Gruß
Quoth
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Beitragvon Amanita » 17.10.2010, 19:19

Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber mir kommt die überarbeitete Fassung wirklich besser vor, strukturierter!

Gleichwohl bin ich doch noch über zwei Stellen gestolpert:

"Nichts! Wohin ich schaue, gähnt Nichts mich an". - Ich finde, das braucht's gar nicht ... dass es diese Momente gibt, erschließt sich dank des Textes von selbst. Es wirkt hier aber sogar unlogisch, weil der Typ doch immer wieder von seiner Umgebung erzählt, die für ihn zwar zusehends grauer und leerer wird, in der es aber doch noch einige Erinnerungen gibt oder etwas, was ihn stört ("Was für ein Sinn liegt denn darin, Leib und Blut eines Verstorbenen symbolisch zu vertilgen?" - das ist nicht Nichts, sondern schon noch ein Sich-Auflehnen).

2. Stolperstelle: "Lassen Sie mich gehen. Ich bin nur noch eine Hülse meiner selbst." Da, meine ich, ist der zweite = allerletzte Satz ebenfalls überflüssig, denn das Resümee ist schließlich das, was uns beim Lesen eh klar geworden ist. "Lassen Sie mich gehen" wäre für mich auch ein sehr passender Schluss, zumal er offenlässt, ob der Mann sich therapieren lässt, einen neuen Anfang vorhat oder sich umbringt.

Dass er keinen Namen hat, stört selbstverständlich nicht! *Lach* - ich wusste nicht, ob Prosa-Ich die korrekte Bezeichnung (als Pendant fürs Lyrische Ich) ist!!

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Beitragvon Quoth » 18.10.2010, 18:01

Hallo, Amanita,
Du hast geschrieben:
Ich weiß nicht, wie es den anderen geht

Da geht es Dir genau wie mir! Ich weiß es auch nicht.
Was die Stolperstellen betrifft, lasse ich sie erstmal drin - Rollenprosa wie diese ist vielleicht weniger nach innerer Logik zu befragen, auch nicht nach Redundanzen - wie ich überhaupt dem immer wieder herbeigenötigten Verdichten skeptisch gegenüber stehe.
Vielleicht sollte ich den Text "Bürotagebuch 3 nennen nach Bürotagebuch 1 und Bürotagebuch 2 und sollte ihn auch auf Konkordanz-Geschäftspapier schreiben.
Gruß
Quoth
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