Wort der Woche ~ GRÜNSCHNABEL ~
WORT DER WOCHE
- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -
~ GRÜNSCHNABEL ~
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)
Von hinten aufgerollt - oder: wie Recht er hat
Albert Einstein sagte "Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können." Er behauptet damit, dass unser Verstand dazu fähig ist, die Struktur der Realität zu erkennen.
Ich gehe noch weiter. Ich behaupte, dass es nicht unser Verstand, sondern unser Unterbewusstsein ist, das die Struktur der Realität nicht nur erkennt, sondern uns derart manipuliert und dirigiert, ja regelrecht zum Handeln zwingt, so dass die Struktur der Realität zur wahren Realität wird. Das Ergebnis ist dann ein rundes Gefühl, auch wenn dieses Handeln, wie in meinem Fall, ziemlich paradox ist.
Ich bin ein Grünschnabel, was meinen Organismus angeht. Ich verstehe seine Signale nicht. Vielleicht höre ich auch nicht genug hin. Fakt ist, dass ich heute morgen mit einem Gefühl der Unwucht aufwachte. Ja, Unwucht. Das ist genau das richtige Wort dafür. Und ich begriff nicht, woher dieses Gefühl kam, fand partout die Ursache nicht. Ich ließ mich - wie jeden Morgen - um 10.00 Uhr mit meinem Lieblingssong wecken. 15 Minuten sang Alela Diane schon ihr "Oh my Mama" in Wiederholschlaufe. Dann gab der Handy-Wecker auf und ich stand irgendwann mühsam und unendlich müde auf. Ich fühlte mich schwer und behäbig. Wie ein Walross. Ein Walross mit 47 kg Gewicht. Aber mit einem 100 kg-Gefühl. Ich bewegte mich in Zeitlupe. Quälte mich durch den Tag. Quälte mich durch meinen Sport. Ja, ja, den mache ich jeden Tag. Unwucht hin oder her. Na ja, eigentlich hatte ich die Hoffnung, dieses Gefühl der Unwucht in mir durch besonders viel Sport in Luft aufzulösen. Mein Aufwärmtraining, bestehend aus vierzig Liegestützen, machte ich heute sogar mit einem Bein immer abwechselnd in der Luft. Das hab ich noch nie geschafft. (Irgendwann möchte ich diese Liegestützen einhändig packen.) Nach dem Sport wurde meine quälende Unwucht noch schlimmer und meine Müdigkeit säuselte mir "Siesta" ins Ohr. Nein, das kam nicht in Frage. Nicht so früh. Aber nicht nur aufgrund der Uhrzeit. Da war irgendetwas in mir, dass mir sagte, dass Schlaf mir die Unwucht nicht nehmen würde. So quälte ich mich weiter durch die Stunden. Alles war eckig. Kein einziger runder Moment. Am Abend aßen mein Mann und ich in der Küche, wie üblich halt. Danach konnte ich nicht mehr. Ich legte mich zu einer Unzeit, um 20.00 Uhr, tatsächlich für eine Siesta ins Bett und sagte meinem Handywecker, er solle mich in dreißig Minuten wecken. Um 20.30 Uhr stand ich auf. Diesmal hörte ich auf Alela Diane. Doch, verflucht noch mal. Die Unwucht breitete sich mit einer Wucht in mir aus, dass ich einfach nicht wusste, was ich tun sollte. Ich setzte mich vor den Fernseher, um zeitversetzt "The King's Speech" anzugucken. Ich saß keine zehn Minuten vor der Glotze, als ich plötzlich wusste, was ich brauchte, um dieses extrem unwohlige Gefühl der Unwucht endlich auszumerzen. Ich bat meinen Mann, der für jede Schandtat sofort zu haben ist, zum Supermarkt zu fahren und mir alle möglichen Fressalien zu besorgen: Kartoffelsalat mit Sahne, Frankfurter Würstchen, eine große Packung Gebäck und noch ein paar Schokoriegel, was er halt so findet im Laden. Er fuhr gleich los, ich setze das Wasser für die Würstchen auf, rauchte eine Zigarette, im Wissen, dass ich mich gleich einer hemmungslosen Fressattacke hingeben würde. Als ich die Zigarette ausdrückte, kam er. Und los ging's. Ich verputzte alles, sinnlos durcheinander. Einen Biss in den Schokoriegel, dann einen Happen Würstchen mit Senf, dazu zwei Vanillekipferl. Kartoffelsalat mit Kinderpingui. Senf mit einem Brownie. Dann wieder Würstchen mit einem Waffel-Schokoröllchen. So ging es weiter, eine halbe Stunde lang. Völlig hirnrissig, wie Fressattacken eben so ablaufen. Ich hatte, schon zu Beginn der Fressorgie, überhaupt keinen Hunger. Das Übersättigungsgefühl trat bereits nach dem zweiten Bissen ein. Doch ich trieb es hemmungslos weiter. Nein, nicht ich. Es war mein Unterbewusstsein. Es manipulierte mich. Ich konnte nicht aufhören, bis alles wegfuttert war. Mein Mann hatte nur zwei Frankfurter gegessen. Alles andere befand sich in meinem völlig überfüllten Magen.
Und Einstein hatte Recht. "Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können."
Nach dieser Fressorgie war dieses grässliche Gefühl der Unwucht in mir verschwunden. Denn nun war es kein Gefühl mehr. Die Unwucht war tatsächlich da. Und deutlich sichtbar. Nun hatte ich endlich einen konkreten Grund, mich wie ein Walross zu fühlen. Ich selbst oder besser gesagt, mein Unterbewusstsein (deshalb meine These oben), hatte mich in einen runden Zustand geführt. Ich fühlte mich eins mit mir. Und: Premiere! Es war das erste Mal, dass ich nach einer Fressattacke kein schlechtes Gewissen hatte.
Dass ich den Rest der Woche fasten werde, brauche ich wohl nicht anzumerken.
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