Zeit

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 03.08.2006, 10:16

thomas milser
03/III/1989


Zeit


Fäulnis

kriecht mir

über die Zehen

langsam

die Schenkel hoch

hinterlässt

schmierige schrundige Spuren.



"Nein, tut mir leid, mit diesen Beinen

können Sie hier nicht 'rein."



Je mehr Zeit ich schlucke

desto weniger weiß ich

welche Uhrzeit es ist

welcher Tag

welches Leben.



Keine Bewegung mehr

eingewickelt in Klarsichtfolie

verschnürt mit Lianen

am höchsten Baum aufgehängt

zum Vergammeln.
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 03.08.2006, 10:18, insgesamt 1-mal geändert.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 03.08.2006, 10:18

Anmerkung: Eins meiner ersten Gedichte. Immerhin entstanden vor 17 Jahren. Und da sowohl Thema wie auch Titel 'Zeit' sind, dachte ich, es sei an derselben, es mal auszugraben. Und wie ich gerade feststelle, hat es an Aktualität nichts verloren.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Max

Beitragvon Max » 03.08.2006, 21:25

Lieber Tom,

ich habe den Eindruck, dass der Text mit zunhemender Länge an Qualität gewinnt.

Die kriechende Fäulnis kommtmir vor, als habe ich sie schon mal gehört, auch wenn ich nicht sagen kann, wo (auch das ist natürlich ein Ergebnis der Zeit). Die zweite Strophe kommt mir vor, wie eine witzige Zwischenbemerkung, aber auch so, als meine sie gehöre, ganz nebenbei bemerkt, eigentlich nicht in dieses Gedicht.

Aber die beiden Strophen
Je mehr Zeit ich schlucke

desto weniger weiß ich

welche Uhrzeit es ist

welcher Tag

welches Leben.



Keine Bewegung mehr

eingewickelt in Klarsichtfolie

verschnürt mit Lianen

am höchsten Baum aufgehängt

zum Vergammeln



finde ich wirklich originell. Wie man "keine Bewegung" einwicklen kann, weiß ich zwar nicht, aber das ist ja gerade auch der Gag. Einzig der Zusammenhang zwischen den Strophen könnte m.E. noch ein wenig dichter werden.

Liebe Grüße
Max

Max

Beitragvon Max » 03.08.2006, 21:25

PS: Warum ist eigentlich die Schrift so winzig?
PPS: *Lach* - wenn ihr den Explorer habt, kümmert nicht um mein Geschwafel ... bei Mozilla hat es Schriftgörße 6 pt.

Liebe Grüße
Max

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 03.08.2006, 21:36

Hi Max.

Winzige Schrift? komisch, das ist einfach die Standardgröße...

Wie man "keine Bewegung" einwicklen kann, weiß ich zwar nicht, schreibst du. Ich glaube, das ist ein Lesefehler. Es handelt sich in der ganzen Strophe um einzelne Hauptsätze, eine Aufzählung quasi. Da könnte jeweils vorstehen: ich habe,ich bin, ... Kommt das beim Lesen nicht rüber? Ich habe da allerdings auch keine Punkte gesetzt, wie an den Strophenenden.

Tja, und der Einwurf mittendrin 'mit den Beinen': Ich überlege gerade, was mich damals dazu bewogen hat. Ich glaube, ich schrob das Ding damals aus dem Gefühl heraus, nirgendwo weiterzukommen, keinen Zutritt zu haben, das alles irgendwie stilllstand und am Arsch war. Aber wie gesagt: das ist eingentlich mein allererstes Gedicht, was überliefert ist, und so ganz komme ich in das Gefühl nicht mehr rein... Kann ich dir leider nix weiter zu sagen...

Als Gedicht für sich gesehen wäre die Verdichtung, die du vorschlägst sicherlich der richtige Weg. Ich lasses aber mal als Zeitzeugen so stehen... Im wahrsten Sinne...

Danke dir, Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Max

Beitragvon Max » 03.08.2006, 21:52

Hi Tom,

kann ich verstehen. Ich mag meine alten Schätzchen auch nicht verbessern, bestenfalls ganz anders neu schreiben.

Nun seh ich übrigens auch , wie du die letzte Strophe meinst ...
"Schrob" gefällt mir übrigens, bist Du dafür zuständig, Dir neue starke Verben auszudenken - great!

Grüßle
Max

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 03.08.2006, 21:58

Ich liebe überdehnte und altertümliche Vergangenheitsformen, Konjunktive und sowas...

Röche er besser, erbräche ich nicht.... Hach, ist das schön, das Deutsche...
Ich gong um die Ecke und pfoff ein Lied.

Aber speziell 'schrob' ist von Helge Schneider, soweit mir bekannt ist...

Tschau Max, Essen is feddich....
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Orit

Beitragvon Orit » 05.08.2006, 12:28

Lieber Tom!

Stillstand, wenn die Zeit weitergeht. Unfähig sich zu bewegen, unfähig gemacht sich zu bewegen. Ist das alles gewesen, was Leben bedeutet, was Leben ausmacht. Ist nicht mehr zu erwarten .... Du hast es sehr drastisch und treffend gesagt: Fäulnis die hochkriecht - bis hin zum Auffängen und Vergammeln.
Wenn man es so klar sehen kann, ist das die erste Bewegung aus dem Stillstand.

Gut geschrobt und gedrexelt.

Liebe grüße
Orit

Louisa

Beitragvon Louisa » 06.08.2006, 23:53

Hallo Tom!

Also das ist, mit Verlaub, der beste Text, den ich je von Dir lesen durfte! Ich finde es wirklich perfekt!

Schon allein Worte wie "schrundig" oder "die Zeit schlucken" oder die "Klarsichtfolie" haben mich sehr für den Text eingenommen!

-Aber wo kann denn das "ich" mit "diesen Beinen" nicht rein?

Sonst ist es mindestens einen Erwin wert: :blumen:

Grüßlein, louisa

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 07.08.2006, 07:59

@Orit: Viel besser kann man das wohl nicht interpretieren. Ich glaube, so viele Gedanken habe ich mir seinerzeit gar nicht gemacht. Ich habs einfach runtergeschrieben, ohne über irgendwas nachzudenken. Vielleicht immer noch die beste Methode.

@Louisa: Auch dir besten Dank. Ins Leben kann das 'Ich' nicht rein, es kann nicht am Fortlauf der Dinge teilhaben. Hatte ich ja oben als Antwort zu Max schon versucht zu erklären. Seltsam, dass du ausgerechnet dieses Gedicht als mein Bestes empfindest. Ich selbst sehe es ganz deutlich als Frühwerk aus Kinder-Lauflern-Schuhen, weil im die Verdichtung fehlt, und eigentlich nichts (bis auf den Satz mit dem 'Hier könnnen Sie nicht rein...') in eine lyrische Ebene erhoben wird. Es ist auch in keiner Weise nachgearbeitet worden, also ein First-Take, wenn man so will.
Aber daran kann man wieder schön erkennen, wie unterschiedlich die Wahrnehmung ist. Und das manchmal jeglicher Maßstab für die Katz' ist. Aber was um alles in der Welt ist ein ERWIN?

Gruß vom Tom.

steyk

Beitragvon steyk » 10.08.2006, 07:45

hallo tom,
was soll ich sagen.
ich schließe mich einfach den lobpreisungen
der vorschreiber an, dann muß ich nicht so
viel in die tasten hauen.

gruß stefan

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 10.08.2006, 10:35

Lieber Tom,

ich kann Louisas Einschätzung durchaus nachvollziehen (ERWIN ist übrigens dieser Blumensmiley *g*) - auch wenn ich durchaus finde, dass es einige Texte von dir gibt, die gleichauf mit diesem hier sind, muss ich ebenfalls sagen, dass ich den Text sehr stark finde! Und dass dem Text Verdichtung fehlt, finde ich nicht. Die Verdichtung findet für mich eher allgemein als Stimmung im Text statt als in einzelnen Worten.

Das Thema Zeit hat für mich drei Dinge, die mich überhaupt interessieren:

1) Die Unvereinarbarkeit der Gegenwart
2) Die Dauer der Liebe
3) Das unwiederbringliche Schrumpfen der Möglichkeiten

Für mich hast du mit diesem Text 3) (auch ein wenig zwei sicher) fantastisch beschrieben...ich finde mich, an schlechten Tagen, in diesen Zeilen wieder...sprachlich schwebe und krieche ich mit...sehr gelungen!

Toller Beitrag zum Thema!

Liebe grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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