Marie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 21.10.2010, 18:03


Marie

Es klingelt an der Tür. Marie drückt auf die Gegensprechanlage.
"Hallo?"
"Paketdienst!"
Sie betätigt den Haustürsummer und läuft in die Küche zum kleinen Regal zwischen Kühl- und Oberschrank. Ihre blauen Haushaltshandschuhe Größe L liegen mit der Öffnung ihr zugewandt leicht über der Kante. Ihre Finger gleiten hinein. Zurück an der Wohnungstür, schiebt Marie den Riegel beiseite, löst die Vorhängekette, dreht den Wohnungstürschlüssel drei Mal nach rechts, reiht ein paar weitere Schlüssel zwischen die Finger der linken Hand auf und öffnet mit der rechten die Wohnungstür. Der Postbote wartet bereits.
„Hallo Frau Lindemann!“
„Hallo.“
„Ein Paket für Sie.“ Er hält ihr das Leseempfangsgerät entgegen. Marie bestätigt den Empfang mit seinem Stift.
„Bis Morgen, einen schönen Tag noch!“
Sie nickt kurz. Der Bote geht. Marie schaut ihm hinterher, bis sie hört, wie die Haustür unten zuschlägt. Marie dreht den Türschlüssel drei Mal nach links, schiebt den Riegel vor, hängt die Vorhängekette ein und drückt auf die Türklinke. Es knackt. Sie schiebt das Paket mit einem Fuß in den Flur zu den anderen. In der Küche zieht sie die Haushaltshandschuhe aneinanderreibend aus und lässt die Handschuhe an den gewohnten Platz fallen. Marie läuft ins Bad und wäscht sich die Hände mit Triclosanseife.
Sie notiert in ihr Tagebuch:
Montag - heute nur zwanzig Minuten.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.10.2010, 16:54

Hallo Marion,

danke auch dir für deinen Kommentar.
Das Problem bei solchen ausführlichen Geschichten ist immer diese Gratwanderung zur Larmoyanz.
Wie Angst und Zwänge möglichst authentisch und nachvollziehbar darstellen, ohne eben diese Grenze der Wehleidigkeit zu überschreiten?
keinsilbig hat geschrieben:von der gefahr, dass ev. zuviel auserzählt würde, ist sie m.E. also noch meilenweit entfernt. vertrüge daher definitiv ein paar dramatik-schaffende elemente (natürlich dezent eingesetzt).

Um dem gerecht zu werden und auch die extreme Agoraphobie hier mehr auszudrücken, müsste ich die Geschichte wohl sehr viel mehr ausweiten. Und genau da besteht für mich die Crux. Dann müssten da Adjektive rein, emotionsgeladene Situationen geschildert werden. Marie müsste z.B. aufschrecken, als es an der Tür klingelt, etc. Und genau das wollte ich ja nicht.

Aber aus euren Kommentaren sehe ich ja, dass dieser kurze, knappe, mechanische Stil nicht funktioniert.
Und dies ist ja auch lehrreich für mich.
Vielleicht lege ich diese Szene hier ad acta und schreibe eine neue. Mal schauen.

Saludos
Gabriella

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 22.10.2010, 17:05

Gabriella hat geschrieben:Das Problem bei solchen ausführlichen Geschichten ist immer diese Gratwanderung zur Larmoyanz.
Wie Angst und Zwänge möglichst authentisch und nachvollziehbar darstellen, ohne eben diese Grenze der Wehleidigkeit zu überschreiten?



ich glaube, gabriella,


dass genau hier für den nicht-betroffenen der denkfehler liegt.
für den mysophobiker (oder auch den agoraphobiker) ist die bedrohung ja eine, mit der er umzugehen gelernt hat. strategien entwickelt hat, um in sicherheit sein zu können vor der gefahr. er fühlt sich ihr also durch seinen umgang damit gewachsen. hat das gefühl von kontrolle, solange er alles so handhabt, wie es für außenstehende eben so neurotisch wirkt - weil unnatürlich und für uns scheinbar unbegründet.

diese menschen "leiden" nicht ständig (sondern nur, wenn sie sich - gezwungen durch irgendwelche umstände - außerhalb des kontrollierbaren rahmens befinden oder sich dorthin begeben müssen). sie haben sich ihre sichere welt erschaffen und dort auch das gefühl von kontrolle. das "leiden" selbst an einer "störung" oder "behinderung für den gelückten lebensvollzug" verdrängen sie durch ihre strategien meist gekonnt. führen also in ihrer eigenen sicht ein weitestgehend sicheres leben.

ich könnte mir also die geschichte sehr wohl ganz ohne wehleidige larmoyanz vorstellen - und gerade dadurch umso packender. die schilderung des strategen, der alles unter kontrolle hat. genau weiß, wie er in welcher situation die oberhand über die möglichen gefahren behält - weil er sie ausschließt. örtlich wie auch strategisch...

das schellen der türglocke versetzt dann in alarmbereitschaft, aktiviert aber einfach nur die strategien des phobikers. es muss nicht immer gleich panik dadurch ausgelöst werden. wäre das so, wäre der leidensdruck dieser menschen nämlich derart, dass sie hilfe suchen würden und sich viel früher in behandlung begeben. die meisten aber "machen es" ja sehr lange, ohne zu erkennen, dass sie da ein konzept leben, das ihnen leid verursacht bzw. probleme...

was meinst du?


liebe grüße,

keinsilbig

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.10.2010, 17:19

Hallo Marion,
keinsilbig hat geschrieben:ich könnte mir also die geschichte sehr wohl ganz ohne wehleidige larmoyanz vorstellen - und gerade dadurch umso packender. die schilderung des strategen, der alles unter kontrolle hat. genau weiß, wie er in welcher situation die oberhand über die möglichen gefahren behält - weil er sie ausschließt. örtlich wie auch strategisch...

ja, da ist was dran.
Ich lass es mir doch den Kopf gehen. Danke dir!

Saludos
Gabriella

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 22.10.2010, 17:22

keine ursache, gabriella,


ist es doch das, was ich meine, als ansatz für die darstellung der marie ohnehin schon von dir gelesen zu haben.


lieber gruß,

keinsilbig

Trixie

Beitragvon Trixie » 22.10.2010, 20:09

hallo mucki,
waaah, dann war ich ja am anfang doch ganz richtig mit meiner interpretation - ich habe mich nur schlichtweg falsch ausgedrückt, haha! mi dem tic habe ich die zwangsstörung gemeint. dazu gehören das korrekte ab- und aufschließen, das waschen, die ganzen rituale, um sich trotz der inneren angst sicher zu fühlen, bevor überhaupt panik aufkommen kann. und dazu noch die agoraphobie.
haha, dann war ich ja gar nicht so verkehrt! und ich dachte die ganze zeit, da muss noch mehr kommen, irgendwas ganz krasses!
ja, wie gesagt, ein wenig mehr auserzäht fände ich, glaub ich, nicht schlecht. es muss ja nicht mit adjektiven sein, es reicht ja zum beispiel weiterhin das beschreibende, zum beispiel, keine ahnung, die halsschlagader tritt hervor. oder ihre schultern zucken. oder ihre augen weiten sich. oder oder oder, da muss ja gar kein adjektiv dabei sein, um es etwas mehr auszuformulieren und eine nicht-ganz-normale situation noch deutlicher hervorzuheben. vielleicht auch die waschsituation deutlicher, von wegen schieb die seife immer wieder zwischen den händen hin und her. steht kerzengerade buckelig über dem waschbecken. sieht weg, sich dabei zu. usw.

da geht noch was, denke ich.
ich sagte ja von anfang an, dass da was bei mir ankommt, was beklemmendes, eindringliches.

hat sich gelohnt, hier dran zu bleiben, finde ich.

siehst du denn die möglichkeit, da doch noch etwas mehr auszubauen für dich vom gefhl?

grüße!
trix

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.10.2010, 20:13

Trixie hat geschrieben:siehst du denn die möglichkeit, da doch noch etwas mehr auszubauen für dich vom gefhl?

bei diesem Text nicht.
Aber ich ziehe eine lange, auserzählte Fassung als neuen Text in Erwägung.

Saludos
Mucki

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Beitragvon fenestra » 22.10.2010, 20:44

Liebe Gabriella,

die Diskussion unter deinem Text habe ich jetzt nur überflogen, aber einiges Wesentliches habe ich daraus erfahren. Insgesamt finde ich die Art, wie du erzählst, sehr anschaulich - es läuft direkt ein kleiner Film vor meinem Auge ab. War mir nicht plausibel ist:

Wo kommen "die übrigen Schlüssel" her? Sie wurden vorher nicht erwähnt. Die Kette zum Verriegeln hat meist keinen Schlüssel, den man abziehen kann. Also gibt es nur den Wohnungsschlüssel. Es dürfte also höchstens heißen: ein paar weitere Schlüssel.

Dass die Pakete nur mit dem Fuß zueinander geschoben werden, spricht gegen deine Erklärung, dass es sich um den Vorrat, um die Einkäufe für das Leben in der Wohnung handelt. Die Pakete der letzten Tage müssten dann doch inzwischen ausgepackt sein? Wenn sich dort leere Kartonagen stapeln würden, wäre es für mich klarer.

Die 20 Minuten habe ich auch nicht verstanden.

Der Ansatz, einen Menschen zu zeigen, der so wenig wie möglich mit der Außenwelt in Berührung kommen möchte, ist sehr spannend. Interessant fände ich es, wenn diese Szene noch stärker ins Absurde abdriften würde. Vielleicht kann ja in der Küche noch ein Autoklav laufen und das Paket könnte unter einer Sterilbank ausgepackt oder vorher mit UV-Licht bestrahlt werden ...

Viele Grüße
fenestra

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.10.2010, 23:23

Hallo fenestra,
fenestra hat geschrieben:Wo kommen "die übrigen Schlüssel" her? Sie wurden vorher nicht erwähnt. Die Kette zum Verriegeln hat meist keinen Schlüssel, den man abziehen kann. Also gibt es nur den Wohnungsschlüssel. Es dürfte also höchstens heißen: ein paar weitere Schlüssel.

stimmt, hab ich geändert.
fenestra hat geschrieben:Dass die Pakete nur mit dem Fuß zueinander geschoben werden, spricht gegen deine Erklärung, dass es sich um den Vorrat, um die Einkäufe für das Leben in der Wohnung handelt. Die Pakete der letzten Tage müssten dann doch inzwischen ausgepackt sein? Wenn sich dort leere Kartonagen stapeln würden, wäre es für mich klarer.

Ich habe nirgends geschrieben, dass es sich um Vorräte, um Einkäufe für das Leben in der Wohnung handelt. Nein, ich schrieb:
Gabriella hat geschrieben:Nein, kein Kaufzwang. Die täglichen Bestellungen und die täglichen Besuche des Boten (außer natürlich Sonntags), deshalb, das "Bis Morgen ..." des Boten, sind Maries Weg, sich mit ihrer Angst zu konfrontieren.

Wie Marie sich mit Vorräten etc. versorgt, wird im Text außen vorgelassen.
fenestra hat geschrieben:Die 20 Minuten habe ich auch nicht verstanden.

Das hat sich ja jetzt geklärt. Sie hat sich 20 Minuten lang die Hände gewaschen mit Desinfektionsseife.
fenestra hat geschrieben:Interessant fände ich es, wenn diese Szene noch stärker ins Absurde abdriften würde. Vielleicht kann ja in der Küche noch ein Autoklav laufen und das Paket könnte unter einer Sterilbank ausgepackt oder vorher mit UV-Licht bestrahlt werden ...

Wie ich weiter oben schrieb, werde ich an diesem Text keine weiteren Ergänzungen durchführen, sondern eventuell einen neuen Text in einer längeren Fassung schreiben, aber das weiß ich noch nicht genau.
Danke dir für deinen Kommentar!

Saludos
Gabriella

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Beitragvon fenestra » 23.10.2010, 00:01

Liebe Gabriella,

danke für die Erläuterungen! Entschuldige, dass du dich teilweise wiederholen musstest. Sicher kennst du das: Wenn der Faden erstmal lang genug ist unter einem Text, zögert man schon deswegen, sich zu melden, weil man, um Wiederholungen zu vermeiden, erst alles lesen müsste ... irgendwann wird das Pensum des zu Lesenden dann einfach zu groß, denn es gibt ja noch mehr Texte und deren Fäden wachsen derweil auch ständig an .... ;)

Die täglichen Bestellungen habe ich dann wohl selbst in meinem Kopf auf notwendige Bestellungen reduziert. Aber du hast Recht, man kann sich auch gut vorstellen, dass durch alle möglichen Bestellungen die Kontaktarmut zur Außenwelt kompensiert werden soll.

Das gleiche Thema nochmals anders anzugehen, ist sicher einen Versuch wert.

Viele Grüße und gute Nacht
fenestra

Nifl
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Beitragvon Nifl » 23.10.2010, 08:57

Huhu Mucki,

ich habe ähnliche Probleme wie meine Vorschreiber.

Gabriella hat geschrieben:Das Problem bei solchen ausführlichen Geschichten ist immer diese Gratwanderung zur Larmoyanz.
Wie Angst und Zwänge möglichst authentisch und nachvollziehbar darstellen, ohne eben diese Grenze der Wehleidigkeit zu überschreiten?
..., müsste ich die Geschichte wohl sehr viel mehr ausweiten. Und genau da besteht für mich die Crux. Dann müssten da Adjektive rein, emotionsgeladene Situationen geschildert werden. Marie müsste z.B. aufschrecken, als es an der Tür klingelt, etc


Diese Aussagen halte ich für groben Unfug. Wieso sollten mit Ausbau der Figur und dem Zeigen der Krankheitssymptome zwangsweise Larmoyanz und Adjektive einziehen müssen? So eine Korrelation ist mir unbekannt.

Überdies macht Auslassung nur Sinn, wenn die Leserschaft trotzdem folgen kann und der Text auch mit "Rezipientenvariation" noch funktionieren kann. Das ist mE. ja gerade die Kunst dabei.

Ich finde die Darlegungen von Kleinsilbig sehr wichtig. Da liegt nämlich mE. das Hauptproblem des Textes, das beliebige Einbauen unterschiedlicher Angstfelder und Zwängen.
Hier würde Recherche dem Text zuträglicher sein als Adjektive.

Gruß
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 23.10.2010, 13:32

Hallo Nifl,
Nifl hat geschrieben:Ich finde die Darlegungen von Kleinsilbig sehr wichtig. Da liegt nämlich mE. das Hauptproblem des Textes, das beliebige Einbauen unterschiedlicher Angstfelder und Zwängen.

ihr Nick ist keinsilbig, nicht Kleinsilbig, Nifl.
Ja, das habe ich ja auch erkannt, wie du meinem Kommentar an keinsilbig entnehmen kannst. Ihren Hinweis finde ich sehr gut. Er hat mich auch dazu motiviert, evtl., genau auf die Art, wie sie es beschreibt, eine längere Fassung zu schreiben. Ob mir das gelingen wird, ist eine andere Frage. ,-)

Saludos
Gabriella


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