Gegen die Fahrtrichtung
Verfasst: 03.01.2010, 13:52
Gegen die Fahrtrichtung
[align=justify]Manchen Menschen wird schlecht, wenn sie nicht sehen, was auf sie zukommt. Mir wird unwohl nur in Fahrtrichtung, schon seit Kindertagen. Im Sommer 1969 erbrach ich in einem VW-Käfer den eben verspeisten Kinderteller auf den jungen Hund, der in meinem Schoß lag und dem die Fahrerei auch nicht bekam, weswegen er im selben Moment sein Essen auf mein bereits besudeltes Kleid würgte, noch bevor der Fahrer des Wagens einen Parkplatz ansteuern konnte. Ich weiß nicht, was meinem Hund durch den Kopf ging, ich dachte nur an das Soft-Eis, das uns die Dame, die auf dem Beifahrersitz saß, heute sicher nicht mehr spendieren würde.
Den Namen des Sees, in den man den Hund und mich tauchte, habe ich vergessen, nicht aber, dass die Tante „einen Bedarf“ an neuen Unterhosen für „das Kind“ feststellte. Unterhosen waren mir damals gleichgültig. Neue zu bekommen, bedeutete, die Initialen unter Aufsicht der Nähschwester hinten mittig einsticken zu müssen. Würde ich endlich adoptiert werden, müsste ich nie wieder sticken; nach dieser Ausfahrt aber war klar, Hund und ich bleiben im Waisenhaus.
„Klärchen“, fragte die Küchenschwester am Abend, „wie war dein Ausflug?“
„Nicht schön – mir wurde schlecht. Und Hund auch. Dann haben wir gekotzt. Die Tante hat zum Onkel gesagt: `Wir fahren sofort zurück!´ Es gab kein Eis.“
Die Küchenschwester mochte mich gern und war stets in Sorge, ich könnte verhungern. Oft klagte sie, dass gleich, was man mir in den Mund steckte, ich weder in die Höhe noch in die Breite wuchs. Sie verdächtigte mich einer Wachstumsverweigerungshaltung und hatte Recht. Ich ahnte früh, Großsein ist schwieriger als Kleinsein.
An dem Tag, als alle Sechsjährigen zur Einschulungsuntersuchung gingen, wurde ich zum Schularzt nicht mitgenommen. Dabei wollte ich unbedingt in die Schule, weil es dort richtigen Kakao gab, nicht die wässrige Brühe, die uns die Nonnen als heiße Schokolade andrehten.
„Will auch zum Schuldoktor“, weinte ich in die Schürze der Pfortenschwester; sie aber meinte, meine Arme seien zu kurz. Zum Gehen bräuchte ich die nicht, entgegnete ich, und sie: „Nein, zum Gehen brauchst sie nicht, aber für die Schule.“ Sie erklärte mir, ich dürfe erst in die Schule, wenn ich mit der rechten Hand über den Kopf zum linken Ohr hinüberlangen könne. Mit deutlicher Schieflage des Kopfes schaffte ich es, aber die Kindergartenschwester meinte, das zähle nicht, ich müsse den Kopf geradehalten.
Ich sitze gern gegen die Fahrtrichtung und schaue mir die Rückseite der vorbeisausenden Landschaft an. Welcher Ort als nächster kommt, erfahre ich über die Lautsprecheransage. Glaubt man dem Zugpersonal, erreicht man einen Bahnhof stets „in Kürze“. Damals sagte keiner: „In Kürze erreichst du mit deiner rechten Hand dein linkes Ohr“; sie meinten, ich müsse ein Jahr warten. Dann vielleicht. Lange Zeit dachte ich, sie erlauben sich einen Spaß mit mir. Jeder, der eingeschult und Besitzer eines Lederranzens geworden war, musste beweisen, dass er mit der Hand ans Ohr kam. Bei ein paar Kindern war es knapp: „aber Fingerspitzen“, meinten sie, „reicht“.
Die Schule liegt hinter mir, Stuttgart hinter meinen Mitreisenden und vor ihnen Frankfurt, wo ich 1986 in einen Banküberfall geriet. Überfälle auf Banken sind selten in Frankfurt, auch, wenn man die Häufigkeit der Ereignisse ins korrekte Verhältnis zu den vielen Filialen setzt. Ich weiß das, weil ich 1983 Stochastik als Prüfungsschwerpunkt für das Mathe-Abi wählte. Mittels Stochastik lässt sich präzise berechnen, wie viele Kinder sich auf die Kommastelle genau ein ganzes Jahr langweilen müssen, weil man sie wegen eines banalen Arm-Ohr-Reichweite-Verhältnisses nicht eingeschult hat.
Ich stand gerade am Schreibtisch des Filialleiters, als plötzlich mehrere Kunden laut schrien. Drei maskierte Männer waren die Treppe nach oben gestürmt, brüllten in der Marmorhalle Unverständliches und gestikulierten ausufernd mit ihren mitgebrachten Maschinengewehren. Leider war die Akustik des Schalterraumes wegen des Marmors derart schlecht, dass man keine dreistellige Kontonummer verstand, selbst wenn sie einem der Kollege deutlich ansagte. Das konnten die Räuber nicht wissen. Da nichts Planvolles geschah und keine Ruhe eintrat, brüllten sie weiter, bis einer von ihnen endlich einen Schuss abfeuerte. Ich war nicht die Einzige, die die Stille nach dem Schuss genoss.
Ein Maskierter kam auf mich zu und meinte, er wolle sich den Kassenraum ansehen. Wie im Film, dachte ich, bekam eine große Nylontasche in die Hand gedrückt und einen Stups mit dem Gewehr. Dass mich der Räuber trotz meiner kleinen Statur und meines kindlichen Aussehens für eine Angestellte mit Zugang zum Kassenraum hielt, machte ihn mir sympathisch. Gemessenen Schrittes und mit majestätisch geradem Rücken schritt ich vor den Augen der Kollegen und Kunden durch die Halle bis zur Tür, die zum Kassenraum führte.
Während ich die Tasche mit markierten Scheinen voll machte, meinte der Maskierte: „Draußen warten sicher schon die Bullen. Ohne Geisel haben wir keine Chance. Wir nehmen dich, Kleine.“
Sofort kippte ich die markierten Scheine aus der Tasche und füllte sie stattdessen mit den unmarkierten.
Im Fluchtauto musste ich hinten einsteigen. Kaum waren die Türen zugeschlagen, startete der Fahrer mit quietschenden Reifen. Schon nach der ersten Kurve war mir speiübel. Ich löste den Sicherheitsgurt und kniete mich gegen die Fahrtrichtung auf den Sitz der Rückbank. Einer der Gangster zerrte an mir.
„Ich muss kotzen, wenn ich in Fahrtrichtung sitze!“.
„Lass sie“, meinte der Adoptionsräuber. Ich begann, den Abstand der Polizeiwagen durchzugeben.
„Gas, gib Gas!“, brüllte ich, weil uns das erste Bullenauto fast erreicht hatte. Für den Polizisten, der den Wagen steuerte, muss ich wie Jackie Kennedy ausgesehen haben, die versucht, nach hinten aus einem Wagen mit geschlossenem Verdeck zu flüchten.
Bis Wiesbaden lief es gut, wenn man davon absieht, dass über uns Hubschrauber kreisten und wir von etwa der gleichen Anzahl Polizeiwagen verfolgt wurden wie die Blues Brothers. Allerdings waren wir nicht im Auftrag des Herrn unterwegs, wenngleich mir die Betschwestern im Heim versprochen hatten, Waisenkinder stünden lebenslang unter Seiner besonderen Obhut. Dann war der Tank leer.
Sie erschossen alle drei Bankräuber, angeblich, um die Geisel zu retten. Man habe den Wagen stürmen müssen, weil ich mit einer Schusswaffe bedroht worden sei.
„Alles nicht wahr“, habe ich vor Gericht ausgesagt, aber man glaubte mir nicht mehr, nachdem man die Aufzeichnungen aus dem Kassenraum gesichtet hatte.
„Sehr verehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Frankfurt Hauptbahnhof. Dort hatten Sie Anschluss...“
© Rosebud (Januar 2007)[/align]
[align=justify]Manchen Menschen wird schlecht, wenn sie nicht sehen, was auf sie zukommt. Mir wird unwohl nur in Fahrtrichtung, schon seit Kindertagen. Im Sommer 1969 erbrach ich in einem VW-Käfer den eben verspeisten Kinderteller auf den jungen Hund, der in meinem Schoß lag und dem die Fahrerei auch nicht bekam, weswegen er im selben Moment sein Essen auf mein bereits besudeltes Kleid würgte, noch bevor der Fahrer des Wagens einen Parkplatz ansteuern konnte. Ich weiß nicht, was meinem Hund durch den Kopf ging, ich dachte nur an das Soft-Eis, das uns die Dame, die auf dem Beifahrersitz saß, heute sicher nicht mehr spendieren würde.
Den Namen des Sees, in den man den Hund und mich tauchte, habe ich vergessen, nicht aber, dass die Tante „einen Bedarf“ an neuen Unterhosen für „das Kind“ feststellte. Unterhosen waren mir damals gleichgültig. Neue zu bekommen, bedeutete, die Initialen unter Aufsicht der Nähschwester hinten mittig einsticken zu müssen. Würde ich endlich adoptiert werden, müsste ich nie wieder sticken; nach dieser Ausfahrt aber war klar, Hund und ich bleiben im Waisenhaus.
„Klärchen“, fragte die Küchenschwester am Abend, „wie war dein Ausflug?“
„Nicht schön – mir wurde schlecht. Und Hund auch. Dann haben wir gekotzt. Die Tante hat zum Onkel gesagt: `Wir fahren sofort zurück!´ Es gab kein Eis.“
Die Küchenschwester mochte mich gern und war stets in Sorge, ich könnte verhungern. Oft klagte sie, dass gleich, was man mir in den Mund steckte, ich weder in die Höhe noch in die Breite wuchs. Sie verdächtigte mich einer Wachstumsverweigerungshaltung und hatte Recht. Ich ahnte früh, Großsein ist schwieriger als Kleinsein.
An dem Tag, als alle Sechsjährigen zur Einschulungsuntersuchung gingen, wurde ich zum Schularzt nicht mitgenommen. Dabei wollte ich unbedingt in die Schule, weil es dort richtigen Kakao gab, nicht die wässrige Brühe, die uns die Nonnen als heiße Schokolade andrehten.
„Will auch zum Schuldoktor“, weinte ich in die Schürze der Pfortenschwester; sie aber meinte, meine Arme seien zu kurz. Zum Gehen bräuchte ich die nicht, entgegnete ich, und sie: „Nein, zum Gehen brauchst sie nicht, aber für die Schule.“ Sie erklärte mir, ich dürfe erst in die Schule, wenn ich mit der rechten Hand über den Kopf zum linken Ohr hinüberlangen könne. Mit deutlicher Schieflage des Kopfes schaffte ich es, aber die Kindergartenschwester meinte, das zähle nicht, ich müsse den Kopf geradehalten.
Ich sitze gern gegen die Fahrtrichtung und schaue mir die Rückseite der vorbeisausenden Landschaft an. Welcher Ort als nächster kommt, erfahre ich über die Lautsprecheransage. Glaubt man dem Zugpersonal, erreicht man einen Bahnhof stets „in Kürze“. Damals sagte keiner: „In Kürze erreichst du mit deiner rechten Hand dein linkes Ohr“; sie meinten, ich müsse ein Jahr warten. Dann vielleicht. Lange Zeit dachte ich, sie erlauben sich einen Spaß mit mir. Jeder, der eingeschult und Besitzer eines Lederranzens geworden war, musste beweisen, dass er mit der Hand ans Ohr kam. Bei ein paar Kindern war es knapp: „aber Fingerspitzen“, meinten sie, „reicht“.
Die Schule liegt hinter mir, Stuttgart hinter meinen Mitreisenden und vor ihnen Frankfurt, wo ich 1986 in einen Banküberfall geriet. Überfälle auf Banken sind selten in Frankfurt, auch, wenn man die Häufigkeit der Ereignisse ins korrekte Verhältnis zu den vielen Filialen setzt. Ich weiß das, weil ich 1983 Stochastik als Prüfungsschwerpunkt für das Mathe-Abi wählte. Mittels Stochastik lässt sich präzise berechnen, wie viele Kinder sich auf die Kommastelle genau ein ganzes Jahr langweilen müssen, weil man sie wegen eines banalen Arm-Ohr-Reichweite-Verhältnisses nicht eingeschult hat.
Ich stand gerade am Schreibtisch des Filialleiters, als plötzlich mehrere Kunden laut schrien. Drei maskierte Männer waren die Treppe nach oben gestürmt, brüllten in der Marmorhalle Unverständliches und gestikulierten ausufernd mit ihren mitgebrachten Maschinengewehren. Leider war die Akustik des Schalterraumes wegen des Marmors derart schlecht, dass man keine dreistellige Kontonummer verstand, selbst wenn sie einem der Kollege deutlich ansagte. Das konnten die Räuber nicht wissen. Da nichts Planvolles geschah und keine Ruhe eintrat, brüllten sie weiter, bis einer von ihnen endlich einen Schuss abfeuerte. Ich war nicht die Einzige, die die Stille nach dem Schuss genoss.
Ein Maskierter kam auf mich zu und meinte, er wolle sich den Kassenraum ansehen. Wie im Film, dachte ich, bekam eine große Nylontasche in die Hand gedrückt und einen Stups mit dem Gewehr. Dass mich der Räuber trotz meiner kleinen Statur und meines kindlichen Aussehens für eine Angestellte mit Zugang zum Kassenraum hielt, machte ihn mir sympathisch. Gemessenen Schrittes und mit majestätisch geradem Rücken schritt ich vor den Augen der Kollegen und Kunden durch die Halle bis zur Tür, die zum Kassenraum führte.
Während ich die Tasche mit markierten Scheinen voll machte, meinte der Maskierte: „Draußen warten sicher schon die Bullen. Ohne Geisel haben wir keine Chance. Wir nehmen dich, Kleine.“
Sofort kippte ich die markierten Scheine aus der Tasche und füllte sie stattdessen mit den unmarkierten.
Im Fluchtauto musste ich hinten einsteigen. Kaum waren die Türen zugeschlagen, startete der Fahrer mit quietschenden Reifen. Schon nach der ersten Kurve war mir speiübel. Ich löste den Sicherheitsgurt und kniete mich gegen die Fahrtrichtung auf den Sitz der Rückbank. Einer der Gangster zerrte an mir.
„Ich muss kotzen, wenn ich in Fahrtrichtung sitze!“.
„Lass sie“, meinte der Adoptionsräuber. Ich begann, den Abstand der Polizeiwagen durchzugeben.
„Gas, gib Gas!“, brüllte ich, weil uns das erste Bullenauto fast erreicht hatte. Für den Polizisten, der den Wagen steuerte, muss ich wie Jackie Kennedy ausgesehen haben, die versucht, nach hinten aus einem Wagen mit geschlossenem Verdeck zu flüchten.
Bis Wiesbaden lief es gut, wenn man davon absieht, dass über uns Hubschrauber kreisten und wir von etwa der gleichen Anzahl Polizeiwagen verfolgt wurden wie die Blues Brothers. Allerdings waren wir nicht im Auftrag des Herrn unterwegs, wenngleich mir die Betschwestern im Heim versprochen hatten, Waisenkinder stünden lebenslang unter Seiner besonderen Obhut. Dann war der Tank leer.
Sie erschossen alle drei Bankräuber, angeblich, um die Geisel zu retten. Man habe den Wagen stürmen müssen, weil ich mit einer Schusswaffe bedroht worden sei.
„Alles nicht wahr“, habe ich vor Gericht ausgesagt, aber man glaubte mir nicht mehr, nachdem man die Aufzeichnungen aus dem Kassenraum gesichtet hatte.
„Sehr verehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Frankfurt Hauptbahnhof. Dort hatten Sie Anschluss...“
© Rosebud (Januar 2007)[/align]