Onkologische Station

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 10.01.2010, 23:24

In der Wartezone sitzt neben mir ein türkisches Ehepaar um die Dreißig. Die Frau eine Schönheit mit Seidenturban. Der Mann einsachtzig lang mit der Figur eines Gewichthebers und großen, starken Händen.
Ein Pfleger bleibt stehen: »Auch wieder mal hier, Herr K.? Wie geht es inzwischen, wie ist das Gewicht. Kocht die Frau gut?«
Der Mann murmelt: »-ndachtzig.«
Die Frau berichtigt: »Achtundneunzig.«
Der Pfleger, Platz nehmend: »Wir können gleich den Essenplan ausfüllen, dann haben wir das schon mal.« Er zieht eine vorgedruckte Karte und einen Edding aus der Kitteltasche. »Also, was soll es sein? Wie immer ohne Schwein?«
Die Frau schaltet sich erneut ein: »Vegetarisch.«
Der Mann, schüchtern: » - mit Pute.«
Der Pfleger lässt den Edding über der Karte schweben. »Also vegetarisch oder mit Pute?«
Der Mann, etwas lauter: »Vegetarisch mit Pute.«
Der Pfleger kreuzt auf seiner Karte an. Der Mann, mutiger werdend: »Und Rumpsteak.«
Der Pfleger kreuzt weiter an. Der Mann, anspruchsvoll: »Und Jägersoße! Und einen Wein dazu.«
Die Frau zwinkert mir zu. Der Gewichtheber erhebt sich zu voller Größe und zieht sich die Hosen hoch. Sein Blick schweift umher und wird stumpf.
Die Wartezone ist durch Grünpflanzen vom Flur abgeteilt. Eben schlapft ein schlotteriger Mensch im Trainingsanzug durch und gießt mit einer grünen Gießkanne.
Es ist jeden Tag derselbe. Manchmal trägt er einen Bademantel.
Im Flur hängen große Pinnwände, übersät mit Hinweiszetteln, Plakaten und Telefonnummern. Gesprächsrunden, Hospize, Sterbebegleitung, letzte Fragen nach dem Woher und Wohin. Wo du nur eine Spur im Sand siehst, da trug ich dich. Hilfe bei Angst, Hilfe bei Schmerz. Hilfe bei Schmerz, Hilfe bei Angst. Der gleiche Pfleger, der Rumpsteak und Wein ankreuzt, hat auf meine Frage, ob es viele schwere Fälle hier gäbe, geantwortet: »Hier gibt es überhaupt nur schwere Fälle.«
Der Gewichtheber ist einer davon, ein anderer mein Papa.
Eine Woche später ist es vorbei. Ich bedanke mich, versuche den Pflegern Geld aufzudrängen, besonders der schönen jungen Schwester Maryam mit den aufmerksamen Augen, die zuletzt bei uns saß. Nein, heißt es, sie dürfen nichts annehmen, ist verboten neuerdings.
Ich trage meinen Rucksack die Treppe hinunter und werfe ihn ins Auto. Wahrscheinlich ist das Zimmer schon wieder neu belegt. Wo du nur eine Spur im Sand siehst, da trug ich dich. Schwester Maryam hat große Füße und trägt bequeme Latschen wie Leute, die den ganzen Tag umher rennen. Ihre Abdrücke im Sand sind breit und fest.



Erste Fassung
In der Wartezone sitzt neben mir ein türkisches Ehepaar um die Dreißig. Die Frau eine Schönheit mit Seidenturban. Der Mann einsachtzig lang mit der Figur eines Gewichthebers, ein Prachtmensch.
Ein Pfleger bleibt stehen: »Auch wieder hier, Herr K.? Wie geht es, wie ist das Gewicht. Kocht die Frau gut?«
Der Mann murmelt: »-ndachtzig.«
Die Frau berichtigt: »Achtundneunzig.«
Der Pfleger, Platz nehmend: »Wir können gleich den Essenplan ausfüllen, dann haben wir das schon mal.« Er zieht eine vorgedruckte Karte und einen Edding aus der Kitteltasche. »Also, was soll es sein? Wie immer ohne Schwein?«
Die Frau schaltet sich erneut ein: »Vegetarisch.«
Der Mann, schüchtern: » - mit Pute.«
Der Pfleger lässt den Edding über der Karte schweben. »Also vegetarisch oder mit Pute?«
Der Mann, mannhaft: »Vegetarisch mit Pute.«
Der Pfleger kreuzt auf seiner Karte an. Der Mann, mutiger werdend: »Und Rumpsteak.«
Der Pfleger kreuzt weiter an. Der Mann, anspruchsvoll: »Und Jägersoße! Und einen Wein dazu.«
Die Frau zwinkert mir zu. Der Gewichtheber erhebt sich zu voller Größe und zieht sich die Hosen hoch. Sein Blick schweift umher und wird stumpf.
Die Wartezone ist durch Grünpflanzen vom Flur abgeteilt. Einmal am Tage schlapft ein schlotteriger, grün gekleideter Mensch durch und gießt mit einer grünen Gießkanne.
Im Flur hängen alle drei Meter Hinweiszettel mit Telefonnummern: Hospiz dies und Hospiz jenes, Sterbebegleitung, letzte Fragen; wo du nur eine Spur im Sand siehst, da trug ich dich. Hilfe bei Angst, Hilfe bei Schmerz. Hilfe bei Schmerz, Hilfe bei Angst. Der gleiche Pfleger, der Rumpsteak und Wein ankreuzt, hat auf meine Frage, ob es viele schwere Fälle hier gäbe, geantwortet: »Hier gibt es überhaupt nur schwere Fälle.«
Der Gewichtheber ist einer davon, ein anderer mein Papa.
Eine Woche später ist es vorbei. Ich bedanke mich, versuche den Pflegern Geld aufzudrängen, besonders der schönen jungen Schwester Maryam mit den aufmerksamen Augen, die zuletzt bei uns saß. Nein, heißt es, sie dürfen nichts annehmen, ist verboten neuerdings.
Ich trage meinen Rucksack die Treppe hinunter und werfe ihn ins Auto. Wahrscheinlich ist das Zimmer schon wieder neu belegt. Wo du nur eine Spur im Sand siehst, da trug ich dich. Schwester Maryam hat große Füße und trägt bequeme Latschen wie Leute, die den ganzen Tag umher rennen. Ihre Abdrücke im Sand sind breit und fest.
Zuletzt geändert von Zefira am 24.01.2010, 17:50, insgesamt 3-mal geändert.
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Nicole

Beitragvon Nicole » 11.01.2010, 09:26

Liebe Zefi,

merkwürdig --- und auch wieder nicht. Eindrücke, erste wie letzte sind manchmal von Kleinigkeiten geprägt. Kleinigkeiten, an denen sich das Gefühl festmacht, das man hatte. Die aber nicht unbedingt sehr nahe am Geschehen liegen.

So auch hier. Eine Beschreibung des Paares, detailliert und liebevoll. Ein Prachtmensch, der so gut und mächtig aussieht, das man ihm die Krankheit nicht einmal zu trauen würde. Ein Pfleger, der die Alltäglichkeiten abarbeitet.
Eine Situation, die in ihrer Normalität für mich sehr schmerzlich wirkt. Die Essenswahl fast so, als wähle ein Gefangener in der Todeszelle sein letztes Mahl vor der Hinrichtung...

Dezent hier nur die Hinweise, wie endgültig dieser Krankenhausaufenthalt vermutlich ist. Die Zettel der Hospitze, Sterbebegleitung, Hilfe bei Angst.

Die eigentliche Geschichte, der Krebstod des Vaters wird nur im Nebensatz erwähnt. Als es schon vorbei ist. Vordergründig kein Wort über Verlust und Schmerz.

Wie Du es oft tust, hast Du dies für mein Dafürhalten sehr intelligent versteckt. LI wirft eine Rucksack ins Auto (Belastung, Ballast), den nimmt es mit. Und, der nahezu geniale Einschub der Spuren im Sand. Und der wunderbare Schlußsatz " Ihre Abdrück im Sand sind breit und fest."

Sehr fein! Dies ist ein Ölgemälde und auch kein abstraktes Bild mit kreischenden Farben. Ich empfinde es als Bild mit ganz dezent gesetzten Farben. Feine, zart gesetzt Striche, die eine Ahnung ermöglichen und viel Raum für den Leser.

Nicole

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 11.01.2010, 10:28

Hallo Zefira,
obwohl (oder gerade weil) vordergründig wenig passiert und das dramatischste Ereignis, der Tod des Vaters, im Hintergrund stattfindet, finde ich den Text auf eine angenehme, unaufdringliche Weise einnehmend. Er ist voller detaillierter Beobachtungen, besonders die Art, wie diese Trostplakate von etwas zweifelhaftem Inhalt - die man in der Tat an vielen Plätzen findet - in den Verlauf integriert werden, fand ich sehr geschickt.
Viele Grüße
Merlin

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 12.01.2010, 00:00

Hallo ihr Lieben,
danke für eure Meinungen.
Die Geschichte mit dem türkischen Ehepaar habe ich exakt so erlebt wie hier erzählt. Sie war sogar noch bizarrer; die Essenswahl steigerte sich bis zu einem täglichen Weizenbier. Ich habe das Protokoll irgendwann gekappt, ehe es in Slapstick ausarten konnte.
Es war gruselig in dieser Umgebung, und zugleich wieder menschlich und tröstlich.
Auch die Plakate mit der sattsam bekannten Geschichte über die Fußspuren im Sand (sollte es jemand nicht kennen, setze ich mal einen Link unter vielen möglichen; siehe hier ) sind ein weiteres bizarres Puzzleteil inmitten dieses Szenarios, in dem man sich hilflos bemüht, mit dem Unfasslichen fertig zu werden - ebenso wie die überaus liebevoll hergerichtete Kaffeetheke im Flur (eine Kanne Kaffee, eine Kanne heißes Wasser, eine Auswahl Teetütchen, Zucker und Süßstoff, alles sorgfältig beschriftet) und die konsequente Weigerung, Geld anzunehmen, so sehr ich auch nachgefragt habe, ob nicht doch in irgendeiner Ecke ein Sparschwein versteckt sei - ich hätte so gern etwas gegeben, und was anderes als Geld ist in einer solchen Situation des völligen Ungleichgewichts nicht möglich. Es ist eine Welt für sich. Die Geschichte mit den Fußabdrücken im Sand, so abgedroschen sie sein mag, achte ich als tröstliches Element ebenso hoch wie alles andere, was ich dort erleben durfte - es sind sowieso alles untaugliche Versuche, aber besser als nichts, und jedenfalls das Beste, was möglich ist, wo sowieso alles versagt, was man geben könnte.
Lieben Gruß von Zefira
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Rosebud

Beitragvon Rosebud » 12.01.2010, 20:27

Hallo Zefira,

Deine "Onkologische Station" hat mich tief beeindruckt, weil Du es mit Leichtigkeit (entgegen der Thematik) und Bravur (bezogen auf den Spannungsbogen) schaffst, sowohl Tragik als auch Komik sowie den beides verbindenden emotionalen Tiefgang wohldosiert in einen kurzen, aber vielsagenden Text zu fassen. So trittfest wie Maryam nimmst Du den Leser an die Hand und führst ihn sicher auf und durch die Station und auch wieder hinaus bis zum Auto. An keiner Stelle in der Geschichte läuft Dein erzählendes Boot Gefahr, sich auf betroffen-rührseligen Sandbänken festzufahren oder kommt auch nur ansatzweise in Schieflage; stattdessen darf man sich als Leser ungetrübt mit Herrn K. freuen, dass er sich allen Maßregeln widersetzt und bestellt, als könnte es sein letztes Mahl sein. Das Leid des "Papas" bleibt intim und Leid erscheint auch nur angedeutet bei der Ich-Erzählerin. Dass Privates privat bleibt und Du somit einlöst, was Du im Titel versprichst (nämlich die onkologische Station zu schildern), hat mir gut gefallen. Am Ende des Textes hatte ich einen beeindruckenden Einblick in eine ebensolche bekommen.

Tolle Geschichte, super erzählt!

Gruß
Rosebud

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leonie
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Beitragvon leonie » 12.01.2010, 23:06

Liebe Zefi,

ich kann mich nur anschließen mit dem Lob.
Besonderes gefällt mir, wie Du die abgedroschene Fußspuren-Geschichte wendest: Ein menschlicher Engel mit ausgetretenem Schuhwerk. (Ich glaube, jetzt kann ich sie wieder ertragen).
Ansonsten ist das meiste schon gesagt. Wirklich gelungen!

Liebe Grüße

leonie
Zuletzt geändert von leonie am 13.01.2010, 12:12, insgesamt 1-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 13.01.2010, 09:21

Hallo Zefi,

ich schließe mich auch einfach an. :-) Wieder ein wunderbarer Text.
Er hat gar nichts aufdringliches, man kann sich darauf einlassen. "Privates bleibt privat" das habe ich auch so empfunden. Er geht sehr respektvoll und achtsam mit den Menschen um, und der autobiographische Hintergrund wird nicht zur Rechtfertigung oder Untersützung der Geschichte gebraucht, sie ist ganz unabhängig davon rund und wahr. Das ist wirklich bewundernswert, wenn das so gelingt, zumal bei dieser Thematik.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 13.01.2010, 21:05

Da kann ich nur in alle Richtungen "danke" sagen ...
Der Geschichte liegt tatsächlich ein sehr viel längerer Tagebucheintrag zugrunde, aus dem ich alles rein Autobiographische herausgestrichen habe, um nur die besondere Atmosphäre dieses Orts zu zeigen.
Lieben Gruß in die Runde
Zefira
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Herby

Beitragvon Herby » 15.01.2010, 12:08

Liebe Zefira,

dein Text bedarf für mich keines Lesezeichens, um mich seiner zu erinnern. Er ist in seiner berührenden Dichtheit selbst ein bemerkenswertes Lese-Zeichen.

Danke dafür!

LG Herby

Sam

Beitragvon Sam » 15.01.2010, 16:27

Hallo Zefira,

ich kann mich nicht ganz dem Lob meiner Vorkommentatoren anschließen. Wobei es natürlich an dem Text eine Menge zu loben gibt. Mir gefällt der unpathetische Ton der Geschichte, die genauen Beobachtungen und auch die Lakonie mit der vieles beschrieben wird.

z.B. dieser Abschnitt:
Im Flur hängen alle drei Meter Hinweiszettel mit Telefonnummern: Hospiz dies und Hospiz jenes, Sterbebegleitung, letzte Fragen; wo du nur eine Spur im Sand siehst, da trug ich dich. Hilfe bei Angst, Hilfe bei Schmerz. Hilfe bei Schmerz, Hilfe bei Angst.


Nun hast du ja selbst gesagt, dass du die Geschichte so erlebt hast. Dennoch lese ich ihn als Text, d.h. als ein literarisches Konstrukt, und da hat er meiner Meinung nach die ein oder andere Schwäche. Vielleicht gerade deswegen, weil du hier scheinbar 1:1 geschrieben hast.

Da wäre zunächst die Erwähnung, dass das Ehepaar ein türkisches ist. Das ist für den Text völlig unwichtig und lenkt eher ab. Es gibt da ja nichts "typisch Türkisches" an den beiden. Wichtig (und auch hervorragend beschrieben) ist der Mann, der das blühende Leben zu sein scheint und noch in seiner Situation nicht auf die von ihm bevorzugte "Vollwertkost" verzichten möchte, zum Unwillen seiner Frau. Ob das nun Türken, Armenier, Chinesen oder Deutsche sind, ist eigentlich völlig überflüssig. Im Gegenteil, gerade weil sie so untypisch sind, erwarte ich als Leser auch darin etwas, das die Geschichte mit trägt.

Des weiteren ist mir aufgefallen, dass du die Geschichte so erzählst, als wäre die Erzählerin das erste Mal in der Station. Woher weiß sie dann aber, dass jemand einmal am Tag dort die Blumen gießt?

Ich weiß, das sind Kleinigkeiten, aber bei jemanden wie dir, der auf sehr hohem Niveau schreibt, fällt es halt auf.

Liebe Grüße

Sam

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 15.01.2010, 18:58

Hm ...
Hallo Sam, danke für Deine Stellungnahme.
Mit dem türkischen Ehepaar hast Du vielleicht recht; nebenbei fallen mir in dem von Dir zitierten Satz jetzt auch die "alle drei Meter" unangenehm auf (ist genauso eine dämliche Redewendung wie "ich hab das siebenunddreißigmal probiert").
Mir ist aber nicht klar, warum Du meinst, die Erzählerin sei zum ersten Mal in der Station.
Wenn ihr Vater auf der Station liegt und sie selbst eine Woche später die Station zum (hoffentlich) letzten Mal verlässt, warum sollte sie dann nicht schon vorher dort gewesen sein? Dort halten sich ja viele Patienten über längere Zeit oder mehrmals auf. (Auch der "Gewichtheber" war schon einmal da, wie aus der Begrüßung hervorgeht.)
Irgendein Hinweis darauf lässt sich natürlich einflechten, aber mir ist jeder Satz, der über die Erzählerin selbst genauere Auskunft gibt, eigentlich schon ein Satz zuviel ...

Ich denke mal darüber nach.
Schönen Gruß und nochmal danke,
Zefira
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(Ikkyu Sojun)

Sam

Beitragvon Sam » 16.01.2010, 07:43

Hallo Zefira,

Mir ist aber nicht klar, warum Du meinst, die Erzählerin sei zum ersten Mal in der Station.


Aufgrund dieses Satzes:

Der gleiche Pfleger, der Rumpsteak und Wein ankreuzt, hat auf meine Frage, ob es viele schwere Fälle hier gäbe, geantwortet: »Hier gibt es überhaupt nur schwere Fälle.«

Das klingt so, als wäre die Erzählerin das erste Mal in der Station. Wahrscheinlich könnte man das natürlich mit einem kleinen Beisatz beheben.


Liebe Grüße

Sam

Yorick

Beitragvon Yorick » 16.01.2010, 15:26

Hallo Zefira,

auch mir hat der Text gut gefallen. Bereits erwähnt wurde ja die unaufdringliche Einarbeitung der „Fußspuren im Sand“. Fein. Besonders aber finde ich an diesem Text, dass er eine Wucht besitzt, ohne wuchtig zu sein. Es ist etwas von der Betäubung und der Endgültigkeit zu spüren, die der Tod hinterlässt.
„Eine Woche später ist es vorbei“. Und der Text geht weiter, das Leben geht weiter, dennoch ist alles vorbei. Nämlich wie es immer war. Und zum Schluss ist sogar die „Onkologische Station“ Geschichte.

Ich kann mir sogar gut vorstellen, dass du einige Sätze aus deinem Kommentar (11.01.2010, 23:00  ) mit in den Text aufnimmst (Kaffeetheke, Sparschwein). Ich finde, sie erschaffen noch mehr „Raum“.

Aber mich stören auch einige Kleinigkeiten. Gerade in so kurzen Texten ist ja jedes Wort, jedes Bild so ungemein wichtig.

Was Sam über das türkische Ehepaar sagt, sehe ich ähnlich. Allerdings transportiert dieses „türkisch“ auch eine Botschaft: Alle Menschen sind sterblich. Ob Türke, Spanier oder Amerikaner. Es ist ganz banal, klar, aber man ist gerade im Tod allein – und eben nicht. Wenn zweifelsfrei alle Menschen eines gemeinsam haben, dann dies. Ich denke, wenn du näher an die beiden herangehts, noch mehr die Menschen unter der „Komik“ beleuchtest, könnte es besser funktionieren. Dann wird es für den Text interessant, dass es „Ausländer“ sind – oder Menschen.

„Ein Prachtmensch“? Nach Körperbaugesichtspunkten? Woa, da kommen mir sofort die Nürnberger Rassengesetzte in den Kopf. Kannst du da nicht spezifischer werden? Warum ist es ein „Prachtmensch“? Nicht das Allgemeine herausstellen, sondern das Spezifische. So wie du es mit dem Seidenturban machst.

Verständnisfragen: Welche Frau kocht gut? Was ist mit den „Achtundneunzig“ gemeint? Es wird mE nicht klar, ob er dort „wohnt“, ober er gerade (mal) wieder kommt, oder ob das Ausfüllen der Essenskarte ein wöchentliches Ritual ist. Sitzen sie im Wartebereich aus Mangel an anderen Orten? Kann man das deutlich machen?

Sagt er wirklich „schüchtern“ mit Pute? Oder zaghaft, zögerlich, suchend? Und „mannhaft“? Was ist das? Bestimmt, entschieden, mutig..?

Ich denke in diesem Abschnitt ist viel mehr möglich an Nähe zu den Personen. Insgesamt habe ich bei dem Text das Gefühl, das er sehr „beobachtet“ wirkt. Als wolle jemand genau beobachten, um darüber Schreiben zu können. Ich denke, es würde den Text intensiver machen, wenn LI mehr „in der Geschichte“ ist. Z.B. wie reagiert sie auf das Zwinkern der Frau? Wen kennt sie noch dort, z.B. könnte man hier schon Schwester Maryam einführen, das Schafft Verbindungen.

„Der gleiche Pfleger, der Rumpsteak und Wein ankreuzt,“ ja, sie sitzt ja mit bei der Gruppe, eigentlich daneben. Warum spricht sie ihn nicht direkter (im Text) an, dann wäre sie Teil der Szene.

Ebenso am Ende, beim Geld: „Nein, heißt es,.. “ warum sagt das nicht Maryam direkt? Da könnte LI mit dem Portemonnaie stehen, im Kontakt mit Maryam. Blicke, Worte oder eine Berührung. Oder eben nicht.

„Hospiz dies und Hospiz jenes “
und

„Hilfe bei Angst, Hilfe bei Schmerz. Hilfe bei Schmerz, Hilfe bei Angst. “

Warum nicht genauer? Ich will mir ein Bild von dem Ort machen. "Dies und Jenes": warum so allgemein?

Auch die Wiederholung trägt kein Bild. Was ist speziell an den Zetteln?

Was ist mit dem „Mensch“ der die Blumen gießt? Warum wird er erwähnt? Er könnte interessant sein, skurril, menschlich. Es geht um den Tod, da ist jedes Leben besonders. Ich würde gerne das Leben dieses Mannes spüren, in einem Satz, mit einem Blick in sein Gesicht.

Und auch den Pfleger: „Hier gibt es nur schwere Fälle“. Was bedeutet das für ihn? Für LI? Gibt es einen Blick, entsteht hier etwas? Nur ein Satz oder vielleicht ein Wort, was auf das Besondere hinweist.

Ich finde dieser Text hat eine intensive Bearbeitung verdient. Er trägt schon jetzt, und ich denke du könntest ihn wirklich stark machen, wenn du mehr in die Bilder und Menschen investierst.

Viele Grüße,
Yorick.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 17.01.2010, 11:30

Hallo Zefi, Sam, Yorick,

ich muss da ein wenig widersprechen, weil ich die Einwände nicht ganz nachvollziehen kann, mir sowohl der Gesprächsverlauf klar ist, als auch die Erzählhaltung, der Grad des Zeigens, mir genau richtig und stimmig für die Geschichte scheint.

Sam hat geschrieben:Da wäre zunächst die Erwähnung, dass das Ehepaar ein türkisches ist. Das ist für den Text völlig unwichtig

Das empfinde ich nicht so, ich denke daraus kann sich (muss aber nicht, weil es so schön unaufdringlich einfach festgestellt, beobachtet wird) auch einiges an guten Gedanken ergeben.

Sam hat geschrieben:Der gleiche Pfleger, der Rumpsteak und Wein ankreuzt, hat auf meine Frage, ob es viele schwere Fälle hier gäbe, geantwortet: »Hier gibt es überhaupt nur schwere Fälle.«

Das klingt so, als wäre die Erzählerin das erste Mal in der Station. Wahrscheinlich könnte man das natürlich mit einem kleinen Beisatz beheben.

Für mich liegen diese Frage und Antwort in der Vergangenheit, sonst müsste es doch in der Gegenwart stehen: ...antwortet auf meine Frage..., oder?

Yorick hat geschrieben:Ich denke in diesem Abschnitt ist viel mehr möglich an Nähe zu den Personen. Insgesamt habe ich bei dem Text das Gefühl, das er sehr „beobachtet“ wirkt. Als wolle jemand genau beobachten, um darüber Schreiben zu können.

Ich denke mehr Nähe würde für mich nicht funktionieren, es ist genau dieses Beobachten, dieses Außen vor bleiben, in gewissem Sinn an der Oberfläche bleiben, nicht zu genau hin(ein)schauen, weil da sonst etwas Anderes, eine ganz andere Geschichte stehen müsste. Für mich entsteht dadurch der Raum für ein ganz privates und berührendes Innen (Gehalt), das sich darin zeigt, ohne auserzählt zu werden, und das macht für mich diesen Text erst möglich. Auch dieser Eindruck "beobachten, um darüber Schreiben zu können", zeigt für mich etwas vom LIch, seiner Art mit Situationen umzugehen.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)


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