Die Körper
Verfasst: 02.09.2010, 18:55
Die Körper
Sie verschwanden.
Als ich etliche Jahre nach einer selbstgewählten Verbannung wieder zum Friedhof ging, lag dort nur noch mein Vater. In einer mir völlig unbekannten Reihe. Das war mir nicht recht, ihn dort suchen zu müssen. Es war so ungewohnt.
Meine Stiefmutter ging vor mir her, streng, ungehalten, wie immer. Sagte sie mir damals, dass ich „leicht lernte“? Halb anerkennend, halb vorwursvoll. Das Leichte klang wie Leichtsinn, Leichtlebigkeit, man wog nicht gern leicht: ich war immer leichten Sinns und auch heute ist mir die Schwermut fremd. Ich hätte es gern, das Schwere, Gewichtige. Doch ich wurde gewogen und zu leicht befunden.
Ich schaute nicht zu den Reihen hin, wo sie alle lagen, die ich gut kannte. Zunächst, an der Friedhofsmauer die Gräber der toten Arbeiter einer Lederfabrik, unter dem Gewicht der einstürzenden Decke und der darauf stehenden schweren Maschinen begraben. Ihnen stattete ich gern einen Nebenbesuch ab. Davor der Urgoßvater. Er, der sein Leben hager und verdorrt in der Mansarde eines unfertigen Siedlungshauses beschloss, in meiner Gegenwart, will mir scheinen: niemand ist da, um mir zu widersprechen, er starb bei unserem gemeinsamen Frühstück. Wir hatten Schalen, wie ich sie später in Frankreich kennenlernen sollte, mit trockenen Brotstückchen, auf die warmer
gesüßter Milchkaffee gegossen wurde. Mir ist noch lebhaft der Stoppelbart vor Augen, in dem sich ein feuchtes Brotstück verfangen hatte, sein Blick, bereits gebrochen, wie das Erbrochene.
Davor lag meine Mutter, ich begreife erst jetzt, warum es mir so fremd erscheinen musste, sie nicht auf derselben Seite des Friedhofs zu sehen. Bei ihr verbrachte ich Stunde um Stunde, das Grab wurde gehegt und gepflegt. Von jener todesversessenen Großmutter, die ihnen allen nachlief, mich am Rockzipfel. Nie war der Vater, als er noch lebte, dabei. Heute denke ich oft, sie hat sie ihm endgültig entrissen. Nichts war mehr da, als diese Spur, der Grabstein, ein Lied, ein Märchen, die Aschenputtelattitüde.
Bei diesem Gang durch die ungewohnte Seite des Friedhofs – ich erinnere mich an die Beerdigung, der ich trotz größter Konfliktgefahr beigewohnt hatte, mit einem lächerlichen, schwarzen Basthut, 1967, Ohnesorg zählte mehr, dachte ich und stand dennoch da, starr, als die Hälfte der Trauergesellschaft an mir vorbeischritt, mich ungesehen machte und dann. Dann richtete ich mich auf, ging in die großen Städte, nicht wahr Anna, Ja, Anna.
Bei diesem Gang durch die ungewohnte Seite des Friedhofs – ich erinnere mich an das Grab eines Schulkameraden, das ich jahrzehnte später in aller Heimlichkeit besucht hatte, denn eine kleine Schulliebe kettete mich an ihn. Einer, der mit ausgezogen war die Welt kennen zu lernen, ein Zeitgenosse, im eigentlichen Sinn.
Bei diesem Gang durch den Friedhof erwähnte sie zweierlei. Mein Vater habe den Fluch, den er gegen mich ausgestoßen hatte, zurückgenommen, und sie habe ihm versprochen, mir das mitzuteilen. „Aber“, sagte sie, „dein Vater hätte es nicht gut geheißen, dass du einen Franzosen heiratest.“
Auch sein Grab verschwand. Meine Stiefmutter wird noch einige Jahre dort liegen.
Sie verschwinden alle.
Sie verschwanden.
Als ich etliche Jahre nach einer selbstgewählten Verbannung wieder zum Friedhof ging, lag dort nur noch mein Vater. In einer mir völlig unbekannten Reihe. Das war mir nicht recht, ihn dort suchen zu müssen. Es war so ungewohnt.
Meine Stiefmutter ging vor mir her, streng, ungehalten, wie immer. Sagte sie mir damals, dass ich „leicht lernte“? Halb anerkennend, halb vorwursvoll. Das Leichte klang wie Leichtsinn, Leichtlebigkeit, man wog nicht gern leicht: ich war immer leichten Sinns und auch heute ist mir die Schwermut fremd. Ich hätte es gern, das Schwere, Gewichtige. Doch ich wurde gewogen und zu leicht befunden.
Ich schaute nicht zu den Reihen hin, wo sie alle lagen, die ich gut kannte. Zunächst, an der Friedhofsmauer die Gräber der toten Arbeiter einer Lederfabrik, unter dem Gewicht der einstürzenden Decke und der darauf stehenden schweren Maschinen begraben. Ihnen stattete ich gern einen Nebenbesuch ab. Davor der Urgoßvater. Er, der sein Leben hager und verdorrt in der Mansarde eines unfertigen Siedlungshauses beschloss, in meiner Gegenwart, will mir scheinen: niemand ist da, um mir zu widersprechen, er starb bei unserem gemeinsamen Frühstück. Wir hatten Schalen, wie ich sie später in Frankreich kennenlernen sollte, mit trockenen Brotstückchen, auf die warmer
gesüßter Milchkaffee gegossen wurde. Mir ist noch lebhaft der Stoppelbart vor Augen, in dem sich ein feuchtes Brotstück verfangen hatte, sein Blick, bereits gebrochen, wie das Erbrochene.
Davor lag meine Mutter, ich begreife erst jetzt, warum es mir so fremd erscheinen musste, sie nicht auf derselben Seite des Friedhofs zu sehen. Bei ihr verbrachte ich Stunde um Stunde, das Grab wurde gehegt und gepflegt. Von jener todesversessenen Großmutter, die ihnen allen nachlief, mich am Rockzipfel. Nie war der Vater, als er noch lebte, dabei. Heute denke ich oft, sie hat sie ihm endgültig entrissen. Nichts war mehr da, als diese Spur, der Grabstein, ein Lied, ein Märchen, die Aschenputtelattitüde.
Bei diesem Gang durch die ungewohnte Seite des Friedhofs – ich erinnere mich an die Beerdigung, der ich trotz größter Konfliktgefahr beigewohnt hatte, mit einem lächerlichen, schwarzen Basthut, 1967, Ohnesorg zählte mehr, dachte ich und stand dennoch da, starr, als die Hälfte der Trauergesellschaft an mir vorbeischritt, mich ungesehen machte und dann. Dann richtete ich mich auf, ging in die großen Städte, nicht wahr Anna, Ja, Anna.
Bei diesem Gang durch die ungewohnte Seite des Friedhofs – ich erinnere mich an das Grab eines Schulkameraden, das ich jahrzehnte später in aller Heimlichkeit besucht hatte, denn eine kleine Schulliebe kettete mich an ihn. Einer, der mit ausgezogen war die Welt kennen zu lernen, ein Zeitgenosse, im eigentlichen Sinn.
Bei diesem Gang durch den Friedhof erwähnte sie zweierlei. Mein Vater habe den Fluch, den er gegen mich ausgestoßen hatte, zurückgenommen, und sie habe ihm versprochen, mir das mitzuteilen. „Aber“, sagte sie, „dein Vater hätte es nicht gut geheißen, dass du einen Franzosen heiratest.“
Auch sein Grab verschwand. Meine Stiefmutter wird noch einige Jahre dort liegen.
Sie verschwinden alle.