Rita

Nifl
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Beitragvon Nifl » 06.11.2010, 11:39

Er schweißt am Schweller. Hellblauer Opel Kadett B LS Coupé, Baujahr 1970, zwei schwarze Rallystreifen. Das Auto seiner Mutter. Mit zwei Holzscheiten gegen Wegrollen gesichert, vor dem mit wildem Wein überwuchertem Carport (das damals noch "offene Garage" hieß). Direkt an der Dorfstraße ohne Bürgersteig. Die alten sprechen Plattdeutsch, grüßen mit "Moin". Als seine Mutter noch lebte, sagte sie immer: "Was der Jung alles kann!". Bis zu ihrem Ende hatte sie Haare bis zum Po und sprach oft von reaktionären Schweinen. Sie konnte kein Platt und nicht stricken. Er ist nie ausgezogen, lebt jetzt allein in dem Haus. Jeden Tag wird ihr Opel vorgeschoben. Er ist nicht mehr angemeldet. Wozu auch. Bernd hat schon dreimal seinen Führerschein verloren und nun wird es kompliziert, ihn zurückzubekommen. Er muss sich beeilen, gleich ist es 15 Uhr. Dann spaziert Rita die Straße entlang. Sie grüßt nicht mit "Moin". Sie grüßt überhaupt nicht. Vielleicht mal ein gehetzter Blick. Ihr Gang ist steif, dabei schwenkt sie die ausgestreckten Arme weit. Sie ist mager, trägt immer eine rote Kunstlederjacke. Ihre schwarzen Haare wirken fettig und glänzen, bilden einen starken Kontrast zu ihrer weißen Gesichtsfarbe. Wenn die Mutter sie sah, murmelte sie immer: "Ach, das arme Schneewitchen". Bernd hebelt mit einem Feuerzeug eine Flasche Holsten auf, nimmt einen kräftigen Schluck. Dabei guckt er nicht auf die Flasche, sondern die Straße entlang. Seine hellblauen Augen wirken wie Edelsteine in dem aufgedunsenen Gesicht, als seien sie von einem Kind zu tief in eine Sandfigur gedrückt worden. Sie verspätet sich heute. Manchmal stellt er sich vor, wie sie nebeneinander im Kadett fahren. Er sieht sich und Rita dann von hinten durch die schräge Heckscheibe auf den Sitzen ohne Kopfstützen. Und durch die Frontscheibe den Horizont (Abendrot). Doch Rita kommt heute nicht. Auch am nächsten Tag nicht und am übernächsten. Die Schiebetür vom Bäckerwagen rauscht an den Anschlag. Die ganze Nacht hat er überlegt, wie er fragen würde. Aber ihm ist keine Wendung eingefallen, wie es zufällig klingen könnte. "Moin. Ein Sesam und ein Mohn. Ach … und den Flachmann da. "
Morgen, morgen wird er nach ihr fragen. Scheißegal dann.

Edit: Nach Pjotrs Anmerkung ein büschen an der Perspektive geschraubt.
Zuletzt geändert von Nifl am 06.11.2010, 14:02, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Pjotr » 06.11.2010, 11:58

Gefällt mir durchweg sehr sehr gut.

Nur eine kleine Unsicherheit meinerseits: "Doch Rita kommt heute nicht, und morgen nicht und überhaupt nicht mehr." -- Weiß das nur der Erzähler? Für einen Moment dachte ich, Bernd, der ja Teil des Gesamt-Szenarios ist, wüsste das auch, und dass der Erzähler mir quasi Bernds Wissen nur weiterleitet, und nicht hinzufügt. Aber am Schluss lese ich, er würde nach ihr fragen (obwohl sie ja überhaupt nicht mehr kommt). -- Aber das nur am Rand. Es hat sich von selbst erklärt.


Prost

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Beitragvon Nifl » 06.11.2010, 14:03

Wo er Recht hat, hat er Recht.
Danke für deinen Kommentar.

Viel Spaß
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Beitragvon Pjotr » 06.11.2010, 14:27

Hm? :-) Vorher fand ich den Satz aber besser, flüssiger. Der Satzbau war auch nicht das Problem, das ich meinte :-)


P.

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Beitragvon Nifl » 06.11.2010, 14:56

Schon klar Pjotr. An dieser Stelle war die Fokalisierung der Perspektive aus dem Ruder gelaufen und ins Allwissende gedriftet.
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Beitragvon Zakkinen » 06.11.2010, 16:01

Vielleicht ein Absatz vor dem kritischen Satz mit dem (inzwischen nur noch beinahe) Perspektivwechsel?

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Beitragvon Pjotr » 07.11.2010, 01:01

Ah, jetzt hab ich's kapiert. Ja, genau. Problem gelöst.

Die Verteilung des Nichts könnte vielleicht noch überdacht werden:

Original:
"Auch am nächsten Tag nicht und am übernächsten."

Da habe ich als alter Logiker ein Problem im Ausdruck.

Vorschlag:
"Auch nicht am nächsten Tag, und am übernächsten nicht."


Zwar doppeltes Nichts, aber dafür semi-poetisch-untrocken gespiegelt -- und Logik klarer -- und durch die Häufung des Nichts bleibt die Intensität der Traurigkeit der allerersten Version erhalten.


P.

Sam

Beitragvon Sam » 08.11.2010, 17:42

Hallo Nifl,

das ist kein uninteressanter Text, den ich nach mehrmaligen Lesen in seinem Grundton als "reaktionär" einstufen würde, weswegen er mir nicht unbedingt sympathisch ist, was natürlich keinen Einfluss auf meine Beurteilung haben sollte, aber vielleicht dennoch hat.

Du beschreibst hier einen Loosertypen, der immer brav daheim bei Mama geblieben ist, sich von ihr niemals lösen konnte, in einer derben rhetorischen Selbstständigkeit verharrt, aber nicht die Eier in dier Hose hat, sich nach einem Mädchen zu erkundigen, geschweige denn, sie anzusprechen. Dass er sich die Einrichtung seines Seelenhaushaltes zusammentrinken muss, erscheint nur logisch.

Die unerfüllte Prekariatslovestory ist nicht halb so interessant, wie das kurze Bild der Mutter, das du du hier zeichnest. Unangepasst, links, ein wenig Öku (die langen Haare), aber trotzdem einen Opel Coupé mit Ralleystreifen fahrend. Das ist eine Type, von der ich gerne mehr erfahren würde (was nicht heißt, der Text müsste mehr erzählen oder länger sein). Aber es geht hier ja nicht wirklich um die Mutter, es geht um den Sohn. Da der aber ein so blasses Bild abgibt, bemitleidenswert ja, etwas tragisch ja, aber im Endeffekt doch wirklich platt, wirft das einen Schatten auf das doch wesentlich vielschichtigere Bild der Mutter. Der Sohn erscheint beinahe schuldlos an seinem eigenen Loosertum. Da aber die Mutter in einer Klischeezeichnung mit leichten Ausbrechern feststeckt, erschliesst sich keinerlei Raum für Differenzierungen. Dem Leser bleibt also nichts anderes übrig, als Althergebrachtes und Stereotypen zu bemühen. Und die laufen auf den Gedanken hinaus: In bürgerlichen Verhältnissen wäre das alles ganz anders verlaufen.

Das von Pjotr angeführte Perspektivproblem scheint mir übrigens noch nicht wirklich gelöst. Und der Satz...

"Auch am nächsten Tag nicht und am übernächsten."

...ist doch sehr ungelenk und widerborstig.


Gruß


Sam

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Beitragvon Pjotr » 09.11.2010, 02:01

Interessant, Sam. Die unangepasste Mutter als Ursache des sohnemannschen Losertums zu sehen, und das so reaktionär, -- in diese Sichtweise bin ich während des Lesens nicht geraten. Und ich lese es immer noch nicht so. Im Gegenteil, ich empfinde die Beschreibung der Mutter als total neutral. Sie ist so neutral, der Text könnte glatt aus der Sam-Schule sein, ha! :-)

Die Gegenteiligkeit der Wahrnehmungen ist hier wirklich erstaunlich, so, vor dem Hintergrund der ganzen Literaturwissenschaftlichkeit. Vielleicht sind hier wirklich die Leistungsgrenzen der Literatur erreicht, und die Psychologie übernimmt zunehmend das Sagen.

Oder gibt es doch noch literaturtechnische Argumente? Wahrscheinlich habe ich etwas übersehen.


Cheers

Pjotr

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 09.11.2010, 07:39

Dass die Mutter so dermaßen anders ist als der Sohn, macht die Sache besonders bedrückend. Man fragt sich allerdings wirklich: Was ist schief gelaufen? War die Mutter Ursache, hat sie das verklemmte Verhalten des Sohnes heraufbeschworen? Und da kommen einem schon eher andere Mutter-Typen in den Sinn.
Ich bin unentschieden, ob ich mehr (psychologische) "Stimmigkeit" vorziehen würde oder ob mir dieser Bruch gerade gefällt. Nur würde letztere Version nach (zumindest einer angedeuteten) Auflösung verlangen.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 09.11.2010, 12:05

Ich würde gern von Sam wissen, warum er den Text als reaktionär empfindet?
Wenn es irgendwie nötig ist, die Mutter in eine bestimmte Milieuschublade zu tun, würde ich weniger an das Ökomilieu denken - da sie einen erwachsenen Sohn hat, müsste sie der Ökowelle um die Siebziger zuzuordnen sein, und dann würde sie stricken können, das taten damals nämlich alle. Ich würde sie eher dem Rockermilieu zuordnen. Dazu passt das Auto dann irgendwie auch, oder? (Kenne mich leider nicht wirklich aus.)

Aber warum machen sich hier eigentlich alle soviel Gedanken um die Mutter und gar keine über Rita?

Wenn sie jeden Tag um die gleiche Zeit vorbeikommt, steht sie entweder im Arbeitsleben oder ist irgendwelchen Zwängen unterworfen, die ihr Angehörige auferlegen oder die sie sich selbst auferlegt. Ihr derangiertes Äußeres - fettige Haare, bleiches Gesicht, gehetzter Blick, immer gleiche Kleidung und der Umstand, dass die Mutter sie als "arm" bezeichnete - spricht für letzteres. Ich finde diese Gestalt geradezu gespenstisch, vor allem, wenn man bedenkt, dass wir sie ja durch Bernds Augen sehen, also die Augen von jemandem, der in sie verliebt ist. Vielleicht ist Bernd normal gar nicht so furchtbar schüchtern. Vielleicht ist es nur diese eine spezielle Frau, die ihn einschüchtert?

Schon lustig, wie viele Fragen dieses kurze Stück aufwirft.

Schönen Gruß von Zefira
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(Ikkyu Sojun)

Yorick

Beitragvon Yorick » 09.11.2010, 13:56

Schneewitchen also.

Nein, der Text ist nicht analog zum Märchen, aber es steckt drin. So wie der Prinz mit Braut im Arm ins Abendrot reitet.

>> Das Auto seiner Mutter.

Die Gute ist aber schon längst tot. Bernd hat also das Auto nie wirklich übernommen, seine Mutter lebt noch immer - oder er bei seiner Mutter.

>> Er ist nie ausgezogen, lebt jetzt allein in dem Haus.

Ja immer noch. Nicht sein Haus, sonderer lebt allein.

Und Schneewitchen? Die Hoffnung, auf der alles ruht. Verschwindet. Tot? Vielleicht.

Schlimmer wirkte in meiner Vorstellung die Idee, dass sie fortgegangen ist, den Schritt ins Leben gewagt hat. Und Bernd nun verlassen wurde, zurückgelassen. Schlimmer als der Umstand ihres Weggangs könnte für ihn die Tatsache wiegen, dass er *nicht* fortgegangen ist.

Aber das erstickt schon wieder im Flachmann, in völliger Selbstaufgabe, in Angst vor dem Aufbruch.

Ökömutter mit Prollsohn. Da muss soviel schief gelaufen sein, dass strotzt vor Ödipus.
Und wo ist der Vater? Da ist noch nicht mal die Idee das Vaters in dem Text.

Ich weiß nicht, ob mir der Text gefällt. Ich möchte gerne noch mehr erfahren über die Mutter und über Bernd. Über Schneewitchen. So bleibt der Text für mich stecken in seinem scheinbar klaren Entwurf, obwohl viel angerissen wird. Gerade Bernd ist mir da zu flach - die Selbstaufgabe ist mir zu beschlossen.

Gruß,
Yorick.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 09.11.2010, 14:46

Ach, ich wollte noch gern wissen - was ist denn ein Schweller? (Von den Assoziationen, die mir da gekommen sind, sag ich jetzt mal besser nichts. :eusa_shhh: )

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Yorick

Beitragvon Yorick » 09.11.2010, 14:52

Triftt es aber ziemlich genau.

Es sind Schwellkörper links und rechts längs in Bodennähe am Auto.

Sowat:
http://www.huthmanntuning.de/catalog/im ... %20E32.jpg


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