Liebe Gabriella,
ich verstehe den Text so, dass es zwei Parallele „Räume“ gibt: einen realen und einmal den Körper. Das reale Zimmer ist ein Ort zum Abreagieren, damit das Versprechen, dem Körper nicht mehr Gewalt zuzufügen (hier insbesondere das Ritzen, Schneiden in die 5 Schichten der Haut = „Häutungen“), dass der Protagonist sich selbst gegeben hat, gehalten werden kann. Statt der eigenen Haut wird der Raum malträtiert, Bälle gedrückt, die drücken, aber nicht stechen, der Sandsack bearbeitet, schließlich sogar die Wand mit ihren Schichten geschnitten, gerissen, bis eine alte rote Tapete zum Vorschein kommt.
Das selbstgegebene Versprechen kann gehalten werden: am Ende hat der Raum gelitten, aber der Körper blieb unversehrt, wie haarscharf bzw. intensiv erlebt diese Entscheidung war, zeigt nicht zuletzt sicher, das Rot der Tapete, das an das Blut erinnert, das zum Vorschein kam, als das Ich noch sich selbst verletzte. Da das Versprechen aber gehalten werden konnte, ist dies im Grunde die eigentliche Häutung (sich nicht gehäutet zu haben): das Ich hat es geschafft, dadurch, sich nicht auf falsche/trügerische Weise zu häuten, sich tatsächlich zu häuten, eine andere zu sein.
Insgesamt finde ich das sehr passend zum Monatsthema und mag, dass er ans Eingemachte geht. Allerdings ist mir die Umsetzung etwas zu direkt, die Requisite, anhand derer die Qual des Ichs beschrieben wird, zu psychologisch. Du wolltest hier wahrscheinlich aber genau das zeigen: wie jemand mit einer bestimmten (Selbst-)therapie ein bestimmtes Verhalten überwindet. Mich würde aber mehr in den Bann ziehen, wenn dabei der innere Kampf, die Erfahrung, die Muster, die das Ich nötigen, derart mit sich zu kämpfen, um sich nicht (mehr) selbst zu verletzen, erfahrbarer wären. Denn man erfährt ja im Grunde nichts persönliches über das Ich, die Probleme, das Leid bleibt abstrakt, im Grunde könnte man so zu jeder Theorie über ein bestimmtes, klassifiziertes psychologisches Krankheitsbild solch eine Geschichte erfinden, ohne dass es einen Menschen dazu geben müsste, der tatsächlich darunter leidet. Und das fasst für mich, dass es dem Text an etwas fehlt: wer ist das da in der Geschichte?
Inhaltlich würde ich dann noch anmerken, dass ich das Verhalten des Protagonisten nicht als heilend/konstruktiv erfinde.
Sicherlich ist eine der einfachsten Grundlagen menschlichen Verhaltens, dass in den allermeisten Fällen ein bestimmtes, regelmäßiges Verhalten schon etwas konditioniert, was für diesen Fall bedeutet, dass das Ich, wenn es lange genug Bälle und Wände bearbeitet, vielleicht tatsächlich eine gewisse Umstrukturierung seines Verhaltens bewirkt und sich nicht mehr (so häufig) selbst verletzt. Allerdings wirkt das Ich doch sehr unter Druck und mit der Ursache des Drucks wird sich nicht auseinander gesetzt (klar kann das Ich parallel noch eine Gesprächstherapie oder ähnliches machen, aber davon erzählt der Text nichts), wodurch bei mir der Eindruck entsteht, dass der Druck nur verlagert wird, was für mich eher ein Spiel auf Zeit bedeutet oder dass der Druck an anderer Stelle sich neue Ventile sucht (Essstörungen oder dergleichen etwa). Letztlich muss ich sagen, dass ich die Haltung des Ichs zu sich selbst als noch genauso kontrolliert und strafend empfinde wie das Verhalten sich selbst zu schneiden. Für mich hat deshalb keine Häutung im höheren Sinne stattgefunden.
Allerdings lässt der Text die Frage, ob das Ich sich erfolgreich häutet ja tendenziell offen. Wobei ich schon vermute (aber das vielleicht ungerechterweise, weil ich dich kenne), dass du das eher im Sinn hattest ein erfolgreiches Bekämpfen des Ichs zu zeigen? Bekämpfen bedeutet aber eben für mich keine Befreiung und Befreiung empfände ich als die angestrebte Häutung.
Für mich steht das Unterlassen der Symptome gefühlt eben eher am Ende des Entwicklungsprozesses des Ichs, hier scheint es mir am Anfang zu stehen. Psychologen würden sich wohl in der Mitte ansiedeln, je nach Ansatz mal mehr mit Zug zu mir oder dir .-), mein literarischer Anspruch („Text, zeig mir einen Menschen!“) ist aber eben nicht psychologisch motiviert.
Ich denke aber, dass der Text deiner Intention nach schlüssig und rund ist.
Noch eine Idee zum Schluss:
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Ziehe den Pullover über den Arm.
Ich habe mein Versprechen gehalten.
Im Grunde könntest du hier doch auch schreiben:
Den Pullover muss ich nicht über den Arm ziehen.
Ich habe mein Versprechen gehalten.Denn es ist ja ein typisches Verhalten von sich selbstverletzenden Menschen, dass sie versuchen, ihre sich selbst zugefügten Wunden zu verstecken. Der Pullover ist ja auch so eine Art Haut und hier könnte dann als Ende stehen, dass das Ich eben diese Haut nicht mehr braucht, da die eigene gezeigt werden kann.
liebe Grüße,
Lisa