Häutungen
Verfasst: 01.05.2011, 18:39
I
Es war ein gruselig-schöner Anblick: Jeden Vormittag schlich Gerd zu dem alten Schuppen im Niemandsland hinter den Nachbargrundstücken: in einem kleinen Holundergebüsch stand er, mit alten, verfaulenden Planken, die an manchen Stellen Einlicke in das Dunkel des Inneren boten, zerbröckelnden Dachschindeln und flechtengrünen Flanken. Aber nicht das braunschwarze, baufällige Gebäude war es, das ihn faszinierte: nein, hinter die an verrostenden Eisenhaltern hängenden Fensterrahmen schaute er dann immer, Tag für Tag, Woche für Woche, monatelang, wenn er keine dringenden Aufgaben zu erledigen hatte oder in die Schule mußte. Denn da saß in einem höhlenartigen Fadentrapez, das so lang war wie sein Unterarm und an der ebenen Oberfläche so breit wie seine Hand, an den Holzflügel gepresst, eine riesige, langbeinige, dunkelbraun-fleckige, behaarte Spinne. Mit einer Mischung aus Ekel und unbegründbarer Furcht, diese könnte plötzlich nach vorne, auf ihn zuschnellen, stand er davor und wartete minutenlang, dass sie irgendein Zeichen von Leben, von Bewegung zeigte. Doch die Spinne saß nur da, mit angewinkelten Beinen und stierte vor sich hin, hungrig und lauernd.
II
Erst nach einigen Monaten, als der Hochsommer schon erste Ermüdungserscheinungen zeigte und die Schatten länger wurden, schöpfte er Verdacht. Er nahm ein langes, dünnes Ästchen und näherte sich dem Tier und als es sich auch dann nicht bewegte als er es berührte, piekste er es damit, und richtig, statt des insgeheim immer noch befürchteten Angriffs fiel das Tier auseinander. Zuerst brach eines der Beine ab und dann zerfiel die ihm zugewandte Außenseite des Körpers zu Staub und hinterließ ein Loch, den Durchbruchstellen des Holzschuppens nicht unähnlich. War Gert nun enttäuscht von dem trügerischen Objekt oder seinen eigenen Gefühlen, die ihn auf fast blamable Weise genarrt hatten? Er wußte es nicht genau, war insgeheim aber froh, dass er niemanden als Augenzeugen mitgenommen hatte, jetzt da der Beweis für die völlige Gefahrlosigkeit erbracht war.
III
Jahrzehnte später, als er schon erwachsen war, seine Ausbilung bei der Polizei und vier jahre Streifendienst absolviert hatte, fiel Gerd dieser Anblick spontan wieder ein. Er war seit ein paar Monaten bei der Kriminalpolizei und sah bei einen Einsatz seinen ersten menschlichen Toten. Es hatte vor einer Disco eine Schiesserei gegeben und als er ankam, sah er eine männliche Gestalt dort liegen, etwas älter als er, dunkler Teint und dunkle Haare. Der Tote lag in einem Gespinst aus Blut und breiigen Gehirnresten und starrte ihn mit aufgerissenen, schwarzschillernden Spinnenaugen an. Ah, so ist das, sagte Gerd halblaut, Du bist es, diesmal kriegst Du mich nicht mit Deiner leeren Hülle und laut rief er den eingetroffenen Sanitätern zu, sie sollten für den Toten eine Decke mitbringen.
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Es war ein gruselig-schöner Anblick: Jeden Vormittag schlich Gerd zu dem alten Schuppen im Niemandsland hinter den Nachbargrundstücken: in einem kleinen Holundergebüsch stand er, mit alten, verfaulenden Planken, die an manchen Stellen Einlicke in das Dunkel des Inneren boten, zerbröckelnden Dachschindeln und flechtengrünen Flanken. Aber nicht das braunschwarze, baufällige Gebäude war es, das ihn faszinierte: nein, hinter die an verrostenden Eisenhaltern hängenden Fensterrahmen schaute er dann immer, Tag für Tag, Woche für Woche, monatelang, wenn er keine dringenden Aufgaben zu erledigen hatte oder in die Schule mußte. Denn da saß in einem höhlenartigen Fadentrapez, das so lang war wie sein Unterarm und an der ebenen Oberfläche so breit wie seine Hand, an den Holzflügel gepresst, eine riesige, langbeinige, dunkelbraun-fleckige, behaarte Spinne. Mit einer Mischung aus Ekel und unbegründbarer Furcht, diese könnte plötzlich nach vorne, auf ihn zuschnellen, stand er davor und wartete minutenlang, dass sie irgendein Zeichen von Leben, von Bewegung zeigte. Doch die Spinne saß nur da, mit angewinkelten Beinen und stierte vor sich hin, hungrig und lauernd.
II
Erst nach einigen Monaten, als der Hochsommer schon erste Ermüdungserscheinungen zeigte und die Schatten länger wurden, schöpfte er Verdacht. Er nahm ein langes, dünnes Ästchen und näherte sich dem Tier und als es sich auch dann nicht bewegte als er es berührte, piekste er es damit, und richtig, statt des insgeheim immer noch befürchteten Angriffs fiel das Tier auseinander. Zuerst brach eines der Beine ab und dann zerfiel die ihm zugewandte Außenseite des Körpers zu Staub und hinterließ ein Loch, den Durchbruchstellen des Holzschuppens nicht unähnlich. War Gert nun enttäuscht von dem trügerischen Objekt oder seinen eigenen Gefühlen, die ihn auf fast blamable Weise genarrt hatten? Er wußte es nicht genau, war insgeheim aber froh, dass er niemanden als Augenzeugen mitgenommen hatte, jetzt da der Beweis für die völlige Gefahrlosigkeit erbracht war.
III
Jahrzehnte später, als er schon erwachsen war, seine Ausbilung bei der Polizei und vier jahre Streifendienst absolviert hatte, fiel Gerd dieser Anblick spontan wieder ein. Er war seit ein paar Monaten bei der Kriminalpolizei und sah bei einen Einsatz seinen ersten menschlichen Toten. Es hatte vor einer Disco eine Schiesserei gegeben und als er ankam, sah er eine männliche Gestalt dort liegen, etwas älter als er, dunkler Teint und dunkle Haare. Der Tote lag in einem Gespinst aus Blut und breiigen Gehirnresten und starrte ihn mit aufgerissenen, schwarzschillernden Spinnenaugen an. Ah, so ist das, sagte Gerd halblaut, Du bist es, diesmal kriegst Du mich nicht mit Deiner leeren Hülle und laut rief er den eingetroffenen Sanitätern zu, sie sollten für den Toten eine Decke mitbringen.
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