Die Ente
Verfasst: 24.08.2011, 23:29
Die Ente
Der Fluss ist breit. Dunkel wie Tinte fließt das Wasser dahin. Meistens liegt Nebel über dem Flusslauf und durchdringt die Ufer mit Nässe.
Die Ente kann sich an keine Zeit erinnern, zu der sich der Fluss nicht trüb und schwarz dahinwälzte.
Sie gründelt an der Uferböschung, schlürft Wasserlinsen oder zieht fette Schnecken aus den Grasbüscheln. Ihr Nest ist im Röhricht versteckt. Vier Eier hat sie gehabt. Seit einigen Tagen sind es nur noch drei. Die Ente kann nicht zählen, aber sie spürt, dass ihr etwas fehlt.
Früher war hier ein hölzerner Anlegesteg und manchmal kam jemand, der ans andere Ufer wollte. Das Land gegenüber lag unsichtbar im Nebel, und der Fährmann war nirgends zu sehen. Wenn der Mensch auf dem Anlegesteg aber eine Weile geduldig gewartet hatte, kam irgendwann das Boot heran. Der Fährmann ruderte im Stehen. Er war genauso schwarz wie sein Boot, mit einem großen Hut.
Lange Zeit erschien er jeden Tag mehrmals, half den Menschen beim Einsteigen und ruderte wieder davon. Die Ente schaute zu, wie sich das Boot im Nebel auflöste.
Nun ist der Fährmann lange nicht mehr da gewesen, der Anlegesteg ist morsch geworden und zusammengesackt, und wer ans andere Flussufer will, der muss sich eine Brücke suchen. Die Ente kennt keine Brücken. Sie ahnt aber, dass noch immer Menschen hinüber wollen, nur gehen sie jetzt auf anderen Wegen.
Das kümmert sie weniger als das fehlende Ei in ihrem Nest. Die Ente fühlt, dass ihr etwas genommen wurde. Sie sucht mit dem Schnabel in den Grasbüscheln und zwischen den Binsen. Wenige Tage später sind ihre Küken geschlüpft und sie vergisst das vierte Ei. Die jungen Enten sind leuchtend gelb und in dem dunklen Gras leicht zu erkennen. Die Ente gibt sich alle Mühe, sie zu beschützen und anzuleiten. Von morgens bis abends folgen ihr die Küken auf Schritt und Tritt.
Im Spätsommer sind sie erwachsen. Die hellen Flaumfedern sind einem dunklen, kräftigen Federkleid gewichen. Jetzt muss die Ente sich weniger wegen der Raubvögel sorgen. Die Jungen brauchen sie nicht mehr. Wie früher kann sie nun am Uferrand im Gras liegen, den Blick auf den Fluss gerichtet, der unverändert an ihr vorbeizieht.
Sie hört den Fährmann lange bevor sie ihn sehen kann. Aufmerksam lauscht sie dem Klatschen der Ruder auf das Wasser. Dann taucht das Boot im Nebel auf und nähert sich dem Flussufer. Obwohl dort niemand steht und wartet. Der Anlegesteg ist zerstört, und es gibt auch keine passende Stelle zum Anlanden.
Der Fährmann steht groß und schwarz im Heck des Bootes. Vor ihm auf der Bank erkennt die Ente etwas Helles. Da sitzt etwas, das sich vom Dunkel des Bootes abhebt. Es ist ihr viertes Küken.
Ganz klein ist es geblieben und trägt noch das allererste weiche Flaumfederkleid. Nie zuvor hat die Ente dieses Kind gesehen, aber sie erkennt es sofort, denn das verschwundene Ei lag stets in ihrer Erinnerung wie ein Stein auf dem Grund des Flusses. Sie lässt sich ins Wasser gleiten und schwimmt dem Boot entgegen.
©Anna Rinn-Schad
Der Fluss ist breit. Dunkel wie Tinte fließt das Wasser dahin. Meistens liegt Nebel über dem Flusslauf und durchdringt die Ufer mit Nässe.
Die Ente kann sich an keine Zeit erinnern, zu der sich der Fluss nicht trüb und schwarz dahinwälzte.
Sie gründelt an der Uferböschung, schlürft Wasserlinsen oder zieht fette Schnecken aus den Grasbüscheln. Ihr Nest ist im Röhricht versteckt. Vier Eier hat sie gehabt. Seit einigen Tagen sind es nur noch drei. Die Ente kann nicht zählen, aber sie spürt, dass ihr etwas fehlt.
Früher war hier ein hölzerner Anlegesteg und manchmal kam jemand, der ans andere Ufer wollte. Das Land gegenüber lag unsichtbar im Nebel, und der Fährmann war nirgends zu sehen. Wenn der Mensch auf dem Anlegesteg aber eine Weile geduldig gewartet hatte, kam irgendwann das Boot heran. Der Fährmann ruderte im Stehen. Er war genauso schwarz wie sein Boot, mit einem großen Hut.
Lange Zeit erschien er jeden Tag mehrmals, half den Menschen beim Einsteigen und ruderte wieder davon. Die Ente schaute zu, wie sich das Boot im Nebel auflöste.
Nun ist der Fährmann lange nicht mehr da gewesen, der Anlegesteg ist morsch geworden und zusammengesackt, und wer ans andere Flussufer will, der muss sich eine Brücke suchen. Die Ente kennt keine Brücken. Sie ahnt aber, dass noch immer Menschen hinüber wollen, nur gehen sie jetzt auf anderen Wegen.
Das kümmert sie weniger als das fehlende Ei in ihrem Nest. Die Ente fühlt, dass ihr etwas genommen wurde. Sie sucht mit dem Schnabel in den Grasbüscheln und zwischen den Binsen. Wenige Tage später sind ihre Küken geschlüpft und sie vergisst das vierte Ei. Die jungen Enten sind leuchtend gelb und in dem dunklen Gras leicht zu erkennen. Die Ente gibt sich alle Mühe, sie zu beschützen und anzuleiten. Von morgens bis abends folgen ihr die Küken auf Schritt und Tritt.
Im Spätsommer sind sie erwachsen. Die hellen Flaumfedern sind einem dunklen, kräftigen Federkleid gewichen. Jetzt muss die Ente sich weniger wegen der Raubvögel sorgen. Die Jungen brauchen sie nicht mehr. Wie früher kann sie nun am Uferrand im Gras liegen, den Blick auf den Fluss gerichtet, der unverändert an ihr vorbeizieht.
Sie hört den Fährmann lange bevor sie ihn sehen kann. Aufmerksam lauscht sie dem Klatschen der Ruder auf das Wasser. Dann taucht das Boot im Nebel auf und nähert sich dem Flussufer. Obwohl dort niemand steht und wartet. Der Anlegesteg ist zerstört, und es gibt auch keine passende Stelle zum Anlanden.
Der Fährmann steht groß und schwarz im Heck des Bootes. Vor ihm auf der Bank erkennt die Ente etwas Helles. Da sitzt etwas, das sich vom Dunkel des Bootes abhebt. Es ist ihr viertes Küken.
Ganz klein ist es geblieben und trägt noch das allererste weiche Flaumfederkleid. Nie zuvor hat die Ente dieses Kind gesehen, aber sie erkennt es sofort, denn das verschwundene Ei lag stets in ihrer Erinnerung wie ein Stein auf dem Grund des Flusses. Sie lässt sich ins Wasser gleiten und schwimmt dem Boot entgegen.
©Anna Rinn-Schad