WORT DER WOCHE ~ verschlafen ~

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 05.01.2015, 12:44

WORT DER WOCHE

- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 5 Tage Zeit -


~ verschlafen ~

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 16.01.2015, 00:23

Notizen aus dem Turm

Wir haben uns angewöhnt, für bestimmte Gedanken und Gefühle bestimmte Worte zu verwenden, wie Chiffren. Nein, danke heißt: das will ich nicht essen, das schmeckt nach Blausäure. Schau, da heißt: was für ein wunderschöner Sonnenuntergang, ganz ähnlich wie im letzten Urlaub mit meinem Mann / meiner Frau / den Kindern (vor fünf Jahren? zehn? länger?), in einer Zeit, als die Welt noch täglich größer wurde. Hier, lies heißt: das ist ein gutes Buch, du kannst dich eine Weile entführen lassen, und wir werden uns danach verbundener fühlen. Hmnrhn heißt: lass mich in Ruhe, ich arbeite.

Und dann gibt es noch die wenigen meiner Kollegen, die gern reden. Es werden immer weniger, aber noch gibt es sie; sie stehen bei Tageslicht hinter dem Turm, rauchen Zigaretten (wir haben nicht mehr viele, aber da nur wenige von uns rauchen, reichen sie wohl noch eine Weile), stoßen klirrend an (dito), blinzeln in den Nebel und reden, reden, reden. Ich schaue manchmal vom Fenster aus zu. Sie stehen in einem losen Kreis und reden unablässig. Worum es geht, kann ich nur ansatzweise verstehen; anscheinend reduziert sich mein Wortverständnis nach und nach auf die Chiffren (obwohl ich mich schriftlich noch halbwegs ausdrücken kann). Wenn ich ihnen zuhöre, scheint es mir manchmal, als sprächen sie eine fremde Sprache und ich verstehe nur die Hauptthemen: futbol, trabajo, cotxe.

Meine Welt ist zusammengepresst wie ein Schwarzer Zwerg. Im Schlaf dehnt sie sich wieder aus wie Blüten, die man ins Wasser wirft. Meine Träume sind berauschend, sie fließen über von Quellen, Pferden, Ostereiern und Papierdrachen; ich sehe Gruppen singender Menschen, Marktstände, Duelle und Weihnachtsbäume. Alles funkelt wie aus Glanzpapier geschnitten. Ich arbeite, aber der Arbeitstag dient nur zur Erlangung der notwendigen Schlafschwere. Ich schlafe.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)


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