WORT DER WOCHE ~ flicken ~

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.03.2015, 09:57

WORT DER WOCHE

- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 5 Tage Zeit -


~ flicken ~
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.03.2015, 22:12

Notizen aus dem Turm

Ich kann es nicht ausstehen, wenn ein Mann mir irgendwelche zerrissenen Klamotten oder abgefallene Knöpfe in die Hand drückt mit den Worten, ich könne das doch mal schnell reparieren. Heute kam Mathis herein, gerade als ich mich zur Nachtschicht eingerichtet hatte, und brachte mir einen Laborkittel, den er offensichtlich gerade erst ausgezogen hatte, denn der Stoff war noch körperwarm. (Das hasse ich noch mehr. Diese Intimität. Ich ekelte mich, als hätte er mich gezwungen, ihn zwischen die Beine zu fassen.)
Eine Tasche war ausgerissen. Wahrscheinlich hatte er seinen dicken Schlüsselbund darin herumgetragen, das hält auf die Dauer keine Tasche aus. Mein Mann pflegte auch seine Schlüsselbünde in die Jackett-Tasche zu stopfen. Ich flickte die Risse wieder zu, dachte aber meistens nicht daran, vorher zu überprüfen, ob etwas ins Futter gerutscht war. In den Tiefen des Jackenfutters bildete sich mit der Zeit ein geheimnisvolles Vorratslager von kleinen Gegenständen, die sich hart anfühlten und im Futter hin und her rutschten. Manchmal konnte man durch Tasten herausfinden, was es war: Münzen, Kugelschreiberkappen, Zahnstocher. Manchmal nicht. Ich ertastete siebenzackige Sterne und länglich-stumpfe Gegenstände mit glitschiger Hülle, wie Schrotpatronen.

Ich bin Wissenschaftlerin. Aus meinem Labor ist ein Wesen entsprungen, das in der Lage ist, ein Areal von mindestens fünfzig Quadratmeilen unbewohnbar zu machen. Ich beobachte es Tag und Nacht. Ich habe weder Zeit noch Lust, die Laborkittel meiner Kollegen zu flicken.
Natürlich habe ich Nadel und Faden in einer Schublade meines Schreibtisches, aber keinen Stoff zum Flicken. Als Mathis hinausgegangen war, schnitt ich mit der Schere ein Stück Stoff aus dem Ärmel, säumte es und setzte es auf das Loch in der Tasche.
Auf sein Gesicht, wenn er den Kittel abholt, freue ich mich jetzt schon.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)


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