WORT DER WOCHE ~ Rahmen ~

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 06.11.2015, 23:01

WORT DER WOCHE

- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -


~ RAHMEN ~
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.11.2015, 16:35

Ich stelle mir mein Leben als Bild vor. Welchem Stil wäre es zugeordnet? Die Antwort kommt sofort. Es kann nur ein Graffiti sein. Mit Wut und Elan an eine Mauer gesprayt, immer wieder fortgesetzt. Die Farben? Viel schwarz, etliche zackige und breite Linien würden kreuz und quer sowie übereinander laufen, eben Lebensmomente, die sich in die Quere gekommen sind oder Fehler, die ich mehrfach gemacht habe. Auch etwas blau wäre drin und viel rot. Vermutlich auch leere Flächen, da einige Kapitel meines Lebens noch nicht gemalt sind und weil es Lebensabschnitte gibt, die nicht gemalt bzw. gesprayt werden können. Hm, diese leeren Flächen wären wohl doch nicht weiß, sondern schwarz. Die Wand ist niedrig, aber ziemlich lang. So richtig zum Austoben, ohne eine Leiter zu benötigen. Und: ein Graffiti hat keinen Rahmen.

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birke
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Beitragvon birke » 09.11.2015, 23:35

heute morgen
blickte ich in den spiegel
und fiel aus dem rahmen
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 10.11.2015, 00:19

Notizen aus dem Turm


Ein gestrandeter Wal, der im Sand liegend mit den Flossen winkt. Nein, den habe ich nicht wirklich gesehen, oder vielleicht doch. Am nächsten Morgen war er weg. Es kamen eine Menge Leute in die Bucht gelaufen, sie wollten ihn ins Meer zurückschieben, aber er war nicht mehr da. Gerüchten zufolge soll er noch weiter gewinkt haben; weit in der Ferne am Rand der riesigen Bucht, wo nur starke Ferngläser ihn noch erreichten.
Ja, und die Seilbahngondel, die uns gegenüber nach unten fuhr, während wir nach oben schwebten: sie war voll mit Leichen, die alle gemeinsam uns ihre leichenhaften Gesichter zuwandten, grün und blau gefleckt, mit bleckenden Zähnen, mit lose um die Stirnknochen hängender Haut. So sah das aus, als wir auf den Gletscher fuhren, ich und meine Familie.
Mein Vater hat alles fotografiert und dokumentiert. Zu seiner Zeit gab es noch keine Handyfotos und keine Cloud, und er mochte seine Bilder nicht ins Album kleben. Er machte Dias. Ich erinnere mich genau, wie der entwickelte Filmstreifen in Stücke geschnitten wurde und wir alles in die kleinen Diarähmchen einpassten. Mein Bruder und ich halfen mit, schnitten Ränder ab, klemmten in die Rähmchen, beschrifteten, ordneten ein. Später dann gab es einen Diaabend mit der Familie und manchmal mit den Nachbarn. Meine Mutter machte eine kalte Aufschnittplatte zurecht, die stundenlang auf dem Tisch herumstand, bis sich die Wurstscheiben rollten. Der Weißwein im Kühler wurde immer wärmer und stand ab, weil niemand Wein mochte. Und mein Vater hatte einen Schalter in der Hand, von dem ein Kabel herabhing. Wenn er den Schalter drückte, schob sich der Kasten mit den Dias einen Schritt weiter, und auf der Leinwand, die er über den Fernseher gehängt hatte, erschien ein neues Bild. Ich war dreizehn.
Mutter unter dem Sonnenschirm, mit einer großen Sonnenbrille und schlaffen weißen Oberarmen. Ich in dem alten weinroten Badeanzug mit dem Lachmond auf dem Bauch, und mein Vater sagte, ich hätte „Beine wie korinthische Säulen“ – oder sagte er „ionische Säulen“? Ich weiß es nicht mehr. Vermutlich meinte er es nicht böse, aber seine Worte waren wie Trümmer.
Auf dem Dia lachen wir alle verzerrt, Mutter und Bruder und ich. Ein Gipfel mit weißleuchtendem Schneekäppchen, blühende Bäume mit Zweigen wie lange Fächer. Weiße Wellen wie Berge. Der Wal ist nicht darauf zu sehen und nicht die Leichen in der Seilbahngondel, und nicht der Mann, der in der Trattoria vor uns stand und dem der Unterkiefer fehlte (er hielt ein Taschentuch davor) und nicht das Murmeltier im Gehege an den Gletscherrestaurant, das sein Maul so weit aufgerissen hatte, als könnte es nie wieder zuklappen, in ewigem Staunen, oder vielleicht war es auch ein Schrei.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.11.2015, 17:31

Aus dem Rahmen falle ich immer. Im positiven wie im negativen Sinne. Es ist sozusagen eines meiner Hauptcharakteristika. Es ist einfach nicht meine Art, mich einem festgelegten Rand, eckig oder oval anzupassen oder passend zu machen. Ich würde mich reinquetschen müssen. Nee, ist nicht mein Ding. Falle ich eckigrahmig auf, zieht so mancher zwar die Augenbrauen hoch, doch inzwischen verkneift er sich entsprechende Kommentare. Falle ich rundrahmig auf, fallen viele Worte des Lobes. Dennoch für mich kein Grund, in den Rahmen zu fallen. Zudem sind diese rundrahmigen Momente Highlights (jedenfalls für die anderen). Sie merken auf. Hat also auch seine Vorzüge, auch wenn ich dies nicht bewusst tue.
Fiele ich nicht aus dem Rahmen, würde sich so mancher in meiner näheren Umgebung ernste Gedanken machen. Vor allem ich selbst.


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