WORT DER WOCHE ~ Kopfsteinpflaster ~

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birke
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Beitragvon birke » 14.05.2021, 08:08

WORT DER WOCHE

- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -


~ Kopfsteinpflaster ~
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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jondoy
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Beitragvon jondoy » 19.05.2021, 22:25

Dahner Ritterstraße

Ruhe im Konzertsaal...

Die jungen Besucher in den Schlafzimmerlogen liegen erwartungsvoll in den Betten,
die Standuhr schlägt zwölf mal.
Gute Nacht Schatz. Gute Nacht Schatz.
Die Fenster in den Konzertsaal sind geöffnet.
die Decke über diesem - sternhagelvoll -
die Leier, der Schwan, der Adler...

Die Nacht verneigt sich,
Der Mond vor den Fenstern bittet um Ruhe.
Einzig eine männliche Grille hält sich nicht daran,
sie feiert 35 Grad nachts im Schatten
Die Straßenlaternen stehen stocksteif da.

Unter ihren Strahlen liegt sie prächtig vor unseren geschlossenen Augen,
die Kopfsteinpflasterstraße, handbespannt, jahrhundertealt,
mit erlesenen sandsteinbraunen Juwelen aus der Wieslauter besetzt,
ihr Körperbau gleicht einer weidensanft gebogenen Geige,
die sie auf beiden Seiten umgebenden Häuser
bilden ihren klanglichen Resonanzkörper.

Das mitternächtliche Konzert kann beginnen.
Die Nacht hebt den Taktstab....

...ein fernes Hupen,
Stöckelschuhe klackern rythmisch übers Pflaster,
eine Katze miaut,
eine männliche Grille zirpt kaum wahrnehmbar im Hintergrund

Der große Wagen über uns... und unter uns....

ein Geigenbogen mit vier Rädern und 150 PS
streicht sanft über die Geige
entlockt ihr ein ratteriges Schnurren,

er fidelt kurz darauf dreimal wild hintereinander,
eine leises Rasseln verabschiedet diesen hohen Klang

zwei Angetrunkene schlendern beschwingt
über diese Stradivari mit ihren rehbraunsteinen Augen

...oh, wir befinden uns in einer Operette,
einer der beiden stimmt angeregt eine Arie an,
der andere fällt ihm lachend um den Hals
dann singen sie im Duett...
..ah jo, de Bärmsasenser Schlabbeeflicker
sin Elwetritsche triggern...

das Kopfsteinpflaster verschluckt ihre Kinder
wie der Krieg den Frieden
kein Vogel ist zu hören,
weder eine Nachtigall, noch die Lerche,
die Katze, die irgendwo vom Speicher runter- und hier reinkommt,
- auch Logen haben ihre Spalten und Löcher - ,
springt aufs Bett und landet zielgenau auf meiner Brust,
sie ist der Ansicht, es sei ihr Logenplatz
aber kann es nicht durch ein Ticket beweisen,

Oma, wir können nicht einschlafen,
doch die liegt wie tot aufgebahrt im Nebenzimmer,
nein, es wird noch ein langes Konzert,
die Schleske mit graziös rollendem Geigenbogen
spielt mit ihren Scherenschnittgestalten Peking Oper
und lullt uns sanft mit ihren Klängen ein

.....in meiner Erinnerung ist Kopfsteinplaster
eine sanfte sonore Melodie....
die uns Kinder aus dem fernen kolumbianischen Hochland
in den großen Ferien regelmäßig in den Schlaf gewiegt hat...

die Vogelsbergstraße, einst Dahner Ritterstraße genannt,
als Ritter noch auf Pferden fuhren und
verängstigte Jungfrauen auf hohen Sandsteinfelsen vor sich her jagten
hat ihr Kopfsteinpflastergewand schon lange abgelegt,
sie tritt nicht mehr auf, trägt jetzt barfuß in langer Asphalthose


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