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Frostgrenze
Verfasst: 22.09.2006, 15:37
von Thomas Milser
thomas milser
19/02/2005
Frostgrenze
Jenseits der Frostgrenze
werden die Gedanken endlich klar
bilden zarte Gespinste aus fragilen Kristallen,
treiben dahin im Ultramarin der Ahnung von Erkenntnis,
bar jeder Trübung und der Verschleierung
des verdammten Sommers,
diesem miesen Heuchler,
der uns mit seinen Taschenspielertricks
von Butterblume und Schmetterling
ewige Unbeschwertheit vorgaukelte im Rausch,
als ob Kunst und Koitus
alles trügen auf ihrem Rücken, immerdar.
Bis endlich brauner Herbst von Fäulnis kündete,
und die Hoffnung
unter schmierigem Laub vergrub,
und jetzt das Denken in eisigen Gemäuern erstarrt,
bis gleißend-göttliches Winterlicht
uns den finalen Schuss setzt,
und der Tod
mit grimmiger Kälte
die Erhellung bringt.
Verfasst: 22.09.2006, 18:36
von Paul Ost
Lieber Thomas,
erinnert mich an Nietzsche, Dein Berggedicht. Ich hoffe nur, Du tanzst nicht bald nackt in irgendwelchen Hotelzimmern und wir müssen Dich dann aus Turin abholen und mit Gehirnerweichung bei Pandora zwischenparken.
Nein, im Ernst, die Bilder sind stark, der Bezug zum Thema "Grenze" wird deutlich.
Zwei Zeilen würde ich aber, um des Textflusses willen, ändern:
bar jeder Trübung und der Verschleierung
Hier würde ich das "der" weglassen.
alles trügen auf ihrem Rücken, auf immerdar.
Vielleicht: alles trügen auf ihrem Rücken, immerdar? So könnte man die Doppelung des "auf" vermeiden.
Grüße
Paul Ost
Verfasst: 22.09.2006, 20:07
von Thomas Milser
Hi Paul. Ich habe Nietsche nie gelesen, und ich war noch nie in Turin, und werde da auch nie hinfahren.
Deine Vorschläge sind echt nicht schlecht. Ich glaube, ja, das mach ich mal so.
Obwohl: Ne. Das zweite nicht. Das 'auf' brauche ich rhythmisch, das wird sonst zu kurz. Und die Wiederholung gefällt mir da eigentlich.
Thanks, Tom.
Nochmal edit: Das erste geht auch nicht. Das 'der' dient der Verstärkung des zweiten Ausdruckes 'Verschleierung', auf die der nachfolgende Nebensatz aufbaut. Wenn ichs rauslasse (habs gerade versucht), geht da der Bezug verloren. Die 'Trübung' hat mit der 'Verschleierung' nix zu tun. Erstere bezieht sich auf das davor geschriebene (die Gedanken), letztere auf das nachfolgende. Das wird zu schwach ohne das 'der'.
Sorry, habs ernsthaft versucht, klapppt aber irgendwie nicht.
Edit zurück.
Verfasst: 22.09.2006, 20:22
von Maija
Hallo Tom,
Habe dein Gedicht erst einmal gelesen und muss sagen, dass es mir gefällt so wie es ist, so auf den ersten Blick. Auf Nietzsche wäre ich nie gekommen, lieber Paul.
Mir gefällt besonders die Verwebung der Jahreszeiten, bis zum Finale.
Vielleicht kann ich später mehr dazu schreiben.
Gruß Maija
Verfasst: 22.09.2006, 20:34
von Thomas Milser
dankeschön, Maija. Das Ding hier wäre vermutlich in meinem Archiv verstaubt, wenn nicht das Thema 'Grenzen...' aufgekommen wäre. Eine gute Rubrik, um mal wieder alte Schätzchen hervorzukramen. Deswegen diskutiere ich auch nie mit, wenn es um die Wahl eines neues Themas geht. Ich lasse mich überraschen und gucke, was noch dazu passend im Schrank liegt.
Und Paul: Solange ich sowas noch schreiben kann, drehe ich nicht durch. Schlimm wirds erst, wenn man selbst dazu nicht mehr die Worte findet.
ich freue mich echt über die positive Resonanz. Nur weiter so... :o))))
Tom
Re: Frostgrenze
Verfasst: 23.09.2006, 11:17
von pandora
hallo thomas,
mal ganz abgesehen davon, dass mir ein klein wenig davor graut, dass man dich mit hirnerweichung bei mir parkt (herr ost??? was sind das für ideen?), ist dieses gedicht in meinen augen eins deiner besten. will sagen: ein durchgedachtes, erklärendes. eines, in dem ich mich wiederfinde.
es gelingt dir gut, szenen aus der natur mit inneren vorgängen und befindlichkeiten zu verbinden. ich bin auch kein freund des winters (um es mal milde auszudrücken), aber er ist auf jeden fall eine zeit, in der man ein stück weit gezwungen ist, sich auf sich selbst zu besinnen. eine periode des iindividuellen rückzugs gewissermaßen. und das, scheint mir, hat durchaus auch vorteile. außerdem weiß man ja, dass irgendwann der frühling kommt.
p.
Verfasst: 23.09.2006, 16:49
von Lisa
Hallo Tom,
als ich den Text das erste Mal las, hielt ich nach Vers 5 kurz ein und dachte: Warum um Gottes Willen diese mächtigen Worte (~Erkenntnis), las weiter, zögerte noch ein paar Mal. Nun lese ich den Text wieder und wieder und verstehe, dass es so gehört...ja, so muss! Das fatale im Ton...
...diesen Vorwurf, die Bitternis an Sommer und Winter zu erzählen...eingewoben dann Kunst und Koitus (tolle Wirksamkeit!)...ach, ich will da gar nicht zu detailiert werden - find ich INSGESAMT einfach nur stark.
Und das alles unter diesem starkem Titel....der schon alleine für mich den Text trägt und ausdehnt...
Pauls Hinweis, das "auf" zu streichen finde ich aber gut - der Rhythmus wird viel stärker ...und das auf...wird ja eh durch die Jahreszeiten als Ergebnis relativiert...daher finde ich, kann man es streichen ohne eine Aussage letzlich zu verlieren.
Liebe grüße,
Lisa
Verfasst: 25.09.2006, 09:18
von Thomas Milser
Herzlichen Dank für die tollen Kommentare an Pandora und Lisa. Dass gerade die Grande Dames der Lyrik an diesem bescheidenen Textchen hängenbleiben, ehrt mich ganz besonders. Ehrlich!
Ok, dass zweite 'auf' nehme ich jetzt mal raus. Da der Rhythmus bei so vielen dann besser ankommt, scheint ein echtes Indiz zu sein... :o)))
Sehr angetan,
Tom.
Verfasst: 26.09.2006, 22:23
von scarlett
Lieber Thomas,
dieser Text ist wirklich sehr gut - ich habe ihn jetzt schon zig-mal gelesen und bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt. Ich finde die Bilder originell (der Sommer als mieser Heuchler, Taschenspielertricks- super!), die ganze Idee des Gedichtes sowieso.
Einzig mit der Wendung "finaler Schuß" habe ich Schwierigkeiten - nicht was das Verständnis anbelangt, nein der (sprachliche) Ausdruck als solcher erscheint mir unpassend, ich wüßte nur nicht, wie der Inhalt, den du damit rüberbringen willst, anders zu formulieren wäre.
Werde ich sicher noch öfters lesen, mit oder ohne "finalen Schuß" -
Gruß,
scarlett
Verfasst: 28.09.2006, 21:25
von Wannendicht
Hi Thomas, der Text ist echt spitze.
wanne
Verfasst: 29.09.2006, 00:27
von Thomas Milser
Hallo ihr Lieben, ich bedanke mich für soviel schöne Anteilnehme....
es ist ein Text aus meinem tiefsten Inneren....
Tom.
Verfasst: 29.09.2006, 00:45
von Mucki
Hi Tom,
ja, man spürt mit jeder Zeile, die man liest, die steigende Intensität und, dass es aus deinen Tiefen kommt. Für mich bisher das beste Gedicht, was ich von dir gelesen habe.
Chapeau, mein Lieber!
Magic