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Grenzerfahrung
Verfasst: 25.09.2006, 12:40
von scarlett
Grenzerfahrung
Hinter dem Schlagbaum
wird die Luft
bleiern –
Im grellen Licht
der Scheinwerfer
atmet der Acker
Angst –
Selbst Krähen
suchen das Weite
Stacheldraht bohrt
sich ins Herz
Entlang der Blutspur
kauert die Hoffnung
blind
im Gras –
Mit kehliger Stimme
bewaffnet fragt
das Milchgesicht:
„Hast du ´ne gute
Zigarette?“
Im Feuerglanz seiner Augen
hat die Nacht
ihre Sterne gepflanzt...
scarlett, 2006
Verfasst: 26.09.2006, 01:05
von Mucki
Hallo scarlett,
besser kann man die Mauer und die Geschehnisse der vergeblich Flüchtenden kaum beschreiben. Das Milchgesicht, ja. So sahen sie aus.
Sehr gelungen, beklemmend geschrieben.
Saludos
Magic
P.S: Mein Vater hatte es gerade noch geschafft in den Westen, bevor die Mauer gebaut wurde. Seine ganze Familie blieb dort zurück, deshalb bin ich als Kleinkind ständig über die Grenze, um sie zu besuchen.
Verfasst: 26.09.2006, 07:34
von scarlett
Hallo Magic,
ich hatte zwar nicht die Mauer im HInterkopf, als dieses Gedicht entstanden ist, aber ja, man kann es auch darauf beziehen - es ist wohl keine tolle Erfahrung, die man früher so mit Grenzen gemacht hat. Das kann sich mein Kind gar nicht mehr vorstellen...
Ich danke fürs Lesen und die Anerkennung - aber empfindest du das Bild der "kauernden HOffnung im Gras" nicht als etwas zu viel? Außerdem hab ich ständig das (ungute) Gefühl, dieses Bild irgendwo, irgendwann schon mal in ähnlicher Form gelesen zu haben, weiß aber nicht, ob ich mich dabei täusche oder nicht - finden kann ich es nicht, ist mir also nicht bewußt. Kommt es dir evtl. bekannt vor???
Liebe Grüße,
scarlett
Verfasst: 26.09.2006, 13:13
von Mucki
Hallo scarlett,
du meinst eher die Geschehnisse, bevor die Mauer errichtet wurde, die Fluchtversuche, ist mir schon klar. Ich meinte beides in meinem posting, da ich, so lese ich es zumindest, auch beides gemeint sein kann. Auch ein Stacheldraht ist eine Mauer.
Nein, die Erfahrungen an der Grenze waren wirklich alles andere als toll. Sie waren schrecklich. Allein, wie man gefilzt wurde, auch als Kleinkind, jedes Blatt meiner Schulhefte haben sie durchgeblättert, dann diese Art, wie sie mit einem umgingen, *grusel*
Dann diese Beklemmung, die ich spürte, auf der anderen Seite, es erdrückte mich regelrecht. Ich wollte nicht rüber, aber meine Eltern bestanden darauf.
Ich finde "kauernde Hoffnun im Gras" nicht als zu viel. Es gibt ein sehr anschauliches Bild wieder. Und bekannt kommt es mir jetzt auf Anhieb nicht vor.
Saludos
Magic
Verfasst: 04.10.2006, 09:05
von steyk
Liebe Scarlett,
eine Grenze – egal wo – die durch Stacheldraht, Mauern (aber auch in uns selbst) gezogen ist, hat immer etwas mit Gewalt zu tun, selbst wenn sie nicht unmittelbar ausgeübt wird, sondern uns mittelbar in unserem Innern trifft. Das zu beschreiben, ist dir mit deinem Text hervorragend gelungen !
Die Formulierung „kauert die Hoffnung“ finde ich übrigens sehr passend.
Gruß
Stefan
Verfasst: 04.10.2006, 11:50
von scarlett
Lieber Stefan,
danke auch für diese Zeilen - und na ja, ich freu mich doppelt, kommt das Lob doch von einem, dessen eigenes Schreiben ich sehr hoch einschätze.
Merci und schönen Tag noch,
scarlett