Nachtflug

Max

Beitragvon Max » 05.11.2006, 14:39

Nachtflug

Leise
summe ich
ein Requiem
falte
Gedanken
auf Gedanken
halte wieder und wieder
Wache des Nachts

Beim zeitverlorenen Stein
dem verlorenen
dem zwiefach erblindeten
Auge
der aschgelben
Hand
die sich langsam
entzieht

Kein Wort mehr
berührte dein Ohr
Name und Herz
waren schon lang
bei der Mutter

Beklommen hast du
den Ruf
herbeigesehnt

Es war an der Zeit

Cara

Beitragvon Cara » 05.11.2006, 15:04

Hallo Max,

dieses Gedicht spricht mich sehr an!

Es spricht so lakonisch, so leise, so gefasst.

Eine kurze Frage:
meinst du tatsächlich "zwiefach" oder "zweifach"?

An einem Wörtchen blieb ich hängen, und zwar an dem Adjektiv "beklommen" am Ende des Gedichtes.
Sehnt man sich etwas "beklommen" herbei? Nicht gar eher "aufmerksam" oder "suchend" oder so ? Ist nicht eher das Lyr. Ich beklommen, das Lyr. Du aber etwas anderes?

Insgesamt ist es dir sehr gut gelungen, finde ich

Liebe Novembergrüße
Cara

Max

Beitragvon Max » 05.11.2006, 19:09

Liebe Cara,

danke für Dein liebes Lob (hui, eine Alliteration). Ich meinte "zwiefach" - "zweifach" ginge sicher auch, ich fand zweifach vom Klang besser.

Das "beklommen" ist als letztes ins Gedicht gekommen - es sollte eigentlich nicht auffallen ;-). Was damit ausgedrückt werden soll ist dies: Das lyr. Du sehnt den Tod herbei - aber nicht ganz gelassen, nicht ganz sicher, ob all das, an das es 99 Jahre lang geglaubt hat, nun auch wirklich wahr ist ... daher beklommen.

Liebe Grüße
max

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leonie
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Beitragvon leonie » 05.11.2006, 20:58

Lieber Max,

das ist sehr anrührend, finde ich. Für mich scheint es aus der Sicht eines erwachsenen Kindes geschrieben, das bereit ist, den Vater gehen zu lassen. Das doppelte „verloren“ in der zweiten Strophe ist vermutlich gewollt, oder?
Ein sehr schönes Gedicht, finde ich.

Liebe Grüße
leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 05.11.2006, 23:24

Lieber Max,

deine Zeilen berühren mich sehr. Kein Wort würde ich an deinem Gedicht ändern.
Saludos
Gabriella

maxl

Beitragvon maxl » 05.11.2006, 23:35

Lieber Max,

Mensch, ist das schön. So still. Das gefällt mir sehr gut.

lg
maxl

pandora

Beitragvon pandora » 06.11.2006, 08:38

hallo max,

ein abschiedsgedicht, zu dem man eigentlich gar nichts sagen muss, außer, dass es den schmerz und die trauer gerinnen lässt.

lg
p.

Max

Beitragvon Max » 06.11.2006, 09:56

Ihr Lieben

danke!

Das doppelte "verloren" ist Absicht, denn es ahmt da einen Sprachstil nach (ist also eher eine Insiderwendung ;-) ). Mit dem Vater liegst u fast richtig, Leonie, es ist die Großmutter - das mit dem erwachsenen Kind stimmt insofern.

Liebe Morgengrüße
Max

Max

Beitragvon Max » 06.11.2006, 10:01

PS: Leonie, jetzt begreife ich das erst: das "Mutter" ist die Mutter des lyr. Du, nicht des lyr. Ich - ich gebe zu, dass das zu Verwechslungen führen kann (immer führt, wenn lyr. Du und lyr. Ich nicht Geschwister sind ;-) )

Liebe Grüße
Max

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 06.11.2006, 10:25

Hallo Max, hallo Cara,

Grammatikalisch kann man "beklommen" sowohl auf das Objekt wie auf das Subjekt beziehen, aus dem Kontext ist für mich aber klar daß nur das Lyrik beklommen sein kann. Mir gefällt das Gedicht so wie es ist. Vor allem die gefalteten Gedanken sind einfach genialö an der Stelle.

Zwei Assoziationen die ich dazu habe: Alte Briefe oder Akten, die sorgsam abgelegt werden
und gefaltete Hände. Sehr verschieden aber irgendwo in diesem weiten Spannungsfeld läßt du die Stimmung schweben.

Ein Kapitel abschließen können und doch Erinnerung bewahren, zu guter Trauerarbeit gehört beides.

LG: ZaunköniG
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

Gast

Beitragvon Gast » 18.11.2006, 00:02

Lieber Max,

ein atmosphärisch dichter Text, der mich einfängt.
Du hast zwar Recht, dass es zu Verwechslungen fürhren kann, bezüglich der Stellung des Lyrich zum LyrDu. Aber ist Eindeutigkeit denn wesentlich für das Verstehen, frage ich mich... :confused:
Vor einiger Zeit schon, las ich es so, als ob ein Sohn sich daran erinnerst, wie es war, als er Abschied genommen hat vom sterbenden Vater, der in Gedanken schon voraus geeilt war, zur der vor längerer Zeit verstorbenen Mutter.
Titel und ruhige Sprache machen das Gedicht für mich sehr besinnlich.
Das 2x verloren, ist einzig das, was mich stört und auch durch die Absicht, du hast es erläutert irgendwo, wird für mich nicht klar, weshalb doppelt.
Max hat geschrieben:
Beim zeitverlorenen Stein
dem verlorenen
dem zwiefach erblindeten
Auge


M. e. könntest du schreiben:

Beim Stein
dem zeitverlorenen
dem zweifacherblindeten
Auge


Auch das zwei (ich habe die Begründung für zwie eben gelesen) ist Absicht.

Es klingt für mich so schlichter und noch einprägsamer wenn die Vokale in zeit und zwei einen Stabreim bilden.

das "Beklommen" finde ich durch und durch passend, bei meiner Leseart.

Liebe Grüße
Gerda

carl
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Beitragvon carl » 18.11.2006, 12:16

Lieber Max,

bei der Strophe

"Beim zeitverlorenen Stein
dem verlorenen
dem zwiefach erblindeten
Auge
der aschgelben
Hand
die sich langsam
entzieht"

assoziiere ich Celan...

Ich konnte noch nicht genau analysieren, woran das liegt:
Zum einen an der Diktion (das sich Entziehen der Toten), aber auch an den Bedutungsfeldern in diesem Zusammenhang:
Die Such-Wörter "aug(e)" "blick" "blind" "zwei" "asch" treten bei Celan sehr häufig auf und stehen immer im Zusammenhang mit dem Tod.
Und natürlich "Corona" (es wird Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt, es wird Zeit, dass es Zeit wird")
Ich weiß nun nicht, ob das speziell mein Problem ist, denn als solches empfinde ich es, weil automatisch ein Vergleich einsetzt...
Vielleicht geht es andern ähnlich?

Liebe Grüße, Carl

Max

Beitragvon Max » 18.11.2006, 18:33

Lieber Carl,

zunächst einmal ist der Vergleich zu Celan natürlich die höchste Liga, die einem im deutschen Gedicht "droht" - aber das war ja auch nicht gemeint :-) [Gerade das von Dir zitierte Corona und eben jene Stelle gehören mir zum liebsten in der deutschen Dichtung].

Ich selbst habe natürlich nicht überprüft, welche Assoziationen ich beim Lesen meines Gedichts habe (wenn er auch mich an celan erinnerte, wäre das ja sicher ein ganz schlechtes Zeichen). Auf Deinen Hinweis hin aber gebe ich zu, dass er sich im Wortfeld "Celan" bewegt. Das was vielleicht am direktesten anschließt ist - mal schnell vermutet -

Dein aschenes Haar, Sulamith

(oder so ähnlich) aus der Todesfuge. Ich schwöre aber, dass das nicht Absicht war.

Liebe Grüße
max

Max

Beitragvon Max » 18.11.2006, 18:46

Liebe Gerda,

da sich das Forum durch Klicken auf den letzten Beitrag jedesmal chronologisch rückwärts präsentiert, kommt meine Antwort auf Deinen Beitrag nach der auf Carls ...

Was das doppelte "verloren" betrifft, so weiß ich natürlich, dass man es einfach streichen könnte und man landete im günstigen Falle bei Deiner Version. Die Stelle aber ist mir wichtig in der Form, in der sie momentan existiert. Ich kann vielleicht sagen, dass das zweite "verloren" durch den Nachsatz auch verloren wirkt, aber das ist ausgedacht (wenn auch vielleicht wahr) - den richtigen Grund habe ich schon genannt.

Beim "zwiefach" ist die sache profaner. Bei richtig kräftigen Argumenten ändere ich das in zweifach, für mich ist der Klang bislang mit zwiefach richtiger.

Liebe Grüße
max


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