Auf dem Speicher

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 25.09.2008, 23:32

Ein Karton voller Hefte und alter Briefe. Schulzeugnisse, die ich nicht ansehen mag – damals gab es noch Noten für Aufmerksamkeit, Fleiß, Betragen und Ordnungsliebe. Halb zerrissene Kinderbücher. Ein Märchenbuch mit dreidimensionalen Bildern, die sich wie durch Zauberhand erheben, wenn man eine Seite umschlägt. Rotkäppchen und der Wolf. Dem Wolf fehlt der Schwanz. Dem Jäger die Flinte.
Die Abizeitung, Notenhefte, Zeichenmappen. Sieben Abzüge eines unbeholfenen Linolschnitts, alle gleich miserabel. Stockfleckige Fotos meiner alten Klasse – mindestens dreißig Jahre alt. Und dazwischen ein abgegriffenes, angeschmuddeltes Tierchen, mit klumpiger Watte ausgestopft.
Es soll wohl ein Pferd darstellen – mit Mähne und Schwanz aus schwarzen Wollfäden. Wahrscheinlich war es als Schlüsselanhänger oder Glücksbringer gedacht. Denn um es zum Kuscheln mit ins Bett zu nehmen, ist es viel zu klein.
Wenn ich die Finger darum schließe, ist es perfekt der Form meiner Hand angepasst. Von vielen, vielen heißen schwitzigen Griffen, Hilfe und Trost suchend. Bei der Fahrprüfung. Bei den Abiklausuren. In der mündlichen Prüfung habe ich es in der hinteren Hosentasche bei mir gehabt. Beim Examen auch. Nein, da habe ich einen Rock getragen, das Pferdchen war in der Jackentasche. Beim Vorstellungsgespräch war es dabei und gab der nervös zupressenden Faust angenehmen Widerstand. Bei meiner Hochzeit steckte es in dem weißen Spitzenbeutel. Irgendwann hat es versagt. Wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Hochzeit. Nach der Scheidung habe ich es auf den Speicher getragen und in den Karton gestopft.
Wer hat es für mich gemacht? Es ist gehäkelt. Ich kann nicht häkeln. Habe es nie gekonnt.
Die Klassenfotos, die Freundinnen – kein Gesicht ruft „Ich“. Keines verspricht mir ein Pferdchen, das mich um alle Ecken und Kanten des Lebens tragen wird.
Es könnte ein wenig Pflege vertragen. Mähne und Schwanz sind verfilzt, das Fell glanzlos, der Bauch unförmig und verbeult, wo ich zu heftig gespornt habe in meinen Ängsten und Hoffnungen.
Ich nehme es mit nach unten und versuche es mit warmer Seifenlauge zu waschen.
Es geht nicht.
Der Kopf fällt ab und die Füllung quillt heraus.
Nass und klumpig.


(gestrichen: Ich erkenne es nicht gleich.)
(1.10. gestrichen am Ende des ersten Absatzes: Das gehört in den Müll.
Wie überhaupt das meiste.)
Zuletzt geändert von Zefira am 01.10.2008, 12:08, insgesamt 3-mal geändert.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 26.09.2008, 00:49

Hi Zefi,

fein hast du das geschrieben. Ich war von Beginn an gefesselt und sofort drin.
Besonders dies hier gefällt mir sehr!
Wer hat es für mich gemacht? Es ist gehäkelt. Ich kann nicht häkeln. Habe es nie gekonnt.
Die Klassenfotos, die Freundinnen – kein Gesicht ruft „Ich“. Keines verspricht mir ein Pferdchen, das mich um alle Ecken und Kanten des Lebens tragen wird.

Der Schluss ist traurig aber schlüssig und konsequent, denn für alle Ecken und Kanten des Lebens gibt es keine garanten Helfer.
Sehr gern gelesen!
Saludos
Mucki

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 26.09.2008, 10:27

Sehr persönlich. Vermutlich haben wir alle solche Momente. Durch das Pferdchen ist es Dir aber gelungen, nicht ins Allgemeine abzugleiten. Für den Schluss möchte ich Dich in den Arm nehmen und trösten. Wie Du siehst, die Wirkung ist perfekt. Manchmal ist einfach alles - nass und klumpig.

Ob es sprachlich noch was zu tun gäbe, kann ich grad nicht sagen. Ich les es nochmal.

Lieben Gruß
Henkki

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leonie
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Beitragvon leonie » 26.09.2008, 10:58

Liebe Zefi,

das ist toll geschrieben, mir geht es wie Henkki, ich bin richtig in der Geschichte drin.
Die einzige Stelle, an der ich stutze ist, wo die Protagonistin das Pferd nicht gleich erkennt. Es scheint ja ein sehr dauerhafter Begleiter gewesen sein. Da würde ich eher vermuten, dass sie es sofort erkennt...

Liebe Grüße

leonie

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 26.09.2008, 11:23

Leonie hat Recht mit dem Erkennen des Pferdchens. Klingt nach einem Instrument, um mehr Spannung zu erzeugen.

Henkki

Mucki
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Beitragvon Mucki » 26.09.2008, 12:04

Stimmt, da habt ihr Recht. LI müsste das Pferdchen gleich erkennen. Zefi, vielleicht kannst du das "Rätseln", was das da ist, was wie ein Pferdchen aussieht, eher so beschreiben, dass LI überrascht ist und gar nicht glauben kann, es dort wiederzufinden und dann die ganzen Erinnerungen einstreuen, die damit zusammenhängen?
Saludos
Mucki

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 26.09.2008, 12:18

Danke für eure Meinungen.
Ich denke, es ist für den Text ohne Bedeutung, ob sie es sofort mit den Augen erkennt - Hauptsache, die mit der Hand gefühlte Erkennung bleibt.

Ich streiche den Satz "Ich erkenne es nicht gleich" mal einfach weg.

Lieben Gruß von Zefira
(nasse Watte im Kopf)
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 26.09.2008, 13:04

Hi Zefi,
Hauptsache, die mit der Hand gefühlte Erkennung bleibt.

ja, so ist es gut. Der Kontakt durch das Fühlen belebt die Erinnerungen, nicht die Augen. Das ist sehr tiefsinnig und viel feiner und auch logisch, da LI es ja auch immer in der Hand hatte.
Schön!
Saludos
Mucki

scarlett

Beitragvon scarlett » 26.09.2008, 14:45

Kinderwunderwelt und Träume - ein sensibles und hinreißendes Stück Kurzprosa!

Chapeau Madame!

:hut0039:
sca

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 27.09.2008, 12:59

Hallo Zefi,

eine wunderbar echte, nahe Erzählung, die rührend ist, ohne rührselig zu sein. Gefällt mir sehr.

liebe Grüße smile

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.09.2008, 23:18

Liebe Zefi,

ich mag besonders den Schluss dieser kurzen Erzählung. In dem Moment, wo versucht wird, das Pferdchen zu putzen, zerfällt es - so, als wäre es aus der Gegenwart gerissen (weil es zu lange vergessen war /nicht in Aktion oder weil man am Waschen merkt, dass es eben nicht mehr in Gebrauch ist ("Irgendwann hat es versagt") - beides ist wohl letzlich das gleiche.

Der Text hat keinen Kafkastil, aber das stille Erzählen anhand von Gegenständen, an denen sich das Ich ausmacht in dem Moment, erinnert mich an ihn.

Und ich mag, dass das Pferdchen so spät auf den Speicher gewandert ist.

Nur dieser satz (vielleicht auch nur der zweite oder durch den zweiten) wirkt auf mich noch etwas standardisierend:

Das gehört in den Müll.
Wie überhaupt das meiste.


Ich glaube, ich würde mindestens das zweite streichen.

Ich finde, solche texte erinnern einen immer daran, dass - wie die eigenen Träume auch - die eigene Erinnerung nicht geteilt werden kann - letzlich kann niemand das Pferdchen nachfühlen, man bleibt allein damit, so wie auch das Ich auf dem Speicher allein ist und doch sind solche Texte zugleich heilsam, weil in Form von Texten eben doch geteilt werden kann.

Das habe ich sehr gern gelesen,

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.10.2008, 00:46

Das hier hast du wunderschön gesagt, Lisa :stern:
Lisa hat geschrieben:Ich finde, solche texte erinnern einen immer daran, dass - wie die eigenen Träume auch - die eigene Erinnerung nicht geteilt werden kann - letzlich kann niemand das Pferdchen nachfühlen, man bleibt allein damit, so wie auch das Ich auf dem Speicher allein ist und doch sind solche Texte zugleich heilsam, weil in Form von Texten eben doch geteilt werden kann.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.10.2008, 00:49

Liebe Lisa (und alle anderen),

die beiden Sätze um das Thema Entsorgung sind - das ist mir klar - ein Fremdkörper in dem Text. Es spricht eine unterschwellige Wut daraus auf das, was die Erzählerin einmal war. Ich erlebe das oft und habe schon spontan Erinnerungsstücke beseitigt, um bestimmte Lebensphasen auszublenden. Nachher hat es mir immer leid getan.
Aber das führt innerhalb dieses kurzen Stücks sicher zu weit, die beiden Sätze können weg.
Andererseits würde ich sehr gern mal eine genauere Auseinandersetzung mit dem Thema schreiben. Ich weiß nicht, ob es noch viele andere Leute gibt, die so ein punktuelles Gedächtnis haben wie ich; die sich noch Jahrzehnte später irgendwelcher Sätze schämen, die sie irgendwann mal gesagt haben. Die aufbewahrten Erinnerungen bröckeln auseinander; ich habe zwar Glücksmomente dokumentiert (ich schreibe, seit ich schreiben kann), aber diese Dokumente scheinen mir inzwischen platt und wirklichkeitsfremd. Die stärkste Emotion, die ich bei Berührung mit alten Erinnerungsstücken fühle, ist Scham. Alles andere folgt erst danach. Ich will damit nicht sagen, dass ich eine kriminelle oder unmoralische Vergangenheit habe - nur, dass alle anderen Emotionen, Wärme, Wehmut, Heimat (was mich befällt, wenn ich in dreißig Jahre alten Büchern Kartoffelchipskrümel finde) verblassen. Während die Scham anwächst wie ein Vampir.
Darüber müsste noch mal geschrieben werden ... irgendwann.

Danke allen für eure Meinungen; ich editiere morgen.
Schlaflosen Gruß von Zefira
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.10.2008, 00:56

Hi Zefi,
Ich weiß nicht, ob es noch viele andere Leute gibt, die so ein punktuelles Gedächtnis haben wie ich; die sich noch Jahrzehnte später irgendwelcher Sätze schämen, die sie irgendwann mal gesagt haben.

Oh ja, und ob! Ich habe diese Sätze oder Worte und die Situation so genau vor Augen, als ob es gestern wäre und spüre immer noch, wie mein Gesicht rot wird, wie damals.
Bei alten Fundstücken empfinde ich aber auch sehr oft ein starkes Gefühl von Wehmut/Melancholie.
Nostalgische Grüße
Mucki


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