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Eine Mauer - vereint

Verfasst: 08.12.2008, 20:34
von Ylvi
 

Eine Mauer - vereint



Gib mir Steine, um sie wieder aufzubauen

Dann leg ich mein Ohr an die Kälte
bis wir wieder auf das Gehörte vertrauen
Wir hatten uns das anders vorgestellt
nicht wahr
die Sonne scheint in der Nacht

Erzählst du mir noch einmal
von dem Morgen, als du in der Küche saßt und fragtest
wo das Ende der Welt sei

Deine Mutter lachte Tränen in ihren Muckefuck
während dein Vater wortlos aufstand
eine rauchen ging auf dem Balkon. Es war 8:13 Uhr
Hast du gelesen
was hinter deinem Rücken geschah
sich ausbreitete auf Blättern
Es wurde für dich aufgebahrt

Welche Lieder sang sie dir, als du klein warst
und kanntest du Gott
Wohnte er für dich
im zehnten Fenster von links in der zehnten Etage
dort, wo immer das Licht brannte

Aber kommen wir zu uns zurück
der Rest ist zu groß
für meine Begriffe
hatten wir folgendes vergessen

Unsere Dialekte wurden nur gedämpft
von isolierenden Poren. Luftschlösser
in jedem Atemzug eine Geschichte
Wir waren miteinander verfugt
Ist dir auch warm dort drüben
Spürst du, durch die Steine hindurch
geht mein Herz über


Denkmäler erschufen sie
an der Grenze
sahen wir darüber hinweg
liebten uns zusammen
ins Sommerland

Jetzt steht uns nichts mehr im Weg
als wir selbst


 

Verfasst: 13.12.2008, 15:52
von Mucki
Hallo smile,

schon oft habe ich dein Gedicht gelesen und bisher keinen Kommentar geschrieben, weil es mir schwerfällt, deine Zeilen zu durchdringen.
Ich schreib dir einfach mal, welche Gedanken mir beim Lesen durch den Kopf gehen, als Versuch einer Annäherung:

LI sah eine größere Vertrautheit, mehr Wärme, als die Mauer noch stand, möchte sie deshalb wieder aufbauen im Geiste.
Der Text enthält eine Rückblende. LI war ein Kind, als die Mauer fiel und lässt sich erzählen, wie die Eltern es erlebt haben.
Mit "Aber kommen wir zu uns zurück" leitest du m.E. eine andere Perspektive ein, die des Erwachsenen. Vielleicht ist es immer noch das LI, das nun erwachsen ist. Dennoch ist die Haltung die gleiche wie zu Beginn, vor allem durch diesen Passus:
Ist dir auch warm dort drüben
Spürst du, durch die Steine hindurch
geht mein Herz über

Soweit erst mal meine Gedanken, wie ich dein Gedicht verstehe.
Saludos
Mucki

Verfasst: 14.12.2008, 12:15
von Ylvi
Hallo Mucki,

danke, dass du versucht hast dich zu nähern. Das ist interessant für mich, dass du das "Du" als LIch liest, auf die Idee wäre ich nicht gekommen. Wenn ich "Du" schreibe, meine ich auch fast .-) immer ein Gegenüber.

liebe Grüße
smile

Re: Eine Mauer - vereint

Verfasst: 14.12.2008, 13:36
von Elsa
Liebe smile,

ich muss schon sagen, das spricht mir sehr an! Ich sehe die Leute in einer kafkaesken Plattenbausiedlung, immer gewärtig, belauscht zu werden in ihrem kleinen Leben mit Muckefuck und Trabi.

Und dann wird die Mauer zum Westen zerstört, die neue Freiheit ist grässlich, macht Angst, nicht einmal die Sprache ist dieselbe.

Vorher war zwar alles eng, aber überschaubar, man war "unter sich".
Man wolte die Zeichen der Veränderung auch gar nicht deuten, man hat sich schließlich arrangiert in den Jahrzehnten.

Das Neue zu verkraften, eine innere Einstellung zu verändern, ist einfach sauschwer.

So lese ich deine Zeilen, die die Geschichte der DDR anschaulich vermitteln.

Welche Lieder sang sie dir, als du Klein warst
klein


Wir waren miteinander verfugt
Ist dir auch warm dort drüben
Spürst du, durch die Steine hindurch
geht mein Herz über
das ist einfach prächtig!

Lieben Gruß
ELsa

Verfasst: 14.12.2008, 14:53
von scarlett
Ich lese dieses Gedicht eindeutig als „Beziehungsgedicht“.
Es verwebt Persönliches mit Geschichte. Das Trennende wird in der Umkehrung als Gemeinsamkeit erfahrbar gemacht, als Verbindendes, das wegfällt, das wegbröckelt, nachdem die Mauer verschwunden ist, so dass sich am Ende LI und DU zwar ohne „Barriere“, dafür aber sich selbst im Weg stehen – mit ihren unterschiedlichen und vielleicht auch überzogenen Geschichten und Erwartungshaltungen:
„Wir hatten uns das anders vorgestellt// die Sonne scheint in der Nacht“

So ist es für mich nur folgerichtig, dass LI sich diese Mauer zurückwünscht, sie wieder aufbauen möchte, war es doch eine Zeit, in der – trotz Kälte – Vertrauen und Nähe möglich war. Man wußte zumindest, was man hatte, worauf man „bauen“ konnte.
Im Getrenntsein ist es leichter, Luftschlösser zu bauen, die Sprache wird nicht als Trennendes wahrgenommen. Die kursiv gesetzten Zeilen lassen mich annehmen, dass sie als Briefzeilen zu verstehen sind.

Interessant finde ich die Stelle mit den „aufgebahrten“ Blättern.
Ich denke dabei an Geheimakten, in denen jeder Schritt festgehalten, akribisch alles notiert wurde. Die Frage ist nur, ob diese Stelle den „Tod“ im neuen gesellschaftlichen Leben des LD bedeuten/darauf hinweisen soll (je nachdem, was darin alles offengelegt wurde) und damit gleichsam auch das Ende der Beziehung vorwegnimmt?

Ein ziemlich spannender Text, der mit Paradoxien arbeitet und der einige Formulierungen enthält, die es mir sehr angetan haben. Gekonnt gesetzt.

Liebe Grüße,
scarlett

Verfasst: 14.12.2008, 16:16
von Mucki
ja, jetzt wird es für mich klar. Diesen Satz hier
die Sonne scheint in der Nacht

verstehe ich als: die Welt wurde auf den Kopf gestellt.
Mit den "aufgebahrten Blättern" konnte ich zuerst nichts anfangen, doch nun ist deutlich, was gemeint ist.
Saludos
Mucki

Verfasst: 15.12.2008, 09:36
von Ylvi
Hallo Elsa, Scarlett,

das erleichtert mich, ich finde in euren Kommentaren viele von meinen Gedanken wieder.
scarlett hat geschrieben:Die Frage ist nur, ob diese Stelle den „Tod“ im neuen gesellschaftlichen Leben des LD bedeuten/darauf hinweisen soll (je nachdem, was darin alles offengelegt wurde) und damit gleichsam auch das Ende der Beziehung vorwegnimmt?

Das wäre eine Möglichkeit oder vielleicht eine unterschwellige Angst, die zumindest in LIchs Kopf herumgeistert.

(Danke Elsa für das kleine Klein :o) wird sofort geändert.)

@Mucki, dieser Satz „die Sonne scheint in der Nacht“ spielt für mich vor allem mit Illusionen und Vorstellungen von Licht und Dunkelheit (auch im übertragenen Sinn), von Verhältnissen und wie sich Tatsachen und unsere Wahrnehmung unterscheiden. Und wie scarlett schrieb, ging es mir auch um diese Erwartungshaltung. Das "nicht wahr" hat hier für mich eine Schlüsselfunktion. Aber auch deine Assoziation finde ich in diesem Kontext spannend.

liebe Grüße
smile

Verfasst: 06.01.2009, 07:57
von claire.delalune
Hallo smile,

seit ich diesen Text zum ersten Mal gelesen habe, lese ich ihn immer wieder.
Mich hat er von Anfang an beeindruckt und ich habe zwischen den Worten viel gespürt - von Hoffnungen, Ängsten, zerstörten Illusionen, Enttäuschung, zaghaften Schritten und sicherheitshalber den Rücken kehren... und vieles mehr.

Schon der erste Satz macht deutlich: Da möchte jemand am liebsten alles rückgängig machen, was gewesen ist. Der große Rest des Gedichtes spricht davon, warum dieses Bedürfnis da ist. Jedenfalls lese ich es so.

Dabei sind mir vor allem die persönlich klingenden Zeilen aus dem Alltag sehr eindrücklich und intensiv. So kleine Hinweise, scheinbar banal
Es war 8:13 Uhr
zeigen, wie deutlich Lyrich noch alles vor Augen ist, wie stark sich die Situation und Gefühle eingebrannt haben.

Es gab wohl Situationen, in denen es gelang, über all das, was als Negativ erlebt wird, hinweg zu sehen
sahen wir darüber hinweg
liebten uns zusammen
ins Sommerland

und doch steht danach wieder Resignation. Nein, mehr noch: Die Erkenntnis, dass es nicht mehr die äußere Mauer ist, die trennt, sondern dass die Mauer(n) sich im Inneren gehalten und verfestigt haben.

Damit scheint (fast) das Ziel, das im ersten Satz ausgedrückt wurde, erreicht. Und der Kreis schließt sich.

Schön auch die Bildsprache, die immer wieder auf die Mauer Bezug nimmt
ineinander verfugt
z.B. - das Unterstreicht den Eindruck der bleibenden Mauer noch mehr.

Lieben Gruß,
Kathrin

Verfasst: 07.01.2009, 22:09
von Ylvi
Hallo Kathrin,

danke... schön, dass dich das Gedicht erreichen konnte!

liebe Grüße
smile

(Magst du nicht auch mal wieder etwas von dir einstellen? Ich würde mich freuen!)