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wenn die knorrigen reben wieder weinen

Verfasst: 08.08.2009, 13:13
von Ylvi
 

wenn die knorrigen reben wieder weinen



mir war, als hätte sich das meer aufgemacht
zu den weinbergen im innern
des landes

wir spülen
saumselig die gläser
unseres ersten sonnenaufgangs
binden uns nicht fest mit worten
wie sie auftauchte ~ zwei sich berührten am horizont
wir hatten es in den augen
des anderen
gesehen
über der stadt, hinterm hügel, im dunst
segelt seifenblasenschaum zum holzigen grund
ich fang ihn auf .
lass ihn fliegen ,
verwische nicht unsere spuren

(deine füße sind klein
sagst du
neben meinen

so früh
träumen wir noch
wie strand von der flut)

was an alten küsten in kisten lagert - schweigt
wie die schauspielerei. bei uns
schmeichelt salzige luft
als veränderten sich ihre moleküle ~ als wären wir noch nicht erzogen
versäumen wir die zeit
mit küssen

mir war so
als ich erwachte
als ich einschlief
am meer dieses tages
trieben wir aus
der reihe


 

Verfasst: 09.08.2009, 13:55
von fenestra
Liebe Flora,

dieser Text spricht mich sehr an, er ist zart und voller poetischer Wortspielereien. Alltagsgeschehen bekommt einen neuen Glanz (Gläser spülen, Seifenblasenschaum entsteht) und am ersten Morgen "danach" schimmern durch den Sonnenaufgang die zerbrechlichen Gefühle einer neuen Beziehung, das Bestreben, nichts kaputt zu machen, alte Küsten hinter sich zu lassen.

Sehr gelungen finde ich die Mischung aus authentischen Szenen ("deine Füße sind klein") und sprachlich spannenden Umschreibungen für die Gefühle ("trieben wir aus der reihe").

Ich bekomme große Lust, an der Stelle des LI zu sein! ;)

fenestra

Verfasst: 09.08.2009, 20:55
von Ylvi
Danke fenestra, ich mag, wie es bei dir ankommt. :blumen:

Nur über zwei Dinge musste ich erst nachdenken, ob es das trifft, was ich intendierte.
Das "danach" ist sicher unterschiedlich interpretierbar .-) und "das Bestreben, nichts kaputt zu machen" ist vermutlich darin angelegt, aber aus meiner Leseweise nicht aktiv, verzwungen die Handlung bestimmend oder im Jetztgefühl präsent, vielleicht eher im Wissen darum, oder ins Positive gewendet.

liebe Grüße
Flora

Verfasst: 09.08.2009, 21:43
von fenestra
Ja, so meinte ich es auch mit dem Bestreben, nichts kaputt zu machen: Es schimmert nur ganz leicht durch, ein positives Hintersichlassenkönnen erstmal nur.

Übrigens finde ich den Titel etwas schwerfällig und nur auf Umwegen auf den Text beziehbar. Das ist aber wirklich alles, was ich auszusetzen habe.

Liebe Grüße
fenestra

Verfasst: 09.08.2009, 22:29
von leonie
Liebe Flora,

ich denke schon eine Weile über den Titel nach, mir geht es wie Fenestra, aber die Umwege zu beschreiten, lohnt sich (wie eigentlich oft), scheint mir.

Irgendwie kriege ich nicht so recht in Worte gefasst, was ich hier gerne schreiben würde. In jedem Fall scheint mir, dass etwas auf sehr feine Weise (wieder) lebendig wird, was einmal "erstarrt" war.
Und weißt Du, was ich ganz besonders gelungen finde. Dass man den Schluss sowohl auf das Meer als auch auf die Reben beziehen kann...

Liebe Grüße

leonie

Verfasst: 09.08.2009, 23:18
von Ylvi
Hallo fenestra und Leonie,

oh, das ist einer der wenigen Titel, mit dem ich wirklich zufrieden bin, weil er für mich Metapher ist, (auch wie Leonie schreibt, "dass etwas auf sehr feine Weise (wieder) lebendig wird, was einmal "erstarrt" war.") aber zugleich etwas ganz Reales, Natürliches beschreibt, ohne sich darin verkünsteln zu müssen. Ich bin immer ganz glücklich, wenn ich so etwas für mich entdecke und in einen eigenen Kontext stellen kann. Reben weinen tatsächlich im Frühjahr, bevor sie neue Knospen ansetzen und austreiben und aus der Reihe wachsen. Schaut mal hier.
Ich weiß nicht, ändert das etwas den Weg, den der Titel für euch nehmen muss?

Leonie hat geschrieben:Irgendwie kriege ich nicht so recht in Worte gefasst, was ich hier gerne schreiben würde.

Das geht mir auch oft so, leider schreibe ich dann meist gar nichts, was eigentlich schade ist, dank dir!

liebe Grüße
Flora

Verfasst: 10.08.2009, 09:46
von Lisa
Liebe Flora,

ich hoffe, ich schaffe es (Zeit/PC-Mangel) noch ausführlicher hier zu schreiben, aber gerade, wo ich den Text gefunden habe, muss ich einfach schreiben, wie gut er mir gefällt! Er ist so weich und doch fest. Mehr zu gegebener Zeit,

liebe Grüße,
Lisa

Verfasst: 10.08.2009, 09:59
von leonie
Liebe Flora,

für mich ändert das den Weg nicht, aber wie gesagt, ich finde, die Umwege lohnen sich. Deshalb plädiere ich auch vehement für so lassen!
Ich bin so sehr beim Meer gewesen, dass mir die Reben immer aus dem Blick gerieten. Und sie dann wieder "einbinden" musste, was ich sehr gewinnbringend finde.
Was mich noch beschäftigt: Ist es denn wirklich möglich, dass das Meerwasser sie "belebt"?

Danke für den Link!

Liebe Grüße

leonie

Verfasst: 10.08.2009, 10:38
von noel
ja es ist sanft verspielt
& hat doch etwas vom ende
das spiel mit den rebstöcken & dem weinEN
finde ich fein

dasz das meer, das salzige wasser in den inneren rebstöcken angekommen ist-
legt mir eben auch ein ende nah.

dann die füsze & deren spuren
die nicht verwischen
die aber ungleich sind...
kleiner füsze
kleinere, andere schritte...
anderer weg.

Verfasst: 10.08.2009, 13:24
von Ylvi
Hallo ihr Lieben,

ein schönes Frauenründchen hier. :) Ich antworte euch mal gemeinsam, weil es ja auch ineinandergreift.

Lisa, ich freu mich darauf... du weißt ja, ich bin geduldig. .-)

Leonie hat geschrieben:Was mich noch beschäftigt: Ist es denn wirklich möglich, dass das Meerwasser sie "belebt"?

Das ist eine gute und wichtige Frage, weil sie etwas wesentliches im Gedicht aufgreift. Ein Teil der Antwort steckt sicher in noels Leseweise.
dasz das meer, das salzige wasser in den inneren rebstöcken angekommen ist-
legt mir eben auch ein ende nah.

Das Meer belebt nicht mehr, wenn es (in sie) eindringt, wenn es zu weit geht, überschwemmt, dann stirbt die Pflanze auf Dauer ab. Aber wenn es näher kommt, verändert es das Klima, es wird milder, die Luft ist eine andere, der Wind kommt auf, die (Aus)sicht ist eine neue, und durch sie wird auch Gewohntes wieder neu gesehen, das Wachstum verändert sich, wie die Früchte und am Ende auch das Aroma des Weines in den Gläsern. (Der Geschmack des Weinens.)
Das hat sicher auch mit fenstras Gedanken zum „Bestreben, nichts kaputt machen zu wollen“ zu tun.

Dass das Meer zumindest für mich im Gedicht nicht zu weit geht (gehen kann), liegt vielleicht auch an meinem Bild, der Lage der Weinberge am Hang, den Hügeln, der Stadt dort unten. Ich dachte, das wäre auch für den Leser sichtbar? Oder lest/seht ihr das anders?

noel hat geschrieben:dann die füsze & deren spuren
die nicht verwischen
die aber ungleich sind...
kleiner füsze
kleinere, andere schritte...
anderer weg.

Ja ein anderer Weg, ungleich, verschieden, aber nicht unbedingt im Schlechten oder Trennenden?

Leonie hat geschrieben:Ich bin so sehr beim Meer gewesen, dass mir die Reben immer aus dem Blick gerieten. Und sie dann wieder "einbinden" musste, was ich sehr gewinnbringend finde.

Das ist interessant für mich, da es mir eher anders geht, ich bin so in den Weinbergen, dass mir das Meer manchmal aus dem Blick gerät. :o)

liebe Grüße
Flora

Verfasst: 10.08.2009, 22:05
von Elsa
Liebe Flora,

Ich kann nur sagen, das ist einfach wunderbar!

Herzlich,
ELsa

Verfasst: 10.08.2009, 23:02
von Trixie
Liebe Flora,

ich finde es auch einfach wunderbar. Mehr brauch ich dazu eigentlich nicht sagen. Es ist eine kleine schimmernde Perle, die auf ihre ganz besondere Art und Weise perfekt ist wie sie ist, weil sie zeigt, was sie zeigen will und soll und an der ich nicht schleifen würde. Ein echter kleiner Schatz, finde ich. Mal wieder einer dieser richtig bewegenden, berührenden Texte, die ich hier im Salon so schätze!

Liebe Grüßlein
die Trix

Verfasst: 11.08.2009, 10:25
von Ylvi
Danke Elsa, das freut mich so!
Und Trixie :blume0028: Das hast du schön geschrieben, machst mich ganz verlegen und vergnügt. Danke!

liebe Grüße
Flora

Verfasst: 20.09.2009, 09:44
von Lisa
Liebe Flora,

ich weiß gar nicht, wie oft ich inzwischen zu einem Kommentar zu diesem Text angesetzt habe!

Ich finde es unheimlich (schön), wie dieser Text es vermag, zweiganz verschiedene Topi zusammen zu sprechen. Denn obwohl Meer und Weinberge ja durchaus in einer Landschaft vorkommen, berühren sie sich ja nicht, so wie der eine Nachbar den anderen Nachbarn besuchen und berühren kann. Eigentlich berühren sie sich natürlich doch...der Wind trägt das Salz vom Meer an die Reben usf., aber sie bewegen sich halt nicht im Ganzen aufeinander zu. Normalerweise.
Hier im Text geschieht es anders...und das finde ich die Macht des Textes, dass er eine ungeheure Größe an Begegnung dichtet, um auszudrücken, was ja tatsächlich passiert.

Und so verhält es sich ja auch zwischen (zwei) Menschen ("die sich berühren"). Sie befinden sich eben in dieser Meer-Weinlandschaft und du inzenierst sie in beschriebener unerhörter großer Offenheit und die beiden sind genau darin - und in diesem Raum wird dann nochmals ihre Offenheit, die auch eine Ausnahme scheint, erzählt. Das schafft wirklich ein Lesen, dass möglich macht zu verstehen, was dort unauffällig stattfinden soll (denn im gegensatz zur Landschaftsinzenierung wird das Zusammensein de beiden ja ganz schlicht (Gläserspühlen), so alltäglich, dass es, stünde es nicht in diesem Gedicht, übersehen werden müsste, erzählt.
Und dann schaffst du es wie in so vielen Texten auch, dabei dennoch das traurige, das vergebliche, das schmerzende (weil es ja eine große Schwierigkeit, so groß wie die Landschaftsinzenierung am Anfang) dabei zu sprechen...ohne es zu betonen ist es trotzdem ganz klar, dass das ganze dennoch auch Schmerz bedeutet. Durch den Titel, unter dem das ganze läuft, unter den Bildpaaren, die sich kreuzen, um Innen und Außen, Last und Erleichterung zu vermischen.

Ich finde diesen Text wirklich sehr gelungen!

liebe Grüße,
Lisa

Sprachlich finde ich übrigens, dass ich noch keinen Text von dir gelesen habe, in dem ich die Übergänge so natürlich und im guten Sinne perfekt gesetzt finde wie in diesem, das geht für mich alles auf, nichts wirkt "gemacht".