Die zwei Sprachherren oder Hoch steh‘n soll die Poesie
(Doppelte Bindung)
"Das Kernproblem bei der Übersetzung war und ist das Problem der „doppelten Bindung“ des Übersetzers. Der Zieltext soll gleichzeitig eine erkennbare Rückbindung an den ausgangssprachlichen Text besitzen und die Anforderungen des Lesers des zielsprachlichen Textes erfüllen.
In dieser doppelten Bindung liegt der Ursprung der Begriffe der rückwärts oder vorwärts (ausgangs- bzw. zielsprachlich und -kulturell) orientierten Übersetzung. Entweder sollen dem Leser der Übersetzung die charakteristischen Eigenschaften der Ausgangskultur und -sprache nahegebracht werden, oder er soll mit einem in der Zielkultur und -sprache unauffälligen bzw. seinen Zweck gut erfüllenden Text versorgt werden.
In der literarischen Übersetzung kann sich beispielsweise eine grammatische Struktur der Ausgangssprache als sehr charakteristisch für den Stil des Ausgangstextes herausstellen, durch eine wörtliche Übertragung würde im Zieltext jedoch ein auffällig vom gewohnten Sprachgebrauch abweichender Stil entstehen, der den Leser irritiert."
Zitat Wikipedia
Es geht mir unter anderem um die Fragen: Wem bin ich treu, wem kann ich treu sein, wen darf ich verraten, wen MUSS ich verraten? Ja, auch in der Sprache. Muss ich überhaupt jemanden verraten? Wem schenke ich etwas, wem nehme ich etwas? Welchem der beiden Sprachherren möchte ich dienen, so dass sich keiner von den beiden vernachlässigt fühlt und ich gleichzeitig doppelt beschenkt werde?
Um das herauszufinden, muss ich ausholen. Anfangen vielleicht mit dem Spruch eines Denkers des neueren Herrn, einem Spruch von Matthias Claudius, der lautet: „Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen“. Und mit dem Bild der jungen Frau, die ich vor mehr als 20 Jahren war, im Fensterrahmen einer Wohnung über einer Frankfurter Apfelwein–Kneipe mit dem typischen Namen Struwwelpeter.
Dort hatte mich meine Reise, besser gesagt, meine Flucht hin verschlagen. Die Furcht vor einem Krieg hat mich aus einem fremden Land hierhergeführt, und jetzt bin ich da, im Fenster, und in Sicherheit. Aber ich bin noch lange nicht angekommen.
Noch hänge ich an meinem „alten Herrn“, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als zu ihm zurückzukehren. Er hat mich wohlwollend und gut behandelt. Noch erkenne ich den Neuen nicht an, bei dem ich als unterste Zofe angestellt wurde, ich möchte ihn nicht mögen, erwartet er doch von mir, dass ich mich selbstlos hocharbeiten soll.
Ich spreche nämlich kein Deutsch.
Ich kann zwar von Schule her ein bisschen Deutsch lesen und ein paar der allernötigsten Worte sagen, aber von Sprachkenntnissen kann keine und vom Verständnis des Geistes der Sprache schon überhaupt keine Rede sein.
Noch sehe ich nicht, panisch, undankbar und voller Existenzsorgen, dass mir ein Dichter höchstpersönlich auf halbem Wege entgegengekommen ist, mich an der unsichtbaren Brücke empfangen und unter seine Fittiche genommen hat. Was weiß ich, was ein Struwwelpeter ist und wer Hoffmann war? Ich übersehe auch, dass mich ein paar meiner heimatlichen Dichter zu ihm geführt und mich in seine Obhut übergeben haben. Wer soll schon diese Provinziellen Europas kennen? Hoffmann vielleicht?
Mir ist nicht nach Dichten zumute. Die Poesie liegt weit hinter mir, weit vor mir, aber sicherlich nicht hier und jetzt in diesem Fensterrahmen über dem bedrohlich proportionierten Abbild des zotteligen Bürschchens mit den ungepflegten Fingernägeln.
Oder?
Na, dann lass mich mal diesen Struwwelpeter lesen, wenn‘s sein muss, damit ich weiß, was los ist.
Ich lese.
Ich verstehe nur Bahnhof.
Es scheint recht blutrünstig zuzugehen.
Verwahrlosung, Selbstverletzung, Magersucht. Zündeln.
Hm. Auffälligkeiten.
Ich schlage die Biografie des Dichters auf.
Ein Ps –ych-iater. Ach so: Psihijatar!
Soso, und ein ganz anderes Jahrhundert,…
Na, das erklärt manches.
Ich sollte mir baldigst ein Wörterbuch anschaffen.
Ich lese blind, verständnislos. Lausche dem Klang der fremden Worte.
Horche auf die eigene Stimme. Mein Lesen wird allmählich flüssiger und ich finde gar einen Rhythmus.
Und ich erkenne! Und bin erstaunt.
Singt diese Sprache nicht?
Ja, sie singt. Auch. Trotz Blutrünstigkeit.
Sie entwickelt eine Melodie und ich werde ganz langsam in dieser Melodie gewiegt.
Bin ich gerade in dieser neuen Sprache geboren worden? Ein Säugling? Soll dieser Psychiater mein neuer Vater sein, der mich gerade wiegt?
Sind meine zwei Sprachherren dann doch Brüder, in der Musik?
Ja, es ist möglich, dass sie es sind.
Jetzt erst bin ich angekommen. Jetzt, da mir die Musik gefallen hat und ich die Ähnlichkeiten erkannt habe, will ich lernen, mitzusingen.
Ja, womöglich auch die Unterschiede herausfinden.
Jetzt, da es so aussieht, als bekäme ich einen Vater zugeteilt.
Ich habe zwar von meinem alten Herrn von vielen fremden Onkels gehört. Bin mit ihm Schiller, Heine und Goethe begegnet. Und Mann und Böll.
Aber jetzt, jetzt will ich es mir nicht mehr von ihm vermitteln lassen, ich habe jetzt einen nigelnagelneuen Vater. Ich will die Musik jetzt aus erster Hand hören. Ich will hineinsteigen, dazugehören. Mitsingen.
Und gibt es einen besseren Ort, um damit anzufangen, als Alt Sachsenhausen?
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Schon längst bin ich beheimatet bei meinem neuen Herrn. Ich bin sogar so sehr beheimatet und angehörig, dass ich furchtlos die Reisen „tue“. Damit ich was zu erzählen habe. Ich unternehme unbewusste Raubzüge zu meinem ursprünglichen Herrn und entreiße ihm seine Habseligkeiten, um damit meinen neuen Herrn zu erfreuen. Aber ein schlechtes Gewissen plagt mich meinem alten Herren gegenüber. Es muss ja möglich sein, diese beiden Herren, diese Brüder in der Musik, miteinander bekannt zu machen, geschickt ein faires Tauschgeschäft auszuspinnen zwischen den beiden. Gewinnbringend vermitteln und verbinden.
Ich fange an, Lyrik zu übersetzen. Poesie. Gedichte.
Die Herren sind gespannt. Die Herren sind sich gleichermaßen einig in ihrem Spaß über mein Gestrampel. Ich singe schief, sagt mal der eine, mal der andere. Ich krächze. Komm, sing!, lachen die beiden, prosten sich zu und rufen gar manche andere Herren herbei, mal Engländer, mal Römer … mal gar die Osmanen … damit sie sich alle meinen Gesang anhören und sich köstlich über mich amüsieren.
Wein, Weib und Gesang.
Und ich bin wohl das Weib.
Ich bin voll ausgelastet.
Ich trage hektisch meine Bembeln hin und her, gieße aus und schenke ein, schenke ein und gieße aus und versuche dabei, den Ton zu halten.
Manchmal, nur manchmal bringe ich die Herren zum Schweigen und sie nicken zufrieden und leicht angetrunken. Bei seltenen Gelegenheiten, wenn es mir gelingt, ein paar Musen unbeschadet über sehr lange Strecken zum Ort des Geschehens hinüberzutragen und gegenwärtig zu machen. Dann schnurren sie wohlig, die Herren. Gemeinsam mit den Musen, auf dem Divan. Und ich finde meinen verdienten Schlaf.
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Nun, aber wo ist der Ort des Geschehens?
Das kann ich nicht verraten. Nicht nur, weil ich es nicht gewollt hätte, sondern auch, weil dieser Ort tatsächlich kein Ort, sondern ein Zustand des Geistes ist. Ein versteckter serpentinenreicher Pfad zwischen Hindernissen mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden.
Nicht nur ein Silbenzählen und Reimesuchen, sondern auch ein Verstehenwollen. Nicht nur ein Verstehenwollen, sondern auch ein Mitsingenwollen. Nicht nur ein Mitsingenwollen, sondern Imgesangmitreisenwollen. In einer Bahn des Poetischen Denkens und Fühlens.
Es ist eine Begegnung mit vielen unsichtbaren Begleitern und Zuwisperern aus dem Regiment der beiden Herren. Aber auch ein Wandern auf den Ebenen der eigenen Erfahrung. Es ist ein tiefes Eintauchen in universelle Freundschaft, die nur durch Kommunikation entsteht und erhalten wird. Manchmal, in besonders kostbaren Fällen, durch die Poetische Kommunikation.
Und das trotz des Ärgernisses, dass ein Wort sich partout nicht reimen wollte. Und das andere sich sträubte, ein Riesengebirge zu werden, und sich tatsächlich nur als Berg hinübertragen ließ.
Die Herren aber sind gerade mal gütig.
Und deshalb verrate ich zum Schluss nur noch so viel:
Ivan Goran Kovacic, Kroatien
Mein Grab
Der dunkle Berg soll meine Grabstätte sein
Wolfsgeheul darüber, schwarzer Äste Schrei
Sommers Dauerbrise, winters hoher Schnee
Damit meiner Stille kein Geräusch entfliehe
Hoch steh'n soll's, als Thron, ähnlich einer Wolke
Unerreicht vom Kirchturm und vom Klang der Glocke
Ungestört vom Jammern der reuigen Sünder
Von Furcht der Bekehrten und betenden Münder
Mit dem Gras soll's sprießen, neben Dornenreis
Steil zu ihm soll führen ein Weg, den kaum wer weiß
Und niemand soll kommen, bis auf den teuren Freund
welcher bei der Rückkehr die Spuren zerstreut.
Doppelte Bindung
Hallo pjesma, eine sehr authentisch klingende, mitreißende Schilderung (d)einer Erfahrungen des Ankommens und Fußfassens. Wie leicht sich doch auf diesem Hintergrund das gedankliche Hin- und Herspringen anhört ! Ein beeindruckender Text über ein erfolgreiches Einwachsen in zwei Lebensräume.
Ein Klang zum Sprachspiel.
Hallo Pjesma,
eben habe ich diesen Text gelesen: Ich bin sprachlos.
Ich hatte das Gefühl, ein ganzes Leben zu erleben.
Ich habe dann den Kommentar von Eule gelesen, dem ich nur zustimmen kann.
Ich will dir nur Eins sagen: Ich hoffe, ich werde eines Tages in der Lage sein, so wunderbar wie du zu schreiben.
Dein Schreiben macht Hoffnung.
Carlos
eben habe ich diesen Text gelesen: Ich bin sprachlos.
Ich hatte das Gefühl, ein ganzes Leben zu erleben.
Ich habe dann den Kommentar von Eule gelesen, dem ich nur zustimmen kann.
Ich will dir nur Eins sagen: Ich hoffe, ich werde eines Tages in der Lage sein, so wunderbar wie du zu schreiben.
Dein Schreiben macht Hoffnung.
Carlos
hole hoch, ausnahmsweiße, für miraz, als antwort auf ihre feinfühligkeitmangeltheorie in fremden sprachen...möchte nicht in ihrem thread dazwischen reden, aber zu ausdruck bringen das ich es nicht so wie sie sehe. eine neue sprache ist eine neue möglichkeit, aus dem box herauszukommen...eingeboren sind blaue augen schwarze haare...aber die sprache kann "eingelebt" werden
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