wortliste

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
aram
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Beitragvon aram » 01.05.2012, 22:09

wortliste

retreating blade stall bestattungskraftfahrgesetz
remotehostverfügbarkeit aufstieg unter wechselatmung
transitioning to visual echo deconvolution

Niko

Beitragvon Niko » 06.05.2012, 10:05

mir sagt der text nichts. und mir sagt der text vieles. ein text, der weniger wort und inhalt vermittelt, sondern ein gefühl. was ja eigentlich die hohe kunst des schreibens ist. meist funktioniert es auch über sinnzusammenhänge. hier braucht es das nicht.
für mich lege ich in die worte hinein eine ad absurdum-führung der sprache durch ein durchdringen selbiger mit einer anderen sprache. englisch verdrängt die eigene muttersprache. es klingt modern, zeitgemäß, hipp. letztendlich aber - wenn mein dürres englischvokabular mich nicht ganz täuscht - verliert sich eventuell der sinn und ganz sicher die sinnhaftigkeit solchen sprachgebrauchs.
man möge mal versuchen, einen einzigen tag ohne ein englisches wort im normalen sprachgebrauch auszukommen. ein fast unmögliches unterfangen.
ich erinnere mich an meinen vater, der schon vor knapp 50 jahren vom untergang der deutschen sprache redete. damals kamen worte auf wie "flirt", "t-shirt" oder hitparade, beat......

naja....sprache lebt und verändert sich. nahezu täglich.

liebe grüße: niko

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 20.10.2018, 04:41

In der ersten Minute, beim wiederholten Lesen, hörte ich bloßes Begriffsrauschen. In der zweiten Minute meinte ich, im Rauschen ein interaktives Muster zu erkennen, dank der technohistorischen Mehrdeutigkeiten und der Abwesenheit ablenkender Reime. Ich sehe spontane, abstrakte Malerei auf rein verbaler Ebene. Dabei ist ja immer zu bedenken, dass Spontaneität nicht das gleiche ist wie Zufall. Ein schneller Willensakt kann genauso einem Gedanken entspringen wie ein langsamer. Man merkt es nur nicht. Weil der Muskel schneller ist als die Gedankensortierung.

aram
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Beitragvon aram » 24.01.2022, 04:03

eigeninterpretation

auf den titel "wortliste" folgen drei verse mit jeweils einem begriffspaar.
alle begriffe sind mehrgliedrige technische ausdrücke, auf deutsch oder englisch. die englischen ausdrücke werden dabei teilweise auch im deutschen sprachraum fachsprachlich angewandt.

die begriffe im einzelnen:
"retreating blade stall" bezeichnet stömungsabriss am rücklaufenden rotorblatt eines hubschraubers. aus schnellem, bis dahin stabilen vorwärtsflug kippt der helikopter unter auftriebsverlust zur seite - eine bedrohliche gefahrensituation, nicht leicht zu korrigieren, kann zum absturz führen.

"bestattungskraftfahrgesetz" ist eine wortschöpfung aus "bestattungskraftwagen" und "kraftfahrgesetz".
obwohl es den begriff offiziell nicht gibt, ist er keine erfindung des autors - er taucht vereinzelt als angebliches beispiel für "verrückte" deutsche fachbegriffe auf, öfter wird auch die norm DIN 75081 (inkorrekterweise) so genannt.

"remotehostverfügbarkeit" - bezeichnet potenziellen zugriff auf einen dislozierten/räumlich entfernten computer, der benötigte daten bereitstellt; thematisiert somit das funktionieren der kommunikativen verbindung zu einer getrennten entität.

"aufstieg unter wechselatmung" ist eine riskante rettungstechnik beim tauchen; bei ausfall der atemluftversorgung des einen benutzen zwei taucher gemeinsam und abwechselnd den atemregler des anderen, um langsam, falls nötig mit dekompressionspausen, zur oberfläche zurückzukehren. die gegebenenfalls lebensrettende technik stellt hohe praktische und psychische anforderungen an die beteiligten. im ernstfall muss der atemluftspender damit rechnen, sein mundstück nicht mehr zurückzubekommen, wenn der 'luftlose' taucher bereits in panikzustand ist.

"transitioning to visual" bezeichnet den übergang aus dem blindflug (instrumentenflug) in den sichtflug, insbesondere unmittelbar vor der landung, und gilt als kritische flugphase /anspruchsvolle pilotenaufgabe.

"echo deconvolution" ist das entzerren oder unterscheiden eines echo- bzw. falschsignals vom eigentlichen signal - eine nicht-triviale aufgabe, die nicht immer lösbar ist.


fast alle begriffe beziehen sich auf kritische situationen. lediglich "bestattungskraftfahrgesetz" hat einen twist ins absurde/ verrückte.

die abfolge dieser begriffe lässt sich zu einer geschichte montieren:

z1: aus stabiler lage wegen zu hoher reisegeschwindigkeit plötzlich auftretende, potenziell tödliche gefahrensituation, gefolgt von etwas absurdem, ins irre kippenden, mit anspielung auf begräbnisse.

z2: frage nach kommunikativer verfügbarkeit, gefolgt von einer rettungstechnik durch eine zweite person.

z3: übergang aus dem 'blindflug' in die orientierung aus eigener wahrnehmung, gefolgt von der anspruchsvollen aufgabe, echte signale von falschen zu unterscheiden.

laufend werden fortbewegungsarten, kommunikations- und orientierungsformen in verbindung gebracht - fliegen, fahren, tauchen, unterscheiden, kommunikation über distanz, und in engem kontakt (wechselatmung)

plötzliches kippen in die gefahr, bezug auf irrsinn und tod / erreichbarkeit in der ferne, riskante rettung in enger verbindung / entwickeln eigenständiger wahrnehmung, entzerren von falschen signalen.

alles wird über unpersönliche, technisch verästelte begriffe ausgedrückt - der titel legt einen weiteren ablenkenden schleier über gefühle und empfindungen während knappen entrinnens aus einer das leben und/oder den verstand bedrohenden lage, unter mithilfe eines menschen, der sich dabei selbst in gefahr begibt - es bleibt die aufgabe differenzierten erkennens der wirklichkeit.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 24.01.2022, 07:28

Interessant. Aus dieser Sicht, um die Geschichte nicht allzu zerfleddern, hätte ich alles auf Deutsch geschrieben. Und die Szene mit "bestattungskraftfahrgesetz" hätte ich anders phänomenalisiert, weil dessen Absurdität so einer Geschichte nicht dient, meiner derzeitigen Ansicht nach.

Seltsam, was für große Zeitlücken klaffen zwischen den ersten drei Kommentaren. (Sind da welche verschwunden?)

aram
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Beitragvon aram » 24.01.2022, 13:57

hallo pjotr! - übersieh bitte nicht, dass ich mit dieser 'geschichte' nur eine mögliche interpretation gegeben habe - bestimmt sind auch andere möglich, mit anderer zielrichtung.

"das hätte ich anders..." impliziert, dass der text reduziert auf genau diese auslegung hin geschrieben wurde - was nicht der fall ist. (er stellt nicht nur eine gymnastikübung der linken gehirnhälfte dar.) die englischen wörter und auch das b.fahrgesetz haben noch anderes gewicht als die von mir interpretierte funktion. das textlein steht ja auch im 'publicus'.

wenn ich mir heute ansehe, wann es entstanden ist - 1. halbjahr 2012 - kann ich sagen, dass ich damals tatsächlich knapp am verrückt werden / die fassung verlieren vorbeigeschrammt bin, und gerade noch die kurve gekriegt und zu mir zurückgefunden habe, auch mit hilfe punktgenauer therapeutischer intervention im 'jetzt'. das heißt aber nicht, dass ich den text anders hätte schreiben können, oder dass mit meiner eigenen interpretation schon alles gesagt ist. ich hatte die beim schreiben auch keineswegs so klar am schirm.

es sind glaube ich keine kommentare verschwunden. eventuell haben etliche leser die explizit dastehenden begriffe gar nicht erkannt - aber wie gesagt, es geht bestimmt nicht nur um ein 'versteckspiel'. klang, rhythmik, topografie, knappheit - lyrik halt.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 24.01.2022, 14:57

Oh, im Publicus sind wir. Habs übersehen. Ja, Deine Auslegung war nur eine mögliche von vielen; so habe ich es auch verstanden, und allein diese habe ich kommentiert. Mein "ich hätte dann" kann man auch umschreiben mit "mir fehlte dann", also im Sinn einer Kritik, nicht als Vorschlag.


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