Anthony

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 31.10.2007, 09:31

„Scheußlich, Lola, heut’ läuft ja gar nix ...“ Mia drückt ihr einen Kuss auf die Wange, zieht den Plüschmantel aus und wirft sich auf das Sofa in Lolas Etablissement.
Es ist kalt in dieser Novembernacht im kurzen Latexröckchen, den ungefütterten Lacklederstiefeln. Die Mädchen kommen immer wieder herein, um sich aufzuwärmen. Im Moment ist die Bar leer bis auf die beiden Frauen. Nicht ein einziges Zimmer hat Lola heute vermietet. Doch sie lässt das nicht an den Nutten aus, die ihre Freundinnen sind. Sie erinnert sich noch gut daran, wie es ist, in der Kälte auf einen Freier zu warten oder bei schwüler Hitze in Sommernächten.
Nach dreißig Jahren im Milieu weiß sie, dass dieser Abend ein mieser Abend bleiben wird.
„Nein, es läuft wirklich nix.“ Lola bringt Mia Tee mit Rum. „Dabei brauch ich die Knete verdammt dringend. Anthony hat einen neuen Therapeuten, der kostet Schweinegeld ...“
„Meine Güte“, sagt Mia zähneklappernd. „Dass das nix wird mit deinem Jungchen ...“
„Jungchen? Mia, er ist so alt wie du ...“
„Bei diesem Wetter traut sich kein Kerl raus! Die sitzen alle schön daheim bei Mutti ...“ Mia schlürft den heißen Tee.
„Recht hast du! Ich glaub, ich sperr zu für heute.“
„Klar, du hast ja keinen Stecher, der dir eine knallt, wenn’st ohne Zaster ankommst ...“ Mia schüttelt sich. „Dieses Arschloch!“
Lola lächelt. „Siehste, ich habe immer auf eigene Rechnung gearbeitet, so konnte ich was auf die hohe Kante legen für den Laden da. Weihnachten sind’s zehn Jahre, dass ich nicht mehr auf der Strasse steh’. Steig aus, Mia, du bist jung, du schaffst das bestimmt. Kannst doch so schön singen, hm?“
„Aber ich liebe den Mistkerl. Du hast halt keinen geliebt, oder?“
„Doch keinen Luden! Einen Freier ... damals hab ich mir das Kind ... also dann, Mia, trink deinen Tee aus, ich werde nach Anthony sehen, weil ich heut mal Zeit hab.“

Anthony war ein toller Junge, Lola zeigte ihm die ganze Welt. In den Schulferien bereisten sie die Kontinente. Während des Jahres saßen sie beieinander und erinnerten sich daran. Lola machte kein Geheimnis aus ihrem Job. Anthony kam gut damit zurecht. Gab es Zoff auf dem Schulhof, die üblichen Reibereien zwischen den Jungs, bei denen sie sich anblafften und gegenseitig als ‚Hurensöhne’ beschimpften, feixte er nur.

Lola war glücklich mit ihrem Jungen. Den Schmerz hatte sie schon lange überwunden. Auch die Wut auf sich selbst, dass sie an die Liebe des Kindsvaters geglaubt hatte. Es war nicht mehr wichtig. Das Einzige, was zählte war Anthony.
„Mein Wunderknabe“, sagte sie stolz und reichte Fotos und seine vorzüglichen Schulzeugnisse bei den Mädchen herum.

Zu seinem siebzehnten Geburtstag schenkte sie ihm eine Interrailreise durch Europa; er wollte mit ein paar Kumpels losziehen.
„Jetzt wird er groß, mein Anthony, toll, was?“, sagte sie zu Mia.
Nach vier Wochen kam er zurück. Etwas hatte sich verändert. Anthony wich aus, wenn Lola ihn bat, von seiner Reise zu erzählen. Er verbrachte auffallend viel Zeit im Badezimmer, beantwortete Lolas Fragen dazu nur mit: „Ich bin schmutzig, da wäscht man sich eben ...“
Vorher pünktlich, kam er nun regelmäßig zu spät zur Schule, schließlich ging er gar nicht mehr hin. Er sperrte sich entweder im Bad oder in seinem Zimmer ein.
Oft bettelte Lola vor seiner Türe. „Anthony, Junge! Komm, sprich mit mir. Was ist denn los? Bitte, sag doch etwas.“
„Mama, lass mich, ich muss nachdenken, geh weg“, antwortete er mit dumpfer Stimme.

Lola suchte einen Jugendpsychologen auf.
Er sagte: „Es scheint sich um eine Adoleszenz-Krise zu handeln, das passiert immer wieder und heißt ‚depressive Episode’. Das wird schon wieder. Am besten, Sie lassen den Jungen mal machen.“
„Ja, alles wird gut“, sagte Lola mit fester Stimme.

Am darauffolgenden Sonntag verbrachte Anthony acht Stunden im Bad, Lola sah den Wasserdampf unter dem Türspalt hervorquellen und sie verhielt sich so, wie der Psychologe ihr geraten hatte. Sie blieb ruhig und ‚ließ den Jungen mal machen’.
Als Lola hörte, wie er die Tür entriegelte, lief sie in die Diele, um ihn zu erwischen, ehe er in seinem Zimmer verschwand. Da stand er, ein Handtuch um die Hüften, mit aufgeweichten, verschrumpelten Händen und Füßen, hochrot seine Haut.
„Anthony, was machst du denn? Wozu soll das gut sein, Junge“, rief Lola erschrocken. Sie konnte ihn nicht einfach mal machen lassen und schlug den Rat des Experten in den Wind.
Aber Anthony drückte sich stumm an ihr vorbei, ging in sein Zimmer und sperrte ab. In Lola schrillten alle Alarmglocken, sie glaubte nicht mehr, dass es sich um eine Pubertätsmarotte handelte. Ihr riss die Geduld, sie hämmerte mit den Fäusten an die Tür, schrie: „Mach sofort auf, du bist ja irre!“
Lola kauerte sich auf den Boden in der Diele und weinte. Sie zitterte vor Angst. Die ganze Nacht blieb sie dort hocken und lauschte. Sie fühlte die Stille hinter der Tür wie ein riesiges schwarzes Loch in ihrem Bauch.
Am Morgen, als Anthony herauskam, aufs Klo ging, sah er sie hohläugig an. „Mach das nicht, Mama, ich will schlafen, verstehst du, schlafen!“
Lola rappelte sich hoch. „Wir gehen zum Arzt! Das sehe ich mir nicht mehr an.“
Ihre Tränen rührten ihn wohl, denn er willigte ein.

„Nun, irgendetwas bedrückt Ihren Sohn, ich gebe Ihnen die Adresse für einen sehr guten Gesprächstherapeuten für Jugendliche mit. Vielleicht kommt er an den Jungen ran“, sagte der Psychiater in der Psycho-Ambulanz, nachdem er eine gute Stunde mit Anthony gesprochen hatte und danach Lola hereinbat.
„Seit er von der Reise zurück ist, redet er nicht mehr richtig mit mir. Er ist so anders geworden.“ Ihre Hände zitterten, sie ballte sie zu Fäusten, damit das aufhörte.
„Nur nicht nervös werden, gnädige Frau, Heranwachsende haben manchmal merkwürdige Verhaltensmuster, die geben sich bestimmt wieder. Ein paar Stunden Therapie und alles wird gut werden.“
„Alles wird gut ...“ Lola wollte ganz fest daran glauben und nickte.

Es folgte eine Zeit, in der sich Anthony nicht mehr wusch. Gar nicht mehr. Es roch muffig in der Wohnung, obwohl Lola die Fenster ständig gekippt ließ.
„Nein“, sagte Anthony, wenn sie ihn anflehte, endlich wieder das Bad aufzusuchen. „Nie wieder!“

„Wisst ihr, wie eine Socke aussieht, wenn sie drei Monate lang Tag und Nacht an einem Fuß bleibt“, fragte Lola eines Abends die Mädchen vom Strich, als sie bei ihr saßen.
„Nö. Wie denn?“
„Sie ist ein großes Loch, an dem hinten eine Ferse und vorne noch ein Hütchen für die Zehen hängen.“

In dieser Nacht gab Anthony den Kampf gegen das Waschen auf. Als Lola morgens heimkehrte, war die Diele in Wasserdampf gehüllt. Diesmal badete ihr Junge ganze zwölf Stunden. Die Haut war dunkelrot geschrubbt, an einigen Stellen offen.
Lola rief die Rettung an. Während sie auf den Wagen warteten, fragte sie: „Anthony? Was ist es? Warum kannst du nicht mit mir darüber reden? Wir konnten doch immer über alles sprechen miteinander.“
Anthony saß mit gesenktem Kopf da und kratzte an einer der Wunden auf dem Unterarm herum. „Darüber nicht, Mama. Du kannst das nicht verstehen.“
Dann sagte er nichts mehr, bis die Sanitäter kamen und ihn in die Psychiatrie einlieferten. Lola blieb zurück und schlug die Stirn so lange gegen den Türrahmen, bis sie blutete.

Anthony übte in der Klinik sein Verhalten zu ändern. Er badete unter Aufsicht. Nach exakt einer Stunde musste er die Wanne verlassen. Tat er das nicht, griffen die Pfleger ein. Verweigerte Anthony das Waschen länger als zwei Wochen, wurde er geduscht. Eine schwere Depression stellte sich ein.
„Das ist normal in dieser Umlernphase“, beruhigte der zuständige Psychiater die Mutter.
„Ach ja? Anscheinend ist alles ganz üblich, was mein Sohn durchmacht. Zuerst ist es nur eine Pubertätssache, dann bloß eine kleine Zwangsneurose, und jetzt soll plötzlich sein depressives Verhalten eine normale Reaktion sein? Wann hört das auf? Warum hat er das?“
Der Doktor schüttelte den Kopf. „Wir müssen abwarten“, sagte er und begleitete sie bis zur Tür.
„Wie soll das nur gut werden?“ Lola weinte.

Bei ihren Besuchen war Anthony von kühler Freundlichkeit. Weder Lola noch seine Ärzte erfuhren, was in ihm vorging. Jedes Mal hoffte sie, ein Wunder würde geschehen, doch es veränderte sich nichts. Immer noch wurde er kontrolliert in seinem Waschverhalten, weil er den Zwang nicht beherrschen konnte. Auch das Antidepressivum zeigte keinerlei Wirkung. Anthony blieb unangreifbar, zwanghaft und verzweifelt.
Er flüsterte ihr ins Ohr: „Mama, ich nehme diese Pillen nicht, das ist Gift.“
Einmal versuchte Lola an ihn heranzukommen, indem sie von den wunderbaren Reisen anfing, die sie zusammen gemacht hatten. Er hörte zu und lächelte sogar.
Nun versuchte sie das Gespräch zu vertiefen. „Junge, bitte sag mir doch, warum kannst du über dein Problem nicht mit mir reden?“
„Du kannst es nicht verstehen, Mama“, sagte er, verschloss sein Gesicht, der Körper krampfte und Anthony erbrach sich mitten auf den Tisch.

Nach einigen Monaten bat der behandelnde Arzt Lola zu sich. „Anthonys Verhalten ist unveränderbar, wir können nichts bewirken. Sie sollten ihn in einer betreuten Wohngemeinschaft unterbringen.“
Lola antwortete nicht einmal, packte Anthonys Tasche und fuhr mit ihm nach Hause.
Zweimal wöchentlich besuchte sie mit ihm eine Selbsthilfegruppe für Zwangskranke und ihre Angehörigen.
Die Waschphasen wechselten sich mit den stinkenden ab. Lola versorgte die Körperstellen, wo die Haut weggeschrubbt war, mit Heilsalbe.
Anthony war durch Lolas Beruf viel zu lange allein, oft die ganze Nacht, und die Zwänge vermehrten sich. Es schien, als würde er einen Tic gegen einen anderen austauschen. Entweder er schlief tagelang oder wanderte Tag und Nacht ruhelos durch die Zimmer. Er aß den Kühlschrank leer, dann wieder nahm er lange Zeit außer Wasser nichts zu sich. Was er auch anstellte, am Ende siegte der Zwang, sich waschen zu müssen. Irgendwann schaffte Lola es nicht mehr, ihr Etablissement und die Betreuung des Jungen unter einen Hut zu bringen. Ihr blieb keine Wahl, sie musste ihn in einer Wohngemeinschaft unterbringen.

Das Zimmer dort war klein und düster, das Gebäude alt, aber Lola hatte den Eindruck, dass Anthony kein Problem damit hatte. Ihr war wichtig, dass der Junge rund um die Uhr versorgt war, jemand auf die Badezeiten achtete, ihn rechtzeitig aus dem Wasser holte. Meistens klappte das recht gut.
So oft es Lola möglich war, besuchte sie Anthony, die andere Zeit verbrachte sie damit, Geld zu verdienen. Sie wollte so viel verdienen, dass sie eine private Pflegerin engagieren könnte. Dann würde sie Anthony wieder nach Hause holen.
„Alles wird gut “, sagte sie wieder zu sich selbst und animierte die Freier zum Champagnertrinken. Sie veranstaltete Karaoke- und Stripteasewettbewerbe, um die Einnahmen zu erhöhen.

Heute nutzt sie den freien Abend, um Anthony zu besuchen. Merkwürdig, denkt Lola, als sie das Haus betritt, sie vermisst die übliche Betriebsamkeit, die Hintergrundgeräusche. Sie schaut in das Büro des Sozialdienstes, das mit dem Nachtpfleger besetzt sein sollte. Beim Schließen der Tür entdeckt Lola einen Zettel, der an der Außenseite klebt. ‚Komme gleich wieder – Notfall’ steht darauf in flüchtig hingeworfenen Buchstaben.
„Anthony?“ Sie rennt die Treppe hoch, außer Atem erreicht sie den zweiten Stock und damit das Zimmer von Anthony. Es ist leer.
„Junge“‚ sagt sie. Angst lässt ihr Herz zucken. Er ist der Notfall! Sie will die Stiegen wieder hinunterlaufen. Da lässt sie ein Plätschern vom Ende des Gangs, dort, wo das Gemeinschaftsbadezimmer ist, verharren.
„Anthony?“
Er liegt im rosa gefärbten Badewasser, sieht Lola an. „Mama, hilf mir ... ich kann nicht mehr ... bitte tu was!“ Kleine Hautfetzchen dümpeln um ihn herum, er weint.
„Mama, das ist kein Leben, nur noch Schmerz.“ Wieder beginnt er seine Haut mit der Bürste zu zerreiben. Lola lässt ihn gewähren, krallt hinter ihrem Rücken die Hände in den Pullover, reißt Löcher hinein.
Die Bürste rutscht ihm aus der Hand. „Ich werde nie mehr sauber sein ... bitte, Mama, hilf ...“
Lola blickt sich suchend um, entdeckt einen Föhn auf der Etagere.
„Mein Anthony, ja, ich helfe dir. Es geht ganz schnell und dann wird alles gut sein.“
Sie drückt den Kopf ihres Jungen an ihre Brust, streichelt sein Haar und flüstert immer wieder, als würde sie ein Kinderlied singen: „Alles wird gut, alles wird gut, mein Engel, wirst sehen, alles wird gut ...“
„Ja, Mama“, schluchzt er.
„Wir befreien dich jetzt von der Quälerei, ja?“ Lola lächelt unter Tränen, sie zittert vor Anstrengung, um nicht loszubrüllen.
„Mein Prachtjunge“, sagt sie.
Dann steckt sie den Stecker des Föhns in die Stromdose an der Wand.
Anthony streckt die Hand aus. „Ja, Mama, das ist es, danke“, sagt er, ergreift den Föhn, schaltet auf Höchststufe und lässt ihn in die Wanne fallen. Es blitzt. Einen Moment sieht es aus, als würde das Wasser um den zuckenden Anthony aufkochen, dann ist es finster.
Auf allen Vieren rutscht Lola zur Wanne, ertastet Anthonys Kopf und streichelt ihn.
„Alles ist gut, mein Junge.“

Nach der Beerdigung geht Lola nach Hause.
Die Reisetasche mit Anthonys Sachen, die sie vor Tagen aus der Wohngemeinschaft geholt hat, steht unberührt in der Diele. Lola räumt sie aus, um alles in den Schrank zu legen. Dabei stößt sie auf ein kleines Buch. ‚Anthony’ steht darauf und ‚Logbuch’.
Kleine und größere Einträge für jeden Tag der Interrailreise in seiner zügigen Schrift. Immer wieder lächelt Lola während des Lesens. „Was für ein begabter Junge du bist, mein Anthony, wie gut du schreiben kannst.“
Plötzlich bricht der fließende Stil ab. Mit krakeligen Buchstaben steht da: Es ist zuviel! Nie hätte ich mich betrinken dürfen, einladen lassen von Matthieu und seinen Freunden – 5 Matrosen – Matrosen stehen doch auf Frauen? Diese nicht – Männerärsche
Warum? Was ist mit mir? Hurensohn, das ist mit mir, die haben das
Hurensohn
Hurensohn
Hurensohn

Marseille bei Nacht
Warum bin ich nicht wie meine Freunde auch einfach schlafen gegangen? Und weshalb ausgerechnet diese Pinte dort? Abenteuersucht – Verblödung – krass
Ich muss mich verstecken, man sieht das oder riecht das


Die Schrift ist nun fast unleserlich.

Nie darf Mama das erfahren, niemals! es bricht ihr sonst das Herz
ach, Mama ich werde dieses Geheimnis hüten solange ich lebe!
Nicht schuldig! Ich bin es

Wie sie mich abgeschleppt
Weggetreten
ewig spüren
festhalten
Blut Sperma Dreck
Weg mit mir, weg
ich muss kotzen
ich bin zerrissen
ich bin tot, besudelt
für immer und immer
ich werde nie ein Mädchen –


Die restlichen Seiten sind leer. Lola drückt das kleine Buch an ihre Brust, fühlt wie es zittert, weil das Herz so rasch hämmert. Sie hält Anthonys Worte fest an sich gepresst, während sie eine ganze Packung Rohypnol schluckt.
Sie ruft Mia an. „Ich höre auf zu arbeiten, Kleine. Ich möchte, dass du alles in meinem Sinne weiterführst. Versprich mir, dass du von der Straße weg bleibst.“
„Aber ...“, sagt Mia.
Lola unterbricht die Verbindung und legt sich ins Bett. Während sie wartet, schaut sie den Videofilm von ihrer letzten Amerikareise an. Anthony mit einem Tropenhut auf dem Kopf mitten in der bizarren Wüstenlandschaft des Death Valley. Sie hatten in den Badlands einen komischen Film gedreht, Anthony spielte die Hauptrolle.
„Jetzt ist wirklich alles gut“, sagt sie. Dann schläft sie ein.
Schreiben ist atmen

Gast

Beitragvon Gast » 31.10.2007, 11:54

Eine Geschichte aus dem Milieu

Ich dachte zunächst, dass es sich um eine dieser immer nach gleichem Muster gestrickten Geschichten handeln würde.
Gute Hure steigt aus.
Es stellte sich dann heraus, dass dem zwar nicht so ist, was aber die erzählte Geschichte nicht besser macht.
Zunächst einmal wurden hier mehrere Themenkreise auf engstem Raum miteinander verquickt. Es handelt sich Themen, wollte man ihnen gerecht werden, müssten einige Seiten mehr gefüllt werden, wenn nicht gar ein ganzes Buch daraus machen.
Ich vermisse auch Hintergrundinformationen zu den Störungen der handelnden Personen.(Psychologische Zusammenhänge werden höchstens angerissen, wenn überhaupt).
Erzählt ist in einer zwar flüssigen, aber nicht reflektierenden Sprache. Welcher Leserin – selbst Mutter - käme nicht schon zu Anfang der Gedanke, dass es nicht gut gehen kann dem eigenen Kind zu erzählen, dass man seine Brötchen als Hure verdient. Dazu noch einem Jungen, der sich im Laufe seiner Entwicklung, Mannwerdung (wie alle männlichen Kinder meist), in seine Mutter verlieben wird. (Ödipus).

Hier ist eine gute Chance vertan worden, aber beim Gesamtkonstrukt kommt es auf diese eine auch nicht mehr an.

Dem Leser wird zugemutet der unglaubwürdig erzählten Lebensmaxime der Protagonistin. zu folgen.

Hier werden Klischees der Reihe nach bedient, die nicht nur das Rotlichtmilieu ausschließlich wie ein Samtsofa im Puff aussehen lassen, sondern hier wird auch Mutterliebe in einer derart süßlichen unreflektierten Art und Weise beschrieben, dass ich nur mit Mühe weiter und zu Ende gelesen habe.

Eine solch pathologische schwere Störung, wie sie hier in wenigen Sätzen abgehandelt wird, entwickelt sich schleichend über Jahre und sollte, um als glaubhaft vom Leser angenommen werden zu können, nicht ausschließlich aus der engen Sicht der Protagonistin erzählt werden.

Mit dem Sohn Weltreisen machen, aber plötzlich kommt alles durcheinander, nur weil er das erste Mal allein verreist? Das Vertrauen über Jahre gewachsen – ich unterstelle jetzt, dass es in der Geschichte so scheinen soll – ist innerhalb von Wochen weg?

Eine Mutter, die ihren Sohn verhätschelt und vor allem “Schlechten“ bewahrt hat, kann wohl kaum mit ihm die Welt bereist haben.

Nein ich glaube nichts davon und bin froh wenn ich am Ende der Geschichte angelangt bin. Mich überrascht dann auch nicht mehr der hochdramatische Schluss, denn irgendwie muss es ja „aufgehen“.
Hätte Anthony sterben wollen, hätte er dazu nicht seiner Mutter bedurft, die ihm quasi den Fön in die Hand drückt. Er hatte ja Zugang zum Fön.

Hier handelt es sich um eine Erzählung deren Inhalt ich auf Grund der genannten Mängel nicht glauben kann. Ich vermisse alles, was ich mir bei einem solchen Thema an Tiefgang wünschen würde.

Ich kann leider keine Leseempfehlung aussprechen.

©GJ20071031

Sam

Beitragvon Sam » 31.10.2007, 18:16

Tod eines Strichmännchens


Im besten Fall ist Lesen Schwerstarbeit. Man muss aus einigen wenigen Wörtern (im vorliegenden Text sind es knappe 2.500) eine ganze Welt erschaffen. Dabei sind die wenigsten dieser Wörter so konkret, dass sie uns direkt vorgeben, wie diese Welt genau auszusehen hat. Dort, wo es an expliziten Beschreibungen fehlt, müssen wir unsere Fantasie spielen lassen. Automatisch durchwühlen wir die Bilder- und Erfahrungskiste in unserem Kopf, um eine visuelle und emotionale Entsprechung dessen zu finden, was wir gerade gelesen haben. Ganz oben in dieser Kiste liegen die Bilder, die wir am häufigsten zu sehen bekommen: die Klischees.
Jetzt könnte man meinen, es wäre für den Leser eine feine Sache, wenn er so schnell die passenden Bilder parat hat. Interessanterweise möchte er aber genau das Gegenteil. Nicht das schon hundert Mal Gesehene weckt sein Aufmerksamkeit, sondern das, was ihn dazu animiert tiefer und tiefer in seiner Bilder- bzw. Erfahrungskiste zu graben.
Mit Klischees abgespeist zu werden, findet der Leser nicht nur langweilig, sondern ärgerlich. Wenn ihm z.B. bei der Beschreibung eines Rotlichtmilieus, ständig Bilder irgendwelcher Krimiserien vors geistige Auge kommen, in denen Nutten so aussehen wie Nutten und die Chefin des Etablissements ein nicht mehr ganz schlanker, etwas grobschlächtiger aber durchaus gutmütiger Muttertyp ist. Bei solchen Bildern kneift er die Augen zusammen und sieht nur noch Strichmännchen.

Soviel zum ersten Problem, das ich mit diesem Text habe: Die auch schon von Gerda zu recht kritisierte Anhäufung von Klischees.


Dabei ist es keine uninteressante Geschichte, die Elsa erzählt. Im Gegenteil, es wird eine gewisse Spannung aufgebaut, auch wenn man meint – den Erfahrungsschatz von unzähligen Tatort und Polizeiruf 110 Folgen im Rücken – zu wissen, wie sich das Ganze auflöst. Am Ende ist man dann genauso wenig enttäuscht wie überrascht.

Im Grunde haben wir es hier beinnahe mit einer klassischen Tragödie zu tun. Zwar ist das Unglück, das über Anthony kommt, nicht selbst verschuldet, aber letztlich ist es die konsequente Weigerung über die Vergewaltigung zu reden, welches sein und seiner Mutter unglückliches Ende herbeiführt.
Der Konzeption des Textes liegt aber ein Irrtum zu Grunde. Die wahre Tragödie zeigt sich nicht in den großen Dingen – der Vergewaltigung durch die Matrosen, dem Waschzwang, dem Mord/Selbstmord. Die eigentliche Tragödie steckt in der Weigerung Anthonys über das Ereignis zu sprechen. Aber gerade hier versagt der Text.
Man muss sich die Ausgangssituation vorstellen. Anthony ist der Sohn einer Prostituierten. Von frühester Kindheit an weiß er über den Beruf seiner Mutter bescheid. Er entwickelt eine große Gelassenheit gegenüber den Spötteleien seiner Mitschüler. Zudem bereist er mit seiner Mutter die ganze Welt. Mutter und Sohn haben eine sehr gute, sehr innige Beziehung. Vielleicht können sie nicht über alles sprechen, über eines aber bestimmt: über Sex. Welchen Grund sollte Anthony haben, nicht mit seiner Mutter über die Vergewaltigung zu reden? Der im Text angeführte Grund, es würde ihr das Herz brechen, wirkt an den Haaren herbeigezogen und ziemlich einfallslos.
Im fehlt außerdem jegliches, im erzählten Text verankertes Fundament.
„Du kannst das nicht verstehen“, sagt Anthony zu seiner Mutter, als sie ihn bedrängt, sich ihr zu öffnen. Aber nicht nur die Mutter, auch der Leser kann es nicht verstehen. Je weiter er liest, desto unnachvollziehbarer wird Anthonys Verhalten. Daran ändern auch die gefunden Aufzeichnungen so wie sein freiwilliger Tod nichts. Das alles bewirkt, dass der Leser mit einer Menge Fragen zurückbleibt.
Die für mich entscheidende ist:
Warum muss die Mutter eine Prostituierte sein, wenn dies doch keinerlei Einfluss auf das Verhalten des Sohnes und der Mutter in der beschriebenen Konfliktsituation hat?
Die Antwort: Es gibt keinen Grund. Und damit ist die Geschichte schon an ihrem Konzept und ihrem Aufbau gescheitert, weil sie sich, anstatt gewisse Verhaltensweisen psychologisch auszuleuchten, mit dem Aufbau von sozialromantischen Kulissen begnügt, in der Hoffnung, dass dies, zusammen mit einer derbdrastischen Auflösung, ausreicht, um den Leser zufriedenzustellen.

Das funktioniert so aber nicht. Zumindest nicht bei mir.

scarlett

Beitragvon scarlett » 31.10.2007, 19:08

Albtraum jeder Mutter

Eine atemraubende Geschichte, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich finde, dass es nichts Schlimmeres geben kann, als den Verlust eines Kindes und das lange bevor es tatsächlich tot ist.
Der Text führt m M nach in erzähltechnisch gekonnter Weise dem Leser die Hilflosigkeit der Protagonisten vor Augen, der Mutter wie des Sohnes.
Das retardierende Element, das erst am Schluß die Erklärung liefert für das, was geschehen ist, ist für mich überzeugend eingesetzt - es hält den Leser am Text.
Paradoxerweise hat nun gerade das, was dem Sohn widerfahren ist, schon auch etwas mit dem Milieu der Mutter zu tun: es geht um erfahrene Sexualität, nur dass das in dem einen Fall mit Absicht, mit Vereinbarung zu tun hat, das andere hingegen nicht.
Der daraus für den Sohn resultierende Waschzwang erscheint im nachhinein mehr als logisch - und die Unmöglicheit, darüber zu sprechen, ebenso. Da ändert auch ein gutes, inniges Verhältnis zur Mutter nichts daran. So bitter das sein mag.
Der Text setzt auf Empathie und zumindest von der einen Hälfte der Bevölkerung dürfte die nicht ausbleiben.
Das einzige, was ich nicht nachvollziehen kann, ist der Schluß der Geschichte: aber das hat wiederum mit meiner ganz persönlichen Sicht der Dinge zu tun. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Gedanke einer auch indirekten Tötung des Kindes in einer Mutter Platz findet.
Mit diesem "Makel" allerdings kann ich leben, das ändert nichts an der Tatsache, dass ich die Geschichte gut finde, dass sie Gedanken initiiert, die ich vorher (als Mutter) nicht zu denken gewagt habe.
Sprachlich ist sie sowieso gelungen.

scarlett

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 31.10.2007, 19:26

Etwas zäh.

Die Geschichte ist lang, das Nutte-mit-Herz-Bild ist schon oft bedient worden, dass der Sohn nach dem guten Anfang die Kurve nicht kriegt, war voraussehbar.

Im Gegensatz zu Sam seh ich den Beruf der Prostituierten als erforderlich für die Verweigerung zu reden. Der Ausdruck "Hurensohn" auf dem Schulhof ist nur ein Wort, in der Vergewaltigung wirds zur Realität.

Wertlos, benutzt, und in die Gosse geschmissen. Das Wort "Hurensohn" konnte der Sohn wohl gegenüber der Mutter nicht aussprechen. Das würde ich gern straff gekürzt gelesen haben, ich glaub, dann hätte die Geschichte mehr Power.


Sneaky

Sam

Beitragvon Sam » 01.11.2007, 07:29

Im Gegensatz zu Sam seh ich den Beruf der Prostituierten als erforderlich für die Verweigerung zu reden.

Da würde mich sehr interessieren, wie du das begründest Sneaky. An welchem Punkt würde die Geschichte anders verlaufen, wenn Anthonys Mutter eine Alleinerziehende wäre, die halbtags beim Hofer an der Kasse sitzt?
Wenn es wirklich eine Notwendigkeit für den Beruf der Mutter gibt, so ist sie im Text nicht zu erkennen. Gibt es sie aber nicht, dann war die Entscheidung Elsas, die interessante und bewegende Geschichte Anthonys in ein "schwieriges" soziales Umfeld einzubetten, ihrem Text sehr abträglich. Weil der Lesefocus unnötig gestreut wird, und gerade die Milieubeschreibung die schwächste Achse des Textes ist, worunter der Rest der Geschichte automatisch leidet.

LG

Sam

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 01.11.2007, 10:56

Hallo Sam,

wie die Geschichte gelaufen wäre, wenn sie Kassierin gewesen wäre, weiß ich nicht. Ich seh das mit dem Beruf so:

die Beziehung Mutter / Sohn ist intakt

dass er ein "Hurensohn" ist, hat ihn nicht gekümmert, als es die Schulkameraden gerufen haben.

Er hat das nach der Vergewaltigung anders gesehen, wobei ich es so aufgefasst habe, dass er diesen Ausdruck gehört hat, während er vergewaltigt wurde.

Diesen Ausdruck kann er nicht gegenüber seiner Mutter benutzen, will ihn nicht benutzen. Er ist aber untrennbar mit dem Geschehen verbunden.

Ergo kann er nicht reden.

Das ist meine Lesart.

Gruß

Sneaky

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.11.2007, 11:29

Hallo sneaky,

die Schulkameraden haben ihn ja nicht so gerufen. Das Wort wurde offenbar als allgemeines Schimpfwort gebraucht. Aus dem Text geht nicht einmal hervor, dass sein sozialer Hintergrund in der Klasse bekannt war.

Wenn man ihn schon früher, explizit auf seine Mutter bezogen, so genannt hätte, und er hätte sich nur daraus nichts gemacht, dann wäre sein Verhalten für mich glaubwürdiger. So, wie es jetzt da steht, kann ich auch nicht recht verstehen, warum er nicht mit seiner Mutter redet. Ich meine, dass sie wahrscheinlich mit seiner Geschichte besser umgehen könnte als die klassische bürgerliche Saubermann-Mama, für die das ganze Milieu - betrunkene Matrosen - von vornherein bäbä wäre.

Auch ich habe das Gefühl, in der Geschichte steckt eine unverbundene Motivationskette. (Die sich aber mit wenigen Änderungen leicht verbinden ließe.)

Schönen Gruß
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 01.11.2007, 11:33

Hallo zefira,

nein, die Schulkameraden haben genau das nur allgemein gerufen.

Aber in der Vergewaltigung wars persönlich gemeint, bzw. ist er direkt so angeredet worden. So hab ichs zumindest aufgefasst. Darum funktioniert die Verbindung auch für mich.

Gruß

Sneaky

Maija

Beitragvon Maija » 08.11.2007, 17:54

Ich habe den Text jetzt erst gelesen und mich hat er angesprochen bis zum bitteren Ende. Er ist flüssig geschrieben und die vielen Ausdrücke die in solch einem Milieu nun einmal herrschen, sehr real beschrieben wurden sind. Dies zeigt mir, das Elsa sich schon länger mit dieser Thematik beschäftigt und auseinander gesetzt haben muss. Ich habe mich mit solchen Texten noch nie so richtig beschäftigt.(Nur von Paulo Coelho - Elf Minuten ;-) )
Allerdings schließe ich mich scarletts Interpretation an. Ich denke, das dies ein sehr schwerer Weg ist, sein eigenes Kind zu töten und diese Bilder spiegeln nicht richtig das Motiv wieder. Die Mutter hatte zwar oft den Leidensweg ihres Sohnes miterlebt, aber eine Mutter kämpft um ihre Kinder und gibt nicht so schnell nach. Das hätte noch besser beschrieben werden müssen, meiner Meinung nach. Nutten - ich mag eigentlich diesen Ausdruck nicht sonderlich, da es Frauen sind wie Du und Ich, die aber einem Geschäft nachgehen, der zwar verpönnt ist, aber sehr profitabel ist und dieses Geschäft mit dem Sex so alt wie unsere Geschichte ist, auch keine Monster sind. Da muss es schon mehr Hintergründe geben, um solch eine Tat zu begehen.

Gruß, Maija


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